Rezension zu "Die Symphonie des Denkens" von William H. Calvin
Der Neurologe, Psychiater und Verhaltensforscher William Calvin führt uns bei einem wundervollen Spaziergang zu einem vertieften Verständnis, was Bewusstsein ist und wie es zu Stande kommt. Er präsentiert dazu eine angenehme Mischung aus Grundwissen über den Gehirnaufbau, die Evolution und künstliche Intelligenz, aufgelockert durch Anekdoten, viele kluge Zitate und verblüffende Resultate aus der Forschung. Nie hat man das Gefühl, ein Lehrbuch zu lesen, stets lernt man Neues dazu.
Am Beispiel des Sehsinns diskutiert Calvin ausführlich, wie Neuronen geschaltet sind und wie durch diese Schaltung bereits auf sehr früher Stufe die Wahrnehmung vorbereitet wird. Intuitiv würden wir vielleicht denken, das Bild der Netzhaut werde ins Gehirn weiter geleitet und dort sozusagen auf eine Leinwand projiziert, wo die Seele dieses Bild anschaut. Tatsächlich aber wird ein Bild bereits in einer sehr frühen Phase in Bedeutungseinheiten zerlegt. Gewisse Neuronen reagieren nur auf kleine Punkte, andere auf nur auf horizontale Linien, wieder andere auf Linien, die unter einem gewissen Winkel zur Horizontalen stehen u. s. w.
Sehen bedeutet aber im Ursprung gleichzeitig interpretieren und reagieren. Bei Froschaugen ist dieser Zusammenhang noch sehr gut nachvollziehbar. Da sind die Bedeutungseinheiten (Punkte, Linien, Flächen, Bewegung) sehr direkt mit Reaktionsmustern verbunden. Ein grösser werdender dunkler Fleck, bedeutet 'Fressfeind' und sein Auftauchen bewirkt, dass der Frosch in eine waagrechte Linie hineinspringt, was in der Froschwelt meist eine gute Lösung ist, weil eine waagrechte Linie in der Froschwelt meist eine Wasseroberfläche ist. Ein kleiner sich bewegender Fleck bedeutet 'Fliege' und führt dazu, dass der Frosch die Zunge in diese Richtung ausfährt. Dazu muss der Frosch nichts über die Welt wissen und nichts verstehen. Es reicht, wenn er diese Punkte und Linien sieht und wenn sein Körper entsprechend reagiert. Alle restliche Information auf seiner Netzhaut wird unterdrückt.
Wie daraus am Ende die bewusste Wahrnehmung eines Bildes wird, ist bei Calvin nicht ohne weiteres ersichtlich. Calvin liefert aber eine ganze Reihe wichtiger Eckpunkte, die zu berücksichtigen sind, wenn man sich darüber Gedanken macht, was Bewusstsein ist. Z. B. ist wohl bereits die obige kurze Feststellung über das Froschauge nicht ohne weiteres mit der Vorstellung einer vom Körper unabhängigen Seele zu vereinen. Wenn es für das Sehen nötig ist, dass das Netzhautbild durch Neuronen zerlegt wird, wie soll dann eine Seele sehen können, wenn nach dem Tod keine Neuronen mehr da sind? Wenn diese Zerlegung aber nicht nötig ist und wenn die Seele auch ohne Neuronen sehen kann, wozu verschwendet das Gehirn dann so viel Energie für diese? – Calvin geht nicht auf solche Überlegungen ein. Aber ein aufmerksamer Leser findet reichhaltiges Beobachtungsmaterial, an dem er seine eigene Vorstellung vom Bewusstsein und von der Seeler austesten kann.
Darüber hinaus hat Calvin einige sehr originelle Ideen, von denen man sonst nirgends liest. Insbesondere zur Frage, wie das menschliche Gehirn überhaupt zu seinen überragenden Fähigkeiten kam, die uns von allen anderen Tieren ganz klar unterscheiden. Er stellt nämlich fest, dass eine extrem hohe Zahl an Neuronen nötig ist, um z. B. einen Stein gezielt zu werfen. Laien glauben, auch Affen können auf einige Distanz ein Ziel treffen. Tatsächlich werfen Affen zwar durchaus Gegenstände in der Gegend herum. Zielen können sie aber nicht, auch wenn sie vielleicht einmal durch Zufall treffen. Calvin rechnet vor, weshalb das so ist. Angenommen, ein Schütze treffe auf drei Meter einigermassen zuverlässig. Um auf sechs Meter (doppelt so weit) dieselbe Trefferquote zu erreichen, bräuchte er 64mal, nämlich 2 hoch 6 Mal (!) so viele Gehirnzellen, die diesen Wurf planen und so präzise ausführen. Um auf neun Meter (dreifache Distanz) zu treffen, müsste er sogar 729mal, nämlich 3 hoch 6 Mal, so viele Zellen einsetzen.
Für Urmenschen, die auf der Steppe lebten und nicht mehr ohne weiteres auf Bäume fliehen konnten, war es entscheidend, dass sie Raubtiere mit gezielten Steinwürfen verscheuchen konnten. Wenn sich aber die nötigen Gehirnstrukturen einmal ausgebildet haben, dass gezielte Steinwürfe geplant und durchgeführt werden können, kann man die gleichen Gehirnstrukturen auch benützen, um andere Abläufe zu planen, die eine sehr präzise zeitliche Abfolge verlangen. Dies ist genau die Struktur, die es zum Sprechen braucht. Oder zum Singen. Musizieren wäre ein Nebeneffekt des Steinewerfens. Menschen singen, weil sie es können. Sie können es, weil es in der Evolution ein Vorteil war, präzise Steine werfen zu können. Diese Überlegung inspirierte Calvin zum Titel ‚Symphonie des Denkens’.
Es ist nicht das erste Buch, das ich empfehlen würde, um mehr über das Gehirn zu erfahren. Dazu fehlen wichtige Themen, etwa die Gehirn aufgebaut ist und wie die verschiedenen Areale miteinander kommunizieren. Aber wer schon einiges über das Gehirn gelesen hat und noch weitere Aspekte hinzulernen möchte, wird bei Calvin inspirierende Ideen finden. Ein sehr wertvolles Buch!