"[...] kann man dann nicht verlangen, dass Menschen, die bequem in der Aussenwelt gelebt haben, die geringe Anstrengung machen, sich durch diese Seiten hindurchzuarbeiten [...]?" fragt sich Witold Pilecki an einer Stelle seines Auschwitz-Berichtes. Überhaupt denkt er viel und oft an den Leser, für den er schreibt. Nur die Fakten will er berichten, damit es lesbar ist. Witold Pilecki ist ein polnischer Offizier, der sich 1940 freiwillig nach Auschwitz bringen lässt, um dort einen Widerstand aufzubauen. Tatsächlich gelingt ihm 1943 die Flucht und er liefert der Aussenwelt einen umfassenden Bericht ab, der jedoch auf kein grosses Interesse stösst. Nach 70 Jahren erscheint dieser Bericht aus Auschwitz erstmals auf deutsch.
Pilecki lässt sich bei einer Razzia absichtlich deportieren. Jetzt muss er erstmal die weitere Selektion überleben. Von seinem 100-Mann Block überleben diese nur 6. Tatsächlich ist er darunter. Pilecki beschreibt die Tötungsmassnahmen in Auschwitz, die sich stätig wandeln, während das Lager wächst. Weitere Blöcke werden errichtet und die Krematorien gebaut. War anfangs noch viel Platz für sadistische Spiele, gerät die SS bald unter Zugzwang, möglichst schnell und massig zu töten, da man der Häftlingsströme kaum noch Herr wird. Pilecki schildert die erste Probevergasung. Anfangs befanden sich im Lager Pfarrer, Randgruppen und Politische, später kommen Juden, am Ende auch Zigeuner. Anfangs werden die SS-Leute noch mit Boni pro Kopf für die Ermordung von Politischen belohnt, auch kann man Wetten auf den Todeskampf von Häftlingen abschliessen. Später wird totgespritzt. Das geht so am Fliessband, dass die SS aus Versehen ihren eigenen Spitzel, der überwachen sollte, dass es keinen Aufstand gibt, totspritzt. Da die Krematorien noch nicht fertig sind, behilft man sich mit Massengräbern. Weil die SS immer bemüht ist, Spuren und Zeugen zu beseitigen, werden die Gräber wieder beseitigt als die Krematorien arbeiten. Pilecki schätzt die Zahl der Ermordeten auf über 2 Millionen. Tatsächlich gelingt es ihm, einen Widerstand aufzubauen. Nun warten sie nur noch auf ein "Ja" von draussen. Doch statt Auschwitz zu befreien, kommt von dort die Nachricht, es würde sich nicht lohnen. Die Auschwitz-Häftlinge erfahren, dass die Aussenwelt sie als "Skelette" abgeschrieben hat. Zur Befreiung kommt es nicht, Pileckis Einsatz war vergebens. Gefühle erlaubt sich der Autor nur wenige Male, z. B. schildert er bei der Tötung der Krankenabteilung Rachegefühle und bei der Hinrichtung von 200 Kindern Herzrasen. Die Häftlinge leiden nicht nur unter dem Vernichtunslager selber, sondern auch unter der Ignoranz der Aussenwelt. Wie kann es sein, dass draussen Menschen spazieren gehen und Blumen pflücken, heiraten und Kinderwagen schieben, während in Auschwitz täglich 8000 Menschen vergast werden? Ich habe das auch schon von anderen Überlebenden gehört, wie sehr sie unter dem Wegschauen der Aussenwelt gelitten haben. Pilecki schreibt sachlich, mit viel Galgenhumor und spannend wie ein Thriller. Ich habe natürlich auch in der Schule von Auschwitz gehört, aber wie der Alltag dort aussah, habe ich im Detail nicht gewusst. Im Grunde wusste ich gar nichts. Ich glaubte auch zu wissen, was eine Laus ist. Aber da täuschte ich mich. Die SS hat grossen Wert darauf gelegt, dass es möglichst keine Zeugen gibt, die erzählen können, was in Auschwitz passiert ist. Pilecki ist einer der wenigen Zeugen gewesen, die überlebten. Ich hoffe, dass er Gehör findet und danke dem Verlag Orell Füssli für die Veröffentlichung. Ein packendes und aufrüttelndes Zeitzeugnis. Hoffentlich wird man es in der Schule lesen.
Witold Pilecki
Lebenslauf
Quelle: Verlag / vlb
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Freiwillig nach Auschwitz
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Er war der erste und einzige Mensch, der freiwillig ins das Konzentrationslager Auschwitz ging. Als engagiertes Mitglied einer polnischen Widerstandsgruppe, die zunächst gegen die Nazis kämpfte und nach dem Krieg gegen die kommunistischen Machthaber, ließ sich Witold Pilecki schon 1940 bei einer Razzia absichtlich festnehmen.
Sein Ziel war, ins KZ Auschwitz zu kommen um dann von dort genaue Informazionen nach draußen zu schmuggeln und im Innern eine Widerstandsorganisation unter den Gefangenen aufzubauen. Schon sehr bald ließ er Teile seiner hier zum ersten auf Deutsch erschienenen Aufzeichnungen schon 1941 den Amerikanern und Briten zukommen, doch die zögerten zweifelnd. Doch die Tatsache des Massenmords an Juden und anderen konnten sie nicht mehr von der Hand weisen. Pileckis Bericht, dessen historischer Hintergrund von Jarek Garlinski zu Beginn des Buches erhellt wird, erzählt in knappen Sätzen, fast wie ein Drehbuch, vom Alltag im Lager, von den Schikanen der Aufseher und vom gelegentlichen Widerstand einzelner Gefangener, den Pilecki immer zu unterstützen suchte.
Im April 1943 floh er mit seinen Aufzeichnungen aus dem Lager und schloss sich dem Widerstand im Warschauer Ghetto an. Nach der Niederschlagung des Warschauer Aufstands 1944 wurde er als Kämpfer verhaftet, und verbrachte die Zeit bis zum Kriegsende in einem deutschen Internierungslager. Nach dem Krieg kehrte er im Auftrag der polnischen Exilregierung im Westen als Verbindungsoffizier zu den antikommunistischen Widerstandsgruppen nach Polen zurück. Trotz der Gefahr, verhaftet zu werden, blieb er 1947 im Land. 1948 wurde er wegen Spionage zum Tod verurteilt und hingerichtet. Erst nach dem Ende der sowjetisch dominierten Regimes wurde Witold Pitecki rehabilitiert und seine Aufzeichnungen erst 2012 in den USA veröffentlicht.
In der Einleitung der bei Orell Füssli in Zürich veröffentlichten deutschen Ausgabe schreibt der britische Historiker Norman Davies: „Pileckis Name steht für das tragische Schicksal von Millionen, die im Westen vergessen sind. Erst wenn man das wahre Grauen seines Schicksals erfasst, versteht man, worum es im Zweiten Weltkrieg in Europa wirklich ging.“
Ein wichtiges und bewegendes historisches Zeugnis eines mutigen Menschen.
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