Der erste Satz: «‹Ich war bei Suzy, als es passiert ist›, sagt Donnie Parascandolo und tritt mit dem Bier, das in seiner Hand langsam warm wird, von der Küchentheke weg.»
Analytisch blickt William Boyle hinein in einen Mikrokosmus – in den NY-er Stadtteil Brooklyn, in die italienische Community der 1990-er. Zunächst stellt uns der Autor einige Protagonisten vor, deren Lebensgeschichte in Kurzfassung. Einige von ihnen kennen sich, oder sind verwandt, oder werden sich im Verlauf der Geschichte kennenlernen. Ganz langsam zieht der Autor den Sack zu, in dem am Ende die Handelnden zappeln werden, einen Ausweg suchen. Einen Ausweg aus ihrem verfluchten Leben. Ein bisschen Glück. Nicht jeder wird dieses Szenario überleben ... Noir, ein feiner literarischer Thriller.
«... Jobs für Big Time Tommy Ficalora ... besonders gern lässt er Cops und Ex-Cops für sich arbeiten ... Manchmal machen sie auch richtige Drecksarbeit. Darauf ist Donnie spezialisiert, einen Arm brechen, jemandem die Luft abdrücken, bis er bewusstlos ist, wenn nötig mehr. Er hat kein Problem damit, auf beiden Seiten des Gesetzes zu stehen. So gut wie kein Cop, den er kennt, ist wirklich sauber.»
Eine lokal begrenzte Story, die diesen Mikrokosmos beschreibt, das Leben der einfachen Leute, die Härte, zu überleben, die permanente Geldnot. Hier kennt fast jeder jeden, zumindest von Sehen oder vom Hören. Langsam steigert sich die Geschichte, entwickelt sich aus der Konsolation der Figuren, aus ihren Begegnungen. Eine Witwe und ihr Sohn, die die Spielschulden des Familienoberhaupts abzahlen müssen, der in seiner Verzweiflung von der Brücke sprang. Was sie nicht weiß, ihr Mann wurde hinuntergeschubst, weil er nicht zahlte. Sie verliebt sich in einen korrupten Ex-Cop, der Mörder ihres Mannes, der heute für einen unbedeutenden Mafiaboss Schulden eintreibt. Ihr Sohn verliebt sich in die geschiedene Exfrau dieses Ex-Cops. Eine Beziehung zwischen einer Frau über vierzig mit einem jungen Mann, der ihr Sohn sein könnte – nicht gern gesehen in dieser Community. Auch die Randgeschichten von Nebenprotagonisten berühren. Wunden aus dem vergangenen Leben liegen auf den Seelen aller Protagonist:innen – der Wunsch nach Veränderung, nach Ausstieg aus diesem Alltag – die Hoffnung auf ein bisschen Glück. Die Perspektive diverser Figuren, vorprogrammierte Konflikte, die aus ihrem Handeln entstehen, bringen die Geschichte in Fahrt bis zum großen Showdown.
«Jedenfalls hat Rosemarie schon immer gewusst, dass Mikey ein Leben, vielleicht sogar mehrere führt, von denen sie keine Ahnung hat – das galt besonders für die Zeit in New Paltz –, und sie würde einem Fremden die Lebensgeschichte ihres Sohns nicht erzählen können, zumindest nicht die seit seinem fünfzehnten Lebensjahr.»
Sehr genau beschreibt William Boyle das Milieu der 1990-er, das erzkonservativ, katholisch von Gewalt und Verbrechen durchzogen ist. Gewalttätige Männer beherrschen die Familien, korrupte Bullen gibt es viel zu viele. Es ist hohe Schreibkunst, wie Boyle die verschiedenen Figuren aufstellt und miteinander verbindet. Der Autor beschreibt, er urteilt nicht, verurteilt nicht, lässt die Figuren agieren. Ihre Geschichten werden abwechselnd in der Perspektive erzählt, der Leser kennt ihre Geheimnisse – nur untereinander bleibt fast alles offen; was die Katastrophe auslösen wird. Der Sound ist melancholisch, die Protagonist:innen fühlen sich weit entfernt von ihren Wünsche, die ihnen eher als Traumbild erscheinen. Ein wundervoller literarischer Noir-Thriller. Empfehlung!
William Boyle ist in der Nachbarschaft von Gravesend in Brooklyn aufgewachsen. Er lebt zurzeit in Oxford.