BESSER LESEN ALS HÖREN!
Antwerpen, Hauptbahnhof, Salle des pas perdus im Jahr 1967. Dem Erzähler fällt ein Mann auf, der eingehend die Architektur des Gebäudes betrachtet. Die beiden Herren kommen ins Gespräch und verabreden sich für den nächsten Tag. Aus dem zufälligen Zusammentreffen wird ein über 30 Jahre andauerndes Gespräch an verschiedensten Orten Europas. Zwischen London, Paris und Prag erzählt der Kunsthistoriker Austerlitz seine Geschichte: die Geschichte einer verlorenen Kindheit, die sich bruchstückhaft und nach und nach zu der eines Überlebenden einer der schlimmsten Katastrophen der Menschheit zusammensetzt.
Jacques Austerlitz ist ein Überlebender - über den sog. 'Kindertransport' (Refugee Children Movement) wurde er im Sommer 1939 quer durch Europa bis nach Wales gebracht, ohne seine Eltern und ohne überhaupt jemanden zu kennen. Fünf Jahre war er da gerade alt und wurde von einem strengen Methodisten und seiner Frau in Obhut genommen, die ihm einen anderen Namen gaben und ihm nie auch nur ein Wort von seiner Vergangenheit erzählten. So vergaß der kleine Junge allmählich seine Herkunft sowie seine Sprache und wuchs als jemand anderes heran - und hatte doch nie das Gefühl, wirklich irgendwo zu Hause oder auch nur er selbst zu sein...
Als er als Jugendlicher plötzlich im Internat mit seinem früheren Namen konfrontiert wurde, kam Austerlitz eine Ahnung von seiner Herkunft, doch es sollten noch Jahre vergehen, bis er eine mögliche Spur seiner wirklichen Familie fand. Er begab sich daraufhin auf eine Reise quer durch Europa, um der Geschichte seiner Eltern und von sich selbst nachzuspüren...
Die Geschichte von Jacques Austerlitz wird in diesem Roman über den Zeitraum von 30 Jahren erzählt und tatsächlich entpuppt sich dieser dramatische Hintergrund erst spät. Der häufig reisende namenlose Ich-Erzähler trifft den belesenen Kunsthistoriker im Verlauf dieser 30 Jahre immer wieder unversehens an verschiedenen Plätzen in Europa, oftmals an Bahnhöfen, und ist fasziniert von den Themen, über die Austerlitz aus dem Handgelenk schüttelnd druckreife Essays zu dozieren vermag. Die Architektur von Bahnhöfen beispielsweise ist solch ein Sujet, militärische Befestigungsanlagen, staatliche Gebäude, aber auch Insekten, andere Tiere und Pflanzen, Sternbilder, Kunstwerke, die Städte London, Paris und Prag - kaum ein Bereich, zu dem Austerlitz kein lexikalisches Wissen angehäuft hat.
Doch zwischen all diesen nahezu wissenschaftlich anmutenden Exkursen entspinnt sich die eigene Geschichte von Jacques Austerlitz, seine Suche nach seienr Identität, der Kampf um seine Erinnerungen, die auch durch das Trauma der Entwurzelung verschüttet wurden. Die Geschichte eines Entwurzelten, der keine Heimat mehr finden kann...
"Ich sah wieder die mächtigen Quader zu meinen Füßen, den Glimmer im Stein, das graubraue Wasser im Hafenbecken, die schräg aufwärts laufenden Taue und Ankerketten, den mehr als haushohen Bug des Schiffes, die Möwen, die wild kreischend über unseren Köpfen herumflatterten, die durch die Wolken brechenden Sonnenstrahlen und das rothaarige Mädchen mit dem Schottencape und dem Samtbarett, das sich während der Fahrt durch das dunkle Land um die kleineren Kinder gekümmert hatte in unserem Abteil, dieses Mädchen, von dem ich Jahre später noch, wie ich mich jetzt entsann, wiederholt träumte, daß es für mich in einer von einem bläulichen Nachtlicht erleucheten Kammer ein lustiges Lied spielte auf einer Art von Bandoneon." (S. 208 f.)
Wer jetzt staunt über diesen Bandwurmsatz im Zitat, dem sei gesagt: genau das ist das Problem dieses Buches. Jeder einzelne Satz ist ein Kunstwerk für sich, fein geschliffen, jedes Wort herauspoliert, das Konstrukt fein verschachtelt. Doch in der Summe weigerte sich mein Hirn von Beginn an, viel mehr als einen Satz auf einmal wirklich aufzunehmen. Endlose Aufzählungen ermüden, der ständige Wechsel derThemen verwirrt, die essayartige Ausarbeitung verschiedener Aspekte von Architektur und Natur ist anstrengend zu hören, der monotone Vortrag Michael Krügers ebenso, so dass ich mich dabei ertappte, dass meine Gedanken ständig abschweiften. Immer wieder begann ich mit dem Hörbuch von vorne, so dass ich auch nach Wochen nicht wirklich weiterkam.
So beschloss ich, mir das gedruckte Buch dazu auszuleihen, und nach jeder beendeten CD im Buch noch einmal querzulesen, was mir zuvor vorgelesen wurde, um sicherzugehen, wirklich nichts zu verpassen. Bei 421 engbedruckten Seiten ohne jeglichen Absatz, ohne eine hilfreiche Einteilung in Kapitel oder auch nur Anführungszeichen bei der häufig verwendeten direkten Rede, immer verdeutlicht durch ein eingefügtes 'sagte Austerlitz' - oder, ganz abstrus, auf dritter Ebene durch ein 'sagte Vera, sagte Austerlitz' - ebenfalls kein wirkliches Vergnügen. Allein die eingestreuten in schwarz-weiß gehaltenen Fotos sorgen gelegentlich für eine angenehme Pause für die Augen.
Dieses Buch ist keine (Auto)biographie, es ist auch kein Roman, kein Bericht, kein Essay - es ist von allem etwas, eine kunstvoll hochstilisierte Dichtung mit einer eng gedrängten Fülle von Themen, Erinnerungsfetzen und Gedankengängen. Kunstvoll. Aber anstrengend. Als Hörbuchversion (hier in der vollständigen Lesung mit 9 Audio-CDs und einer Gesamtspieldauer von 11 Stunden und 20 Minuten) ist die Erzählung meiner Meinung nach nicht wirklich geeignet, da: viel zu komplex, verschachtelt, überfrachtet.
Alles in allem ein ambitioniertes Werk mit einer feinen, ausgefeilten Sprache, das aber droht, den Leser / Hörer zu überfordern und mit Themen zu erschlagen. Die eigentliche Geschichte gerät teilweise stark in den Hintergrund, dafür geraten immer wieder andere Themen in den Fokus, die als einzelne Vorträge oder Essays von Interesse sein mögen, in diesem Zusammenhang aber doch einfach ein Zuviel darstellen...
Sebald mag sich mit diesem Buch ein Denkmal gesetzt haben - mich sprach es trotz des bedrückenden Hintergrundes in dieser Darreichungsform leider nicht an.
© Parden
Winfried Georg Sebald
4,1 Sterne bei 9 Bewertungen
Autor*in von Austerlitz und Austerlitz.
Lebenslauf
Sebald wuchs in Wertach als mittleres von drei Kindern seiner Eltern Rosa, geb. Egelhofer, und Georg Sebald auf. Er hat eine ältere Schwester Gertrud, geboren 1941 und eine jüngere, Beate, geb. 1951.[1]
Der Vater Georg, Sohn eines Eisenbahners, stammte aus dem Bayerischen Wald, lernte Schlosser und trat 1929 in die Reichswehr ein. Er blieb auch in der Wehrmacht Soldat und stieg bis zum Hauptmann auf. Bis 1947 war er in französischer Kriegsgefangenschaft. Von Mitte der fünfziger Jahre bis 1971 diente er in der Bundeswehr (zuletzt als Oberstleutnant). Die wichtigste männliche Bezugsperson für Sebald war der Großvater mütterlicherseits, ein Dorfgendarm.
Ab 1954 besuchte Sebald zunächst das Realgymnasium „Maria Stern“ in Immenstadt, dann ab 1955 die Oberrealschule in Oberstdorf, wo er 1963 das Abitur ablegte. Aus gesundheitlichen Gründen vom Wehrdienst befreit, schaffte er schon nach zwei Jahren Studium der Literaturwissenschaft 1966 an der Universität Fribourg den Studienabschluss mit der Licence ès lettres.
Im selben Jahr wanderte er nach England aus, wo er 1967 seine Freundin aus der späten Schulzeit heiratete. 1976 bezog er mit Frau und Tochter ein viktorianisches Pfarrhaus (The Old Rectory). Dort gewann er der gestrüppartigen Wildnis eine weitläufige Gartenanlage ab, so entstand ein ostenglischer Blumengarten.
1968 reichte er seine Magisterarbeit über Carl Sternheim ein. Anschließend arbeitete Sebald zunächst als Lektor an der Universität Manchester; ein Jahr unterrichtete er auch an der privaten Internatsschule Institut auf dem Rosenberg in St. Gallen. Seit 1970 lehrte er an der University of East Anglia in Norwich und promovierte 1973 über Alfred Döblin. 1986 habilitierte sich Sebald an der Universität Hamburg mit Die Beschreibung des Unglücks. 1988 wurde er Professor für Neuere Deutsche Literatur an der University of East Anglia.
Sebald starb am 14. Dezember 2001 infolge eines Herzinfarktes bei einem Autounfall. Seine Grabstätte befindet sich auf dem St. Andrew’s Churchyard (Framingham Earl, Norfolk NR14) nahe Poringland bei Norwich, Norfolk.
Seine Vornamen Winfried und Georg lehnte Sebald ab. Winfried war für ihn ein „richtiger Nazi-Name“; für seine Familie, seine Schwester und seine Freunde erfand er den Namen "Max".[2] Eine enge Freundschaft verband ihn mit dem Schriftsteller Michael Hamburger. Dieser übertrug mehrere von Sebalds Werken ins Englische.
Alle Bücher von Winfried Georg Sebald
Austerlitz
Erschienen am 20.03.2012
Austerlitz
Erschienen am 06.12.2011
Neue Rezensionen zu Winfried Georg Sebald
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Rezension zu "Austerlitz" von Winfried Georg Sebald
Rezension zu "Austerlitz" von Winfried Georg Sebald
Borisvor 13 JahrenIch habe das Buch nach 9 Jahren wiedergelesen und war erstaunt wie schnell er mich wieder gepackt hat, der "Sebald-Sound".Die Geschichte eines Mannes der im 20.Jahrhundert lebt,dieses Jahrhundert aber nicht wahrnimmt, wahrnehmen will, bis er beginnt seine Vergangenheit zu erforschen.
Nach der Lektüre von Büchern von W.G.Sebald sieht genauer auf die Welt. Man lernt neu zu beobachten, zu staunen über ganz einfache und die ganz großen Dinge.
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