Rezension zu "Old Regime France: 1648-1788 (Short Oxford History of Europe) (Short Oxford History of France)" von William Doyle
Zwischen 2001 und 2003 brachte der Verlag Oxford University Press die "Short Oxford History of France" heraus. Ursprünglich waren sieben Bände geplant, die die gesamte Geschichte Frankreichs abdecken sollten, angefangen im Frühmittelalter ("von Chlodwig bis zu Chirac"). Erschienen sind jedoch nur sechs Bände. Der Band über die Zeit der Merowinger und Karolinger fehlt bis heute. Er wird wohl nicht mehr erscheinen. Von den veröffentlichten Bänden entfallen je zwei auf das Mittelalter, die Frühe Neuzeit und die Moderne. Alle Bände wurden von einem Autorenkollektiv verfasst. Sie sind nicht erzählend und ereignisgeschichtlich angelegt, sondern nach Sachgebieten gegliedert, von der politischen Geschichte über die Wirtschafts- und Sozialgeschichte bis hin zur Religions- und Kulturgeschichte. Es ist nicht klar, an welchen Leserkreis sich die Reihe richtet. Das Vorwort des Reihenherausgebers William Doyle, das jedem Band vorangestellt ist, enthält dazu keine Angaben. Wie sich bei der Lektüre zeigt, ist die Reihe für Leser mit geringen Vorkenntnissen, etwa Studierende und historisch interessierte Laien, nicht gut geeignet. Alle Bände sind vergleichsweise schmal, behandeln aber relativ große Zeiträume. Das zwingt die Autorinnen und Autoren zu einer verknappten, gedrängten, pointierten Darstellungsweise. Die einzelnen Kapitel vermitteln wenig Faktenwissen; sie sind eher analytisch und problemorientiert ausgerichtet. Neulingen und Einsteigern, die sich erstmals mit der Geschichte Frankreichs beschäftigen, ist die Reihe nur mit Vorbehalt zu empfehlen.
Der britische Historiker William Doyle, ein führender Experte für die Geschichte Frankreichs im 17. und 18. Jahrhundert, hat nicht nur die Arbeit an der gesamten Buchreihe koordiniert, sondern auch den Band über das Ancien Régime herausgegeben. Die anderen Autorinnen und Autoren stammen aus Großbritannien, den USA und Kanada. Unter dem Ancien Régime erreichte die französische Monarchie den Höhepunkt ihrer Macht. Als Ludwig XIV. 1661 die Selbstherrschaft antrat, begann für Frankreich eine lange Phase innerer Stabilität, wirtschaftlichen Wachstums und kultureller Blüte. Doch ab Mitte des 18. Jahrhunderts mehrten sich die Anzeichen, dass das Königreich auf eine ernste politische Krise zusteuerte. Die absolute Monarchie, die Ludwig XIV. aufgebaut und seinen Nachfolgern hinterlassen hatte, wirkte zunehmend anachronistisch. Sie passte nicht mehr zu einer Gesellschaft, die sich nach dem Tod des Sonnenkönigs sozioökonomisch unaufhaltsam weiterentwickelte. In Frankreich wuchs ein wohlhabendes und gebildetes Bürgertum heran, das nach politischer Teilhabe verlangte. Ludwig XV. und Ludwig XVI. versagten bei der Aufgabe, die veralteten politischen Strukturen zu reformieren und die soziale Basis des Königtums zu verbreitern. Die beiden Monarchen und ihre Minister schafften es ebenso wenig, die chronischen Finanzprobleme des Staates zu lösen. Seit den Tagen des Sonnenkönigs betrieb Frankreich eine ehrgeizige Großmacht- und Kolonialpolitik. Die gewaltigen Kosten dieser Politik trieben die Monarchie in den Ruin. In den 1780er Jahren war die Lage schließlich so verfahren, dass vorsichtige und begrenzte Reformen nicht mehr ausreichten, um die Krise zu überwinden.
Der Band ist in acht Kapitel gegliedert. Im ersten Kapitel skizziert Joёl Félix die Entwicklung der französischen Wirtschaft ab Mitte des 17. Jahrhunderts. Die Darstellung kreist um drei Leitmotive: Geringer Fortschritt in der Landwirtschaft; kontinuierlicher Aufschwung von Handel und Industrie; Eigenarten und Probleme des Finanz- und Steuerwesens. Gail Bossenga analysiert im zweiten Kapitel Struktur und Funktionsweise der vorrevolutionären Ständegesellschaft. Bossenga behandelt dieses komplexe Thema in bewundernswert verständlicher Form. Das Kapitel ist ein Highlight des Buches. David Bell wendet sich im dritten Kapitel den Themenfeldern Kultur und Religion zu. Wie nicht anders zu erwarten, nimmt die Aufklärung breiten Raum ein. Pierre Boulle und Gillian Thompson nehmen die Geschichte des französischen Kolonialreiches in den Blick. Das fünfte Kapitel ist dem politischen System gewidmet. Julian Swann erörtert die Institutionen und Mechanismen monarchischer Herrschaft unter den Bourbonen-Königen. Er benennt die Probleme, die schon unter Ludwig XIV. auftraten und unter seinen Nachfolgern immer brisanter wurden, weil sie ungelöst blieben: Die Steuerlasten waren ungerecht verteilt; das Königtum und seine Verbündeten, der Geburts- und Amtsadel (noblesse d'épée, noblesse de robe), verweigerten dem aufstrebenden Wirtschaftsbürgertum jegliche politische Teilhabe. In den letzten drei Kapiteln analysieren William Doyle, Julian Swann und Munro Price die Innen- und Außenpolitik Ludwigs XIV., Ludwigs XV. und Ludwigs XVI. Doyle würdigt das herausragende politische Talent des Sonnenkönigs, betont aber zugleich, dass Ludwig XIV. seinen Nachfolgern ein in vielerlei Hinsicht problematisches Erbe hinterließ. Swann fällt ein ungünstiges Urteil über die Fähigkeiten und Leistungen Ludwigs XV. Der König hielt unbeirrt an dem Herrschaftssystem fest, das sein Vorgänger aufgebaut hatte. Auch Ludwig XVI. war seinen Aufgaben nicht gewachsen, sah aber immerhin ein, dass Reformbedarf bestand. Es ließ sich nicht länger leugnen, dass die Monarchie in einer schweren Krise steckte. Doch Reformen wurden entweder zu spät in Angriff genommen oder nur halbherzig und inkonsequent verfolgt. Gleichsam über Nacht brach die Revolution über Frankreich herein.
Das Buch ist mit einer Chronologie und mehreren Karten ausgestattet. Die Literaturhinweise fallen sehr knapp aus und beschränken sich nahezu ausschließlich auf englischsprachige Publikationen. Das ist aber zu verschmerzen. William Doyle und sein Autorenteam bieten eine hervorragende problemorientierte Einführung in die Geschichte des Ancien Régime. Alle Kapitel sind inhaltlich recht anspruchsvoll, aber verständlich geschrieben und daher gut lesbar. Die beiden Frühneuzeitbände der "Short Oxford History of France" sind für deutsche Leser von Interesse, weil es auf dem deutschen Buchmarkt nichts Vergleichbares gibt. Der Band von Lothar Schilling aus der Reihe "Geschichte kompakt" (Wissenschaftliche Buchgesellschaft) behandelt lediglich das 17. Jahrhundert. Deutschsprachige Einführungs- und Überblicksdarstellungen zur Geschichte Frankreichs im 16. und 18. Jahrhundert gibt es derzeit nicht. Klaus Malettkes Trilogie über die Bourbonen, erschienen bei Kohlhammer, ist politikgeschichtlich ausgerichtet und lässt die Wirtschafts-, Sozial- und Kulturgeschichte unberücksichtigt. Sie ist kein Ersatz für eine strukturgeschichtliche Rundumschau, wie sie die "Short Oxford History of France" bietet. Nimmt man die einzelnen Bände dieser Reihe in die Hand, dann fragt man sich unwillkürlich: Warum sind solche Buchprojekte in der angelsächsischen Welt möglich, nicht aber in Deutschland?
(Hinweis: Diese Rezension habe ich zuerst im März 2018 auf Amazon gepostet)