Rezension zu "Fünf Minuten vor Erschaffung der Welt" von Wolf Christian Schröder
Die verzweigte Handlung und umfängliche Personnage dieses Romans vorzustellen wäre ausufernd, deshalb ein Versuch in einem Satz: Beruflich und privat gescheiterter Heimatforscher erbt Millionen von einem entfernten Verwandten in Amerika und unternimmt einen Neuanfang. Man kennt solche Geschichten vom reichen Erb-Onkel, sie setzen lustvolle Gedankenspiele in Bewegung. Wir lieben auch Geschichten von Lottomillionären und hören gerne, was aus ihnen geworden ist. Zwischen Aufstieg und Fall ist alles möglich. Mit einer gewissen Befriedigung lesen wir das Märchen vom „Hans im Glück“, der mit einem Goldklumpen startet und durch schlechte Tauschgeschäfte bei einem Schleifstein endet, den er auch noch verliert. Hans aber ist glücklich und kehrt, von allem Materiellen befreit, endlich zur Mutter zurück.
Die Hauptfigur in Schröders Roman, Georg Grissmann, hat seine ganz besondere, nicht leicht zu kategorisierende Glücks-Geschichte. Zunächst muss er, der heimatverbundene Kinderreimsammler (!), sich die Erbschaft ‚verdienen‘ (hat Hans im Glück übrigens auch getan), indem er mit Hilfe eines Detektivs als Erster das Bett des sterbenden Verwandten in Übersee erreicht. Der Aufbruch nach Amerika ist schon sein erster Zugewinn, denn: „Welches Mittel hilft besser gegen die Melancholie als das Abenteuer.“ Er ist schneller als seine Konkurrentin mit ihrem Sohn und erhält darum das Millionenerbe samt einem großen Haus, das außerdem auch noch eine exakte Kopie des Grissmann-Hauses in Tübingen ist (das einmal seinen Großeltern gehörte bis zu deren Bankrott und in dem seine Mutter nun Führungen für Touristen anbietet). Im Grunde kehrt er also auch in der Fremde in die Heimat zurück. Beim Anblick des Hauses erlebt er einen geradezu epiphanischen Glücksmoment: „Du bist angekommen – egal was noch kommt. Hier, kurz hinter dem Tor, hätte ich sterben mögen.“ Dass ihm das Erben eigentlich gar nicht so wichtig ist, wurde schon auf der Fahrt zum Flughafen deutlich: „Herrlich leer ist die Stadt im Morgengrauen. Was geht mich mein Verwandter, was geht mich Amerika, was geht mich Morler (der Detektiv) an? Ich möchte für immer in dieser Taxe über die Autobahn rasen.“
Dennoch ist er froh, seine Konkurrentin um das Erbe ausgestochen zu haben, und kehrt nach einiger Zeit, nachdem der Verwandte schließlich gestorben ist, als reicher Mann in seine Heimatstadt zurück, genauer gesagt in die ärmliche „Backofensiedlung“, wo er sein altes Zimmer in Untermiete bezieht. Sein einziger Luxus scheint darin zu bestehen, diverse Schulden zu begleichen, Bedürftigen finanziell unter die Arme zu greifen oder sich eine billige grüne Quarzuhr zu kaufen. Immerhin leistet er sich hin und wieder eine Flasche Champagner für sich und ein junges Mädchen aus dem Ort. Er versucht unauffällig zu leben und seinen Reichtum zu verbergen, aus Angst vor Missgunst, dennoch verschafft ihm das Geld ein erhebendes Gefühl von Freiheit und Unabhängigkeit: „Ein reicher Mann kann jederzeit aufstehen und gehen … Und zurückkehren, wenn er will.“
Genau diese Pendelbewegung zwischen Aufbruch und Rückkehr prägt die weitere Handlung. Grissmann geht erneut nach Amerika in das Haus, und wie in einem Märchen findet er dort in der Nachbarschaft seinen alten Institutsleiter wieder, durch dessen plötzliches Verschwinden vor Jahren das Heimatinstitut geschlossen werden musste. Mit Grissmanns Erbe wollen nun beide in Tübingen eine Neugründung wagen. Alles scheint auf ein glückliches Ende zuzulaufen: Der Rückkauf gelingt, der ehemalige Leiter steht wieder an der Spitze und hält Vorträge zu so exotischen Themen wie „Heimat und Zufall“ oder „Heimat und Unglück“. Grissmann selbst will weiter Kinderreime sammeln und beginnt damit an seiner alten Grundschule (der Titel des Romans geht übrigens auf einen solchen Reim zurück). Doch das Glück hat seine Kehrseite: Studierende müssen aus dem ehemaligen Gebäude weichen und sollen umziehen, was zu massivem Widerstand führt und Grissmann Hass und Drohungen einbringt. In der Folge zieht er sich aus der Öffentlichkeit zurück und lebt wieder bei seiner Mutter - vielleicht eine versteckte Anspielung auf das Märchenende.
Reichtum verschafft Grissmann sowohl Freiheit, Ungebundenheit, Abenteuer, endlose Möglichkeiten und das Glück Wohltäter zu sein, bedeutet aber auch Druck und Verwirrung: „Ich könnte fast alles tun! Das erdrück(t)e mich.“ Er leidet wie immer schon unter „Entscheidungsschwäche“ und seine persönlichen Probleme wie Einsamkeit, Nicht-In-Die-Welt-Passen, Nähe und Abstoßung gegenüber Menschen können nicht gelöst werden. Grissmann bleibt ein Einzelgänger, ein Sonderling, verliert aber zumindest seine merkwürdige Angst vor den Nachmittagsstunden, sie können ihm am Ende nichts mehr anhaben. Auf die Frage, „wo jemand, der so ist wie ich, am besten aufgehoben wäre“, findet er nach einer erneuten Rückkehr nach Amerika eine ganz spezielle Antwort. Dazu die Erkenntnis: „Die Heimat ist nicht nur Ort und Zeit. Sie kann auch ein Zustand sein.“
Die Geschichte dieses sonderbaren Glücks- und Heimatsuchers entfaltet eine ganz eigene Art von Spannung, man folgt mit Interesse der inneren und äußeren Entwicklung, rückt lesend einem Ich näher, das mit entwaffnender Offenheit seine Gedanken, Gefühle und Unzulänglichkeiten preisgibt. Trotz des melancholischen Grundtons fehlt es Schröders Roman nicht an Komik und skurrilen Einfällen, die manchmal ins Groteske und Märchenhafte spielen. Sein Stil ist prägnant und erfrischend selbstironisch. Klappt man am Ende die Buchdeckel zu, möchte man seinem Protagonisten zurufen: Viel Glück!