In dem Roman lernen wir durch Lynette die Lebenssituation der amerikanischen Unterschicht kennen, genauer das Leben ohne Sozialstaat: minimale Löhne, minimale Krankenversicherung, keine Sozialwohnungen, Vertreibung durch Gentrifizierung, keine Altersversorgung, keine Kreditwürdigkeit, keine Unterstützung bei der Pflege von Behinderten. Wir begleiten Lynnette bei ihrem Kampf, das Geld für den Kauf ihrer Mietwohnung zusammenzutragen. Dabei ergreift sie auch Maßnahmen jenseits der Legalität, wodurch sie in recht gefährliche Situationen gerät: bei Geschäften mit Berufskriminellen hat man nicht mehr den Rechtsstaat im Rücken, der für die Einhaltung von Verträgen sorgt. Die Gefahr sorgt für Spannung – schafft sie es als unerfahrene Neueinsteigerin in der kriminellen Szene, ihre Ziele zu erreichen?
Lynettes Leben besteht fast nur aus Katastrophen: Missbrauch durch den Stiefvater, Weglaufen von zu Hause mit 16, Prostitution, Drogen, Abtreibung, Psychiatrie, hasserfüllte Mutter, Pflege des schwerbehinderten Bruders. Vielleicht ein bisschen zu viel auf einmal.
Die Geschichte ist ausschließlich aus ihrer Perspektive erzählt, aber es werden nie ihre Gedanken und Gefühle direkt beschrieben, sondern nur ihre Handlungen und Worte. Wir lernen ihre Gedanken und Gefühle nur dann kennen, wenn sie sie in einem Gespräch mitteilt. Das tut sie dann gelegentlich in extrem langen Monologen, die etwas unglaubwürdig wirken. Würde die sonst eher wortkarge und bildungsferne Lynette plötzlich solche ausgefeilten Monologe halten können, würde der Gesprächspartner so lange schweigend zuhören? Manchmal spricht sie mit anderen Personen über die gemeinsame Vergangenheit in einer Ausführlichkeit, die unrealistisch ist – da beide die Vergangenheit kennen, würden ja ein paar Stichworte genügen. Es erscheint inszeniert für den Leser.
In aktionsreichen Szenen wird nur die äußere Handlung beschrieben, keine Intentionen, Hoffnungen und Befürchtungen – dadurch klingt der Roman manchmal wie ein Polizeibericht. Der Leser ist dadurch nicht nah bei Lynette, sondern rätselt: was macht sie denn jetzt schon wieder?
Die Handlung erscheint mir in mancher Hinsicht nicht ganz plausibel: der Einstieg in die Kriminalität erscheint mir zu leicht, zu wenig begründet. Würde nicht jeder zweimal überlegen, bevor er oder sie den Rest des Lebens mit dem Risiko einer Haftstrafe verbringt? Ist der Kauf einer Wohnung ein ausreichendes Motiv für kriminelle Handlungen (Diebstahl, Drogenhandel)? Ist das Leben mit der Mutter, mit der sie sich nicht versteht, ein ausreichendes Motiv? Ist es nicht ein bisschen klischeehaft, Unterschicht mit Kriminalität zu assoziieren? Andererseits ist in der Tat schwer zu erkennen, wie sie legal aus ihrer Armut herauskommen könnte.
Trotzdem fühlt man mit Lynette mit, und hofft, dass sie ihre Ziele erreicht. Sie hat unsere Sympathie, weil sie für ein besseres Leben für sich, ihren behinderten Bruder und ihre Mutter kämpft. Am Schluss kommt alles anders als erwartet, und Lynette muss ihr Leben umorganisieren.
Der Roman ist in einer angenehm einfachen, schnörkellosen Sprache geschrieben. Er erlaubt einen Einblick in ein Milieu, das den meisten Lesern fremd sein dürfte. Der Autor ist in dem Milieu offenbar selbst aufgewachsen und besingt es auch in den Texten seiner ‚Alternative Country‘-Band ‚Richmond Fontaine‘.