Der erste Blick ins Buch begeisterte mich wenig, weil ich die Sprache nicht mochte - zu bildhaft, einfach zuviel. Trotzdem ließ mich das Buch nicht los, weil das Cover schön, die Prämisse interessant und Willi Hetze ein Autor ist, von dem ich viel gehört, von dem ich aber noch nichts gelesen habe.
Spoiler am Anfang: Es ist eher ein Gedankenexperiment im Belletristik-Gewand und es ist ein Sprachkunstwerk. Es ist, trotz passender Elemente, kein Abenteuerbuch.
Worum geht es?
Teo war schon früher ein anhängliches Kind mit schwachen Beinen und lebt mit seiner Familie in Moorstedt, in der Provinz. Seine Mutter arbeitet als Postbotin, doch plötzlich kommen keinen Nachrichten mehr. Teo wird in die Stadt Sybaris 6 geschickt, um zum Hauptpostamt zu gelangen. Doch was als zweitägige Reise beginnt, wird viel, viel größer.
Charaktere
Teo ist kein klassischer Held, der die Welt rettet, aber ein typischer Held in einer Dystopie - naiv, klug und von all den neuen Eindrücken überwältigt. Er vereint alte und neue Welt und führt den Leser gut.
Das Kollektiv ist gut aufgebaut - anfangs hat man wenig Bezug zu den Figuren, später intensiviert sich das. Je mehr sich das Buch dem Höhepunkt nähert, desto vielseitiger werden die Figuren. Ich hatte großen Spaß dabei, wenn sich Charaktere ins Gegenteil verkehrten und klug Denkende zu Opportunisten wurden.
Die Welt
Die Computer haben die meiste Arbeit übernommen, daher wird die Funktion zum Statussympol - ohne Funktion ist der Mensch nichts. Sehr geschickt spielt das Buch mit der Frage der Identität, indem es zwischen Namen und Funktion wechselt.
Veränderung ist das Stichwort des Romans. Leute ziehen aus Wohnungen aus, Klingelschilder sind nur ein Gimmick, aber nicht notwendig. Menschen lassen Kleidung und Möbel zurück. Denn man kann sich über den Funknerv verständigen, braucht keinen körperlichen Kontakt mehr, ist immer verbunden - und verabschiedet sich deswegen nicht.
Die Provinz und die Hauptstadt sind klar getrennt. Am deutlichsten wird dass daran, dass es im Verlauf weniger Jahre keine Post und keine Postboten mehr gibt, aber das Dorf Moorstedt zur Zeit der Handlung noch nicht an das Funknetz angeschlossen ist. Im Vergleich dazu hat man in Sybaris bereits Ebene 7 erreicht. Ähnlich Altersringen bei Bäumen schreitet die Stadt voran, wird übereinander gebaut. Außerdem rennt sie vor dem Krieg weg. Auch hier verändern sich ständig Wege, Haltestellen; nur, was überbaut ist, bleibt. Passend dazu sagt eine Figur, sie würde die Pflanzen von der Oberfläche holen und in den unteren Ebenen tot-pflegen, damit sie vor Veränderung geschützt sind.
Der Schwarm
Der Schwarm ist eine Bewegung, eine Lebensphilosophie, deren wahre Bedeutung die Menschen lange nicht begreifen. Mittels eines Funknervs können sie Wissen in eine digitale Wolke speichern und nutzen das überwiegend für Erinnerungen. Man kann sogar seinen "Kanal" für andere öffnen und damit alle Gedanken und Gefühle miteinander teilen, was für Intimität sorgt. Allerdings kann man auch hier für besondere Vorführen zahlen. Die Menschen werden nicht selbst aktiv, sie bekommen alles. Sie können sogar Erinnerungen löschen - was wahrscheinlich trügerisch ist. Ich denke, ähnlich wie auf einer Festplatte, vernichtet man nicht die Erinnerung, sondern den Pfad dorthin.
Interessant fand ich, dass die Menschen viele Daten zur Verfügung haben, aber sie nicht zum Kontakt nutzen. Die Menschen in Hetzes Roman wirken ... allein. Auch Teo hat wenige Bezugspersonen, wird aber nicht vom Strom erfasst, weil er nicht loslassen kann - etwas, das schon früh als Motiv auftaucht.
Menschen sind verloren, wenn sie nicht an den Schwarm angeschlossen sind. Allerdings hat die Welt nicht das Bedürfnis sich auszubreiten und sie bereitet sich nicht systematisch aus. Beispielsweise sind Besucher aus Sybaris in Moorstedt verloren, obwohl es eine Chronik gibt, die man hätte einspielen können ...
Gut gefallen haben mir die Paradoxa - wenn "der Ingenieur" feststellt, dass Zigaretten besser schmecken als E-Zigaretten. Und wenn sich Leute auf dem Platz versammeln, weil ein Politiker aufgrund des Terrors eine Rede hält. Auch Demenz und Depression (?), genannt "das Gestern", gibt es in beiden Welten; während sich alte Menschen in digitalen und analogen Erinnerungen verlieren, versinken junge Leute tief in Erinnerungen, wenn sie trauern.
[Spoiler] Am Ende sind es die negativen Gefühle, die die Welt bedrohen. Die Angst vor Einsamkeit beginnt, ein Eigenleben zu entwickeln.
Daher gibt es keinen Feind im Buch - selbst Menschen, die dem Schwarm kritisch gegenüber stehen, vernichten nicht den Schwarm, sondern befeuern unabsichtlich die Selbstzerstörung. Aber: Warum werden negative Gefühle zu Gestalten, aber keine positiven? Und: Lebt der Mensch irgendwann tatsächlich irgendwann so digital, dass er seine Gefühle nichtmehr wahrnimmt? [/Spoiler]
Der Roman urteilt nicht, er zeigt auf, beleuchtet manche Vor- und manche Nachteile, aber durch Teos Augen sehen wir (natürlich) nicht das ganze Bild. Stellenweise gibt es tiefgründige Diskussionen, die für mich gut zu verstehen waren. Viele Zitate kann man als Bildschirmschoner über den Computer laufen lassen oder auf Rucksäcke kleben. Auch über die zentrale Frage der Gefühle kann man gut nachdenken.
Allerdings: Neu ist das nicht. Beim Höhepunkt fühlte ich mich an die Folge "Brain Scratch" (Cowboy Bebop) erinnert, viele Ideen sind aus Dystopien bekannt. Das Buch macht Spaß, aber es wirkt ein bisschen trocken, nicht träumerisch.
Einzigartig wird der Roman für mich am Ende, als die wirkliche Bedeutung des "Schwarms" beim Finale eingesetzt wird.
Dramaturgie
Der Text hat bei mir 50 Seiten gebraucht, bis er spannend wird, und überwiegend ist es das Thema, das mich vorantrieb. Trotzdem folgt der Roman einer klassischen Struktur: Der Held wird eingeführt, das Geheimnis entfaltet sich bei steigender Handlung, bis zum Höhepunkt die grausamen Geheimnisse aufgedeckt werden und der Text im Fallen Schwung für das große Finale nimmt. Das hat gut funktioniert.
Trotzdem bremste mich, dass die Hintergründe teilweise fehlen. Ich hätte mir gewünscht, dass der Autor nicht nur auf ein paar prägnanten Motive nutzt, sondern das etwas bildlicher darstellt. Die Ironie ist: Ähnlich wie der unstete Datenstrom sind auch die Beschreibungen im Buch eher flirrend, bleiben nicht, vergehen.
Cool fand ich die Verbindung zum Kurzgeschichtenband "Das Unbegreifliche der Katzenwege" - Katzenfreunde werden belohnt :)
Schreibstil
Der Stil hat mich überrascht. Teos personaler Stil ist eher kindlich, oft beginnen Sätze mit ihm, wirken kurz und beobachtend. Im Gegensatz dazu steht das Metaphern-Gewitter, das sich entfaltet. Leider nimmt sich der Text keine Zeit, Metaphern wirken zu lassen, oft hat man binnen eines Satzes mehrere. Das ist sehr kunstvoll, aber es war mir zuviel. Allerdings ist der Wortschatz im Buch riesig.
Fazit
"Die Schwärmer" ist ein Buch, über das man gut nachdenken kann. Er behandelt ein Thema, das sehr aktuell ist und das daher fesselt. Ich hatte meist Spaß beim Lesen, auch wenn mir die Energie fehlte. Das Buch ist durchdacht geschrieben, aber ... es fehlt etwas. Und ich fand's schade, dass das Grundthema das Schwarms nicht deutlicher ausgeführt wurde. Ich mochte das Motiv.