Beim ersten Blick auf das Titelbild an kommen spontan die Gedanken auf: drei Frauen, alles in Grautönen gehalten, der Buchrücken in Schwarz - ist ja eine triste Angelegenheit.
Besonders einladend schauen mich die Frauen – eher Mädchen denn Frauen – auch nicht gerade an. Beginnen wir mit der Rechten: eher ausdruckslos, kühl, abweisend, emotionslos fixiert sie einen Punkt irgendwo links außerhalb des Bildes. Die junge Frau in der Mitte sieht mich wenigstens an, leicht geöffneter Mund, aber auch eher abweisender Blick und ebensolche Mundwinkel. Eine leichte Regung zeigt die linke junge Frau - auf den gleichen Fixpunkt blickend, weg von mir, aber Augen und Mund signalisieren zumindest eine positive Emotion.
Ansonsten keine gestylten Haare, kein sichtbares Make-up – nur Frauen mit nonnenhaften Kopftüchern.
Im Hintergrund dominiert ein riesiges Rad einer Maschine, schroffer Gegensatz zu den Gesichtern – der Rest verschwindet undefiniert.
Und das alles in Schwarz-Weiß beziehungsweise in Schwarz-Grauschattierungen..
Wer sich schon einmal ein kleines bisschen mit Peter Lindbergh beschäftigt hat, weiß, dass diese in dunkle Gewänder gehüllte, den Kopf mit Hauben bedeckte Frauen nicht als simple Kleiderständer hochwertige Mode präsentieren, sondern, dass Peter Brodbeck (so sein richtiger Name) ein neues Genre der Modefotografie entwickelt hat – aber dazu später.
Beim Weiterblättern sieht man von einer kaum befahrenen Seitenstraße auf eine weitere Straße – nur ein Auto bewegt sich – die restlichen stehen am Straßenrand oder vor einem - nomen est omen – Desert Village Motel in einer trostlos anmutenden Gegend.
Und schon kommen Erinnerungen in den Sinn - Hitchcocks ‚Vögel‘ sieht man förmlich.
Es folgen Portraits, überrascht, verschlafen, enttäuscht, den Tränen nahe, verzweifelt, erotisch, lasziv, märchenhafte Szenen mit Nebelschwaden und Bedeutungslicht, schaurig-schöne Naturaufnahmen. Inszenierungen mit surrealen, skurrilen Posen.
Flüchtig eingefangene Alltagssituationen wechseln sich ab mit ungeschminkten, ungestylten Momentaufnahmen und stehen anschließend im starken Kontrast mit beinahe militärisch strengen Szenen, in denen die Models fast ehrfürchtig und züchtig posen. Mal vor riesigen Industrieanlagen, mal vor aufgegebenen architektonischen Zeitzeugen, deren ästhetische Schönheit der Photograph so ganz nebenbei wieder ins Gedächtnis ruft. Geballte Fäuste der auf maskulin getrimmten weiblichen Models zeigen aber auch, wie entschlossen der klein wirkende Mensch die riesigen Maschinen geplant und erschaffen hat und diese beherrscht.
Selbst die Mittagspause am Set wird zur Geschichte – authentisch entspannen vier starke Frauen, vier Männer bleiben im Bild unscharf, bedeutungslos im Hintergrund.
Wir werden Augenzeuge einer nicht erwarteten persönlichen Nähe Peter Lindberghs zu seinen überwiegend weiblichen Models. Diese Nähe zeigt eine Vertrautheit zwischen den Akteuren, sie lässt vergessen, dass einen Kamera in der Nähe die ehrliche, ungeschminkten Wahrheiten und Stimmungen einfängt.
Lindberghs Frauen kommen nicht als hübsche Supermodels, nicht als unnahbare Ikonen rüber, sondern als Frauen in ihren individuellen natürlichen Schönheiten, in der Leichtigkeit eines zufälligen ungezwungenen Schnappschusses.
Lindberghs Auge sucht die Schönheit nicht als Endergebnis einer langen Styling-Sitzung um Mode in den Vordergrund zu spielen, sondern als Zeichen eines von innen kommenden, weiblich-menschlichen Wohlergehens – mit dem Recht, auch noch dem Kind in seinen Models einen Platz zu lassen.
Mode wird nicht zur Hauptsache, sondern zum gleichwertigen Partner zwischen Frau in ihrer natürlichen Schönheit und selbstbewussten Weiblichkeit.
Zurück zum Titel. Erst nach einigen Seiten machen die ‚nicht erzählten Geschichten‘ einen Sinn. Fast jede Seite fordert den Betrachter förmlich auf, sich eine Geschichte dazu auszudenken. Nach kurzer Zeit gelingt das dann recht gut. Manchmal sieht man auch die imaginären Sprechblasen.
Mir persönlich scheint die eine oder andere Aufnahme danebengegangen zu sein, nicht sonderlich gelungen. Manche Fotos erschienen eher als unnötiger Füller, deren Auswahl und Geschichte sich nur Peter Lindbergh erschloss.
Aber – selbst blättern ermuntert zur Suche nach eigenen Geschichten.
Die Bildseiten werden von einem Vorwort, einem rührenden Nachruf Wim Wenders und einem Interview mit dem Fotografen und Felix Krämer unterbrochen (alle Texte in Englisch). Wir finden sie wieder gegen Ende – wie gewohnt bei Taschen auch in Deutsch und Französisch, bereichert durch eine Zusammenstellung aller Bilder mit einer Kurzinformation.
Nach einer Biographie und dem Dank an alle Mitwirkenden schließt der Bildband mit weiteren Aufnahmen – click –click –click.