In der Einführung zu seinem Essay über Arme Leute (Suhrkamp, Berlin 2018) nimmt William T. Vollmann auch Bezug auf ein Werk, mit dem ich mich eingehend beschäftigt, doch noch nie so wahrgenommen habe wie er es tut. Er bezeichnet Preisen will ich die grossen Männer von James Agee und Walker Evans als „elitärer Ausdruck elitärer Neigungen.“ Zur Erinnerung: Zur Zeit der Weltwirtschaftskrise in den 1930er Jahren verbrachten der Autor James Agee und der Fotograf Walker Evans einige Monate im Süden der Vereinigten Staaten, um die Lebensumsstände der dortigen Baumwollpflücker zu dokumentieren.
Vollmann attestiert James Agee, dass er sich einlässt. „Er will, dass wir alles fühlen und riechen, was die von ihm Beschriebenen fühlen und riechen müssen, und kommt dieser Wirkung so nahe, wie es möglich ist, wenn einem als Mittel nichts als das Alphabet zur Verfügung steht; also scheitert er und verachtet sich und uns dafür, dass es nicht anders sein kann, entschuldigt sich bei den Familien mit so absurd prachtvollen Unterwerfungsgesten, dass nur die Reichen die Musse haben werden, sie zu verstehen – und wie viele von ihnen werden das wollen?“ Ich verstehe das in wesentlichen Zügen auch als Selbstporträt von Vollmann.
Auch was er vom Fotografen Walker Evans schreibt, könnte er fast genau so gut von seinen eigenen (am Schluss dieses Bandes versammelten Fotografien) und von Fotos generell schreiben. „… Evans flüchtet sich in die enthüllende Einsilbigkeit der Fotografie. Ein Bild sagt mehr als tausend Worte, gewiss, aber als welche tausend? Ist deine Bildunterschrift die gleiche wie meine? Ein armer Mann starrt dich von der Buchseite an. Du wirst ihm nie begegnen. Ist er hart, bedrohlich, traurig, abstossend, entschlossen, zermürbt, unbeugsam, stolz, oder alles zusammen? Was kann man aus einem Gesicht wirklich ablesen? Was den Fotografen angeht, der muss sich nie wirklich einlassen.“ Das ist die Art von Auseinandersetzung mit der Fotografie, die ich mir gerne gefallen lasse. Weil es eine Auseinandersetzung ist mit dem, was man sehen kann und nicht mit dem, was man zum Bild bringt. Am Rande: Die Bildunterschriften in diesem Band sind so wenig aussagekräftig („Zwei Kinder“, „Grosser Berg “ und so weiter), dass man bestens ohne hätte auskommen können.
Die erste Geschichte spricht mich nicht zuletzt deswegen an, weil ich Klong Toey (auf der gleichen Seite einmal Khlong Toei und Klong Toey geschrieben!), den wohl bekanntesten Bangkoker Slum, aus eigener Anschauung kenne und mir das Gehabe betrunkener Thais geläufig ist. Gefragt habe ich mich jedoch, weshalb der Autor dem recht inkohärenten Geschwafel einer betrunkenen 40Jährigen eine Plattform gibt. Andererseits: Warum auch nicht? In einer besoffenen Welt klingen Besoffene oft ziemlich normal. Dazu kommt, dass er Sunee, wie die Frau heisst, nicht nur besoffen, sondern auch nüchtern zu Wort kommen lässt.
Schicksal, ist die Erklärung vieler Thais für ihr Schicksal und dieses verstehen sie als das Resultat ihres früheren Lebens. „Dann hast du in einem früheren Leben als etwas Böses getan? Nein, sagte das Mädchen langsam, die Beine höflich untergeschlagen, und stützte sich auf den Händen ab. Und warum bist du dann arm? Es lächelte und legte den Kopf schief, kratzte sich am Mückenstich. – Vielleicht war ich im letzten Leben sehr reich, und diesmal muss ich arm sein.“
Was ich an der Klong Toey-Geschichte (und an diesem Buch insgesamt) so faszinierend finde, ist, dass da einer genuin neugierig unterwegs ist, interessiert an Menschen und ihren Leben. Und er will helfen, doch das ist schwierig, er berichtet davon detailliert und nachvollziehbar. Gelegentlich hört er auch auf seine Dolmetscherin. Und seinen Dolmetscherinnen verdankt er einiges, der Leser weiss davon, weil der Autor davon erzählt. Kurz und gut: Er schildert einen Prozess und macht damit klar, dass einfache Lösungen nicht zu haben sind, denn das Leben ist schwierig und komplex, für alle. Und überall
William T. Vollmann berichtet auch deswegen so berührend von seinen Begegnungen, weil er nicht einfach eine lineare Geschichte erzählt, sondern mal gedanklich hier, mal dorthin springt. Das geht von Montaignes Auffassung, „dass Menschen aus Angst vor Verarmung oft grössere Qualen leiden als die Armen selbst“ zu Thoreau und Dostojewski und den Auswirkungen von Tschernobyl, bis man allmählich zu realisieren beginnt, dass das nicht wirklich ein Buch über arme Leute ist, sondern ein anteilnehmender Bericht darüber, wie arme Leute und er selber miteinander und mit dem Leben zurechtzukommen versuchen.
Ob in Thailand oder Sibirien, Hanoi oder im Jemen, Kabul oder Tokio, Armut (nicht einfach nur ein Mangel, sondern ein Elend, wie Vollmann schreibt) wird meist als Schicksal verstanden. Doch Vollmann fragt sich auch, „ob es nicht zu den Kennzeichen der Armut gehörte, dass man sich der Niederlage ergab.“ Zudem: ein Massstab für Armut ist auch die Unfallanfälligkeit. Wie auch der Schmerz ein Kennzeichen ist, aber nicht unbedingt der Hunger.
Armut fällt natürlich nicht von Himmel, sie wird auch gemacht. Und durch die allüberall regierende Gehorsamskultur ermöglicht. So wurden etwa in China wegen eines Strassenumbaus siebenhundert Menschen enteignet, in Japan landen Büroangestellte, die ihre Arbeitsstelle verlieren, immer mal wieder obdachlos auf der Strasse. Und ich wundere mich dass in Kolumbien ein Slum Nueva Esperanza heisst
Vor allem spannend an diesen Geschichten ist, dass der Autor nicht nur die Situationen, in denen er sich befindet und seine Gespräche wiedergibt, sondern auch aufnotiert, was ihm im Nachhinein so alles durch den Kopf geht (und auch dabei von hier nach da springt, ihm also plötzlich eine Szene in Mexicali und dann wieder eine andere in Madagaskar durchs Hirn rast – genau wie im richtigen Leben).
Arme Leute ist ganz vieles in Einem: Reportage, Bericht, Essay, Erzählung und soziologische Studie. Vor allem ist es jedoch eine sehr realistische und sehr praktische Auseinandersetzung mit der Frage, wie man am unteren Ende der sozialen Skala mit dem Leben klar kommt.