Über keinen anderen Staatsmann der jüngeren Vergangenheit dürfte so viel geschrieben worden sein wie über Michail Gorbatschow. Wäre Gorbatschow im März 1985 nicht zum Generalsekretär des Zentralkomitees der KPdSU gewählt worden, dann wäre die Weltgeschichte der letzten 30 Jahre sicherlich ganz anders verlaufen. Selten hat ein einzelner Politiker den Gang der Geschichte derart massiv beeinflusst: Gorbatschows außenpolitische Initiativen führten zum Ende des Kalten Krieges, seine innenpolitischen Reformen zum Untergang des Kommunismus in der Sowjetunion und im Ostblock. Wie Gorbatschows historische Rolle einzuschätzen ist, darüber wird man in Ost und West noch in Jahrzehnten streiten. Die umfangreiche Biographie des Amerikaners William Taubman stellt alle bisherigen Studien über den Menschen und Politiker Gorbatschow in den Schatten. Taubmans Darstellung ist detailreich und quellennah, und seine Annäherung an Gorbatschow ist von Sympathie getragen, aber nicht unkritisch. In mehr als zehnjähriger Arbeit hat Taubman alle heute erreichbaren Quellen über Gorbatschows Leben und politisches Wirken ausgewertet, Tagebücher und Memoiren ebenso wie Archivmaterial. Außerdem hat er Gorbatschow interviewt und Dutzende Personen, die mit Gorbatschow zusammengearbeitet haben oder in Kontakt gekommen sind, seien es westliche Politiker und Diplomaten, seien es ehemalige sowjetische Partei- und Staatsfunktionäre. Allerdings waren unter den interviewten Personen keine ost- und westdeutschen Politiker. Deutsche Leser werden bei der Lektüre rasch merken, dass Taubman sein Buch in erster Linie für ein amerikanisches Publikum geschrieben hat. Natürlich widmet er der deutschen Wiedervereinigung breiten Raum, aber es ist doch zu spüren, dass ihn dieses Thema weniger interessiert als die amerikanisch-sowjetischen Beziehungen. Gorbatschows Verhältnis zu Helmut Kohl wird bei weitem nicht so anschaulich dargestellt wie sein Verhältnis zu Ronald Reagan und George Bush.
Gorbatschows Reformen, das Ende des Kalten Krieges und der Zerfall der Sowjetunion gehören zu den am intensivsten erforschten Themen der jüngeren Geschichte. Zu all diesen Themen sagt Taubman nichts Neues. Er fasst den Kenntnisstand, den die internationale Forschung in den letzten 25 Jahren erarbeitet hat, souverän zusammen. Das Buch beeindruckt vor allem durch Quellennähe und eine lebendige Darstellungsweise. Taubmans große Stärke besteht darin, Gorbatschow in Interaktion mit einer Vielzahl von Menschen zu zeigen. Das ist es, was eine gute Biographie leistet: Sie zeigt, wie Menschen aufeinander einwirken und welche Folgen sich daraus ergeben. Auf zwei Beziehungen geht Taubman besonders ausführlich ein. Viele Leser werden gewiss überrascht sein, dass er Gorbatschows Ehe so viel Aufmerksamkeit widmet. Verwunderlich ist das aber nicht, denn seine Ehefrau Raissa war für Gorbatschow über Jahrzehnte hinweg die wichtigste Bezugs- und Vertrauensperson. Ohne Raissa an seiner Seite hätte er die anstrengenden Jahre als Generalsekretär und Präsident der Sowjetunion wohl kaum durchgestanden. Die zweite Beziehung, die Taubman eingehend analysiert, ist die folgenschwere Rivalität zwischen Gorbatschow und Boris Jelzin. In der brisanten Gemengelage, die Ende der 1980er Jahre zur finalen Krise der Sowjetunion führte, war diese Rivalität ein ausschlaggebender Faktor. Auch andere Personen, die in Gorbatschows politischem Leben eine wichtige Rolle spielten, nimmt Taubman in den Blick. Genannt seien nur die Spitzenfunktionäre, die während der Breschnew-Ära Gorbatschows Karriere förderten, Juri Andropow und Fjodor Kulakow, oder die Mitstreiter und Weggefährten der Perestroika-Jahre, allen voran Anatoli Tschernjajew und Alexander Jakowlew. Taubman betont immer wieder, dass Gorbatschow kaum je echte Freunde hatte. Umso wichtiger war für ihn die innige Beziehung zu seiner Ehefrau.
Was Gorbatschows Leben und Werdegang bis 1985 angeht, so spielt Taubman alle Motive und Themen durch, die man schon aus früheren Arbeiten kennt. Gorbatschow stammte aus einfachen Verhältnissen, aus einer Bauernfamilie. Wie andere Autoren vor ihm (z.B. Archie Brown) zeigt Taubman seinen Protagonisten als lernbegierigen, geistig regsamen und hart arbeitenden Aufsteiger. In den 1960er und 1970er Jahren absolvierte Gorbatschow eine mustergültige Karriere als Komsomol- und Parteifunktionär in seiner Heimatregion Stawropol im Nordkaukasus. Nichts deutete darauf hin, dass er das Sowjetsystem eines Tages in Frage stellen und schließlich sogar – wenn auch ungewollt – zum Einsturz bringen würde. Seine Gönner in Moskau förderten ihn, weil sie ihn für einen Idealisten hielten, weil sie seine Intelligenz und seine zupackende Art bewunderten. Im Gegensatz zu vielen anderen ranghohen Parteifunktionären verspürte Gorbatschow in den 1970er Jahren Sorge und Unbehagen über die sichtlich nachlassende Leistungskraft des Systems. Auf die Jahre zwischen 1985 und 1991 entfallen 13 der 19 Kapitel. Taubman geht chronologisch vor, behandelt aber Innen- und Außenpolitik in separaten Kapiteln. Die schlechte Wirtschaftslage und die erdrückenden Kosten des Wettrüstens waren die Auslöser für Gorbatschows Reformen und außenpolitische Initiativen. Das ist sattsam bekannt. Taubman bewundert Gorbatschows Mut und Entschlossenheit, verweist aber gleichzeitig auf die Umstände, die das Reformwerk von Anfang an behinderten: Es gab in der sowjetischen Gesellschaft keinen breiten Konsens über die Notwendigkeit von Reformen. Der riesige Parteiapparat war träge und unbeweglich. In der Bevölkerung herrschte eine diffuse Unzufriedenheit, aber kein Verlangen nach einschneidenden Veränderungen. Nur wenige Spitzenfunktionäre und ein kleiner Kreis von Ökonomen und Sozialwissenschaftlern teilten Gorbatschows Auffassung, dass die Sowjetunion in einer Sackgasse stecke. War Gorbatschow in den ersten Jahren seiner Amtszeit als Partei- und Staatschef ein vorwärtsdrängender Impulsgeber, so entglitt ihm ab 1988 schrittweise die Kontrolle über das Geschehen. Die von ihm ausgelösten Prozesse gewannen eine Eigendynamik, die sich nicht mehr beherrschen ließ.
Es ist bekannt, was Gorbatschow zum Verhängnis wurde: Schlecht durchdachte Wirtschaftsreformen, Nationalitätenkonflikte an der Peripherie der Sowjetunion, die kritische Aufarbeitung des Stalinismus und die daraus folgende Delegitimierung der Kommunistischen Partei. Enttäuschung über die geringen Erfolge seiner Reformen führte dazu, dass sich Gorbatschow zu radikaleren Schritten entschloss. Irgendwann stand das Sowjetsystem in seiner Gesamtheit in Frage. Zum Ende hin wirkte Gorbatschow wie ein Getriebener, wie ein heillos überforderter Feuerwehrmann, der zwischen mehreren brennenden Häusern hin und her rennt. Das Schwanken zwischen Frustration und Zweckoptimismus schildert Taubman auf beklemmende Weise. Manches ließ Gorbatschow einfach geschehen. Dem Ende des Kommunismus im Ostblock stemmte er sich nicht entgegen, weil er für die "Bruderstaaten" nichts übrig hatte. Ihre greisen und starrsinnigen Parteiführer waren ihm geradezu verhasst. In den schwierigen Perestroika-Jahren traten Gorbatschows Schwächen besonders grell zu Tage, wie Taubman zeigt: Intellektuelle Überheblichkeit und Selbstüberschätzung. Ohne sich dessen bewusst zu sein, stand Gorbatschow in der Tradition russischer Staatsmänner, die das Volk mit gut gemeinten Reformen "von oben" beglücken wollen. Stieß er auf Unverständnis oder gar Widerstand, war er irritiert, empört, gekränkt. Mit seiner intellektuellen Arroganz machte sich Gorbatschow viele Feinde. Er hielt sich für einen bedeutenden politischen Denker, ging seinen Politbürokollegen und westlichen Gesprächspartnern mit endlosen wichtigtuerischen Monologen auf die Nerven. Die Neigung zum oberlehrerhaften Dozieren war bei seiner Frau Raissa sogar noch stärker ausgeprägt als bei ihm, was bei Staatsbesuchen im Westen für peinliche Momente sorgte. Es spricht für Taubmans Redlichkeit als Autor, dass er die unsympathischen Wesenszüge beider Gorbatschows nicht verschweigt.
Taubmans abschließendes Urteil fällt jedoch eher positiv aus: Gorbatschow überwand die Reste des Totalitarismus in der Sowjetunion; er ebnete Ost und West einen Weg aus dem Wettrüsten; er entließ Osteuropa in die Freiheit. Es kam für ihn nicht in Frage, Gewalt anzuwenden, um seine persönliche Stellung zu verteidigen oder den Zerfall des Ostblocks und der Sowjetunion abzuwenden. Zwar scheiterte er mit seinem Vorhaben, die wirtschaftliche Leistungskraft der Sowjetunion zu verbessern. Aber es gelang ihm, die Sowjetgesellschaft aus einem politisch-ideologischen System herauszuführen, das sich hoffnungslos überlebt hatte. An Taubmans Buch gibt es nur sehr wenig auszusetzen, wenn überhaupt. Einmal mehr erweist sich Taubman als meisterhafter Biograph. Sein neues Werk dürfte ebenso zum Klassiker avancieren wie seine Biographie des sowjetischen Parteichefs Nikita Chruschtschow (2003), die leider nicht ins Deutsche übersetzt wurde. Es ist merkwürdig, dass Taubman so wenig darüber schreibt, wie Gorbatschow die Entstalinisierung unter Chruschtschow erlebte. Später als Generalsekretär scheint er Chruschtschow nie als Vorbild betrachtet zu haben. Stattdessen orientierte er sich an Lenin, den er seit langem naiv verehrte. Die zwei Kapitel über Gorbatschows Komsomol- und Parteikarriere in Stawropol (1955 bis 1978) sind recht unergiebig, gemessen an der Länge dieses Zeitraums. Taubman zitiert großzügig aus Gorbatschows Memoiren und sonstigen autobiographischen Schriften. Er geht aber nirgends auf die Entstehung der Memoiren ein, und er unterzieht sie auch keiner kritischen Würdigung. Die Erinnerungen von Politikern kann man nicht "einfach so" verwenden. Es hätte nicht geschadet, wenn Taubman gegenüber dem Memoirenschreiber Gorbatschow etwas mehr kritische Distanz an den Tag gelegt hätte.
(Hinweis: Diese Rezension habe ich zuerst im Februar 2018 bei Amazon gepostet)