Zuviel Reflexion
„Sich zurück-versichern“, die Dinge richtigmachen. Alles genau verstehen, liebe noch mal nachfragen, alles weitgehend aus dem Wunsch heraus, keine bösen Überraschungen in der Zukunft zu erleben, die Kontrolle zu behalten, „in Sicherheit“ zu sein. Man sollte es nicht unbedingt völlig generalisieren, ein deutliches stückweit aber schon beschreiben solche „reflektierenden Haltungen“ die deutsche Mentalität.
Was früher vielleicht als gutmütiger Scherz von Bewohnern südlicher europäischer Gefilde über die „Perfektionisten“ in Deutschland geäußert wurde, hat in den letzten Jahren und Jahrzehnten aber, folgt man Voss in seinen Darlegungen, pathologische Formen angenommen.
Angefangen bei der Intellektualisierung auch des privaten, emotionalen Bereiches, des oft, so gut wie immer „drüber Redenmüssens“ seit Ende der 60er Jahre in der politisierten Jugendkultur, zieht sich eine immer stärker werden Linie des äußeren, aber auch inneren Zwangs zur Reflexion von „allem und jedem“ durch die Jahrzehnte bis in die Gegenwart hinein.
„70 Jahre nach dem zweiten Weltkrieg geht es den Menschen in Deutschland so gut wie nie zuvor…. Aber eine wachsende Anzahl von Bürgern unseres Landes will die objektiven Verhältnisse offensichtlich nicht mehr wahrhaben. Sie reflektieren in einer Art Endlosschleife die subjektive Befindlichkeit und scheint sich in psychische Krankheitskonzepte…zu flüchten“.
Wo bringt es das Vorwort des Buches auf den Punkt. Ein beständiger Blick auf sich selbst, auf die „innere Befindlichkeit“ im Gefolgte erfolgreicher Konzepte wie „Achtsamkeit“ oder vielfacher anderer Ratgeber zur persönlichen Nabelschau, flankiert von einer breiten Industrie der Psychotherapie, die (natürlich nur in Teilen und nicht generell) auch ein Stück davon lebt, Krankheitsbilder auszuformulieren.
Neben der Unsinnigkeit so manch übertriebener Schau auf sich selbst (und damit auch eines überzogenen sich selbst als das nicht nur persönlich, sondern allgemein Wichtigste betrachten), stimmt ebenfalls die Beobachtung , dass es für eine Gesellschaft nicht nutzbringend sein kann, wenn zu viele Ihrer Mitglieder nur mit sich selbst beschäftigt sind.
Dass dies bereits die Öffentlichkeit in Form einer Dauerbeschallung von „Selbstbefindlichkeiten“ ohne sozialen Nutzwert durch alle Medien erreicht, das stellt Voss umgehend mit Blick auf „Das Dschungelcamp“, mit Blick auf rücksichtslose Verhaltensweisen von Mitmenschen und andernorts vor Augen. Billig gemachte Jugendsendungen auf RTL2, „Roberto“, der mit seiner holden „Carmen“ sinnentleert vor sich hin plappert und ebenfalls nur mit sich und der Vermehrung von „Das gehört mit“ beschäftigt scheint, alles Symbole einer Gesellschaft, die ängstlich, bang, fordernd, interessiert vor allem eben allein sich selbst in Person im Blick hat.
„Was nicht passt, wird passend gemacht“, in der eigenen Welt, der Rest nicht weiter beachtet. Und das gilt für die „Rüpelrepublik“ ebenso wie für die wachsende Zahl der „hyperreflexiv-dauersensiblen“, mitsamt den neuen Religionen von vegan, Bio, Achtsamkeit, Helikoptereltern und was alles bereits in der letzten Zeit diskutiert worden ist,
„Wellness-Ära“ und „Wohlfühldiktatur“ sind Begriff, die von Voss umgehend breit und in sehr flüssigem Stil gefüllt werden und das Problem einer aus einer indivualisierten Gesellschaft heraus zu einer egomanischen Gesellschaft werden blüht, so nicht gegengesteuert wird.
Woher das stammt, das „psychoanalysieren“ in „allgemeiner Form“, welche „Mythen“ die Reflexionskultur allgemein aktuell breit und vehement und mit vielen verschiedenen Kommunikationsmedien breit streut und, vor allem, wie es anders sein, gehen und sich entfalten könnte (durch „Zivilisierung der Tyrannei der Intimität“, all das führt Voss beredt und mit großem Elan aus.
Wobei man nicht jeder seiner (teils sehr überspitzen) Thesen folgen muss, nicht jede Übertreibung direkt anderen unter die Nase hält, durchaus aber, bei allem Humor, nachdenklich die Lektüre beendet und die Frage offen im Raum verbleibt, ob dem modernen Menschen in Deutschland vor allem nichts anderes mehr einfällt, als in die verschiedenen Spiegel zu schauen, die Rückspiegelung tief zu bedenken und damit in sozialen Netzwerken Gruppen Gleichgesinnter zu bilden. Während die faktischen Probleme und damit auch die lohnenswerten Aufgaben der Zeit und des eigenen Lebens eher nur mehr als Störgeräusche harmonischer Ich-Suche oder Bewältigung von Erkrankungen (auch als Folge ausschließlicher Ich-Beschäftigung) empfunden werden.
Ein sehr interessante, den Finger auf Wunden der Zeit legende Lektüre. Ob aber eine solche „Kultur des Einfachen“, wie Voss sie auch in großen Zügen zu Gehör bringt, anderswo gehört werden wird? Denn auch die Politik ist zunehmend erkennbar primär mit der je eigenen Person vollauf beschäftigt.
Wolfgang Clement
Lebenslauf
Quelle: Verlag / vlb
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Es ist schon eine Weile her, dass ich beim Lesen eines Sachbuchs ständig lachen musste. Eigentlich gibt es bei der Darstellung von Schwachsinn, der nicht ohne böse Folgen bleiben wird, nicht viel Komisches. Bis auf den Schwachsinn eben, wenn man einmal ausblendet, dass man von einer seltsamen Elite regiert wird, die frohgemut dem Abgrund zusteuert und sich dennoch sicher sein kann, dass sie stets wiedergewählt wird.
Das Vorwort zu diesem sehr amüsanten Text stammt von Wolfgang Clement, der mit dem Inhalt des Buches - wen überrascht das schon - nicht einverstanden ist. Burkhard Voss meint, wir würden uns kaputtpsychologisieren. Nun ist der Autor Mediziner mit einer Ausbildung zum Facharzt für Neurologie und Psychiatrie. Er muss es also wissen. Das ganze Elend, das uns letztlich in die nationale Irrenanstalt bringen wird, hat er in der sogenannten Reflexivkultur ausgemacht. Darunter versteht er "die Überhöhung und kultische Verehrung des reflexiven Denkens, welches die Aufmerksamkeit von der Umwelt auf das eigene Selbst lenkt". Grundsätzlich - so der Autor - wäre ein solches Denken gelegentlich nicht von Übel. Allerdings wird es zum Gift, wenn man es ständig und aus Prinzip tut. Und da wären wir inzwischen angelangt.
Voss hat drei Säulen dieser Reflexivkultur ausgemacht: Die Psychoanalyse, die keine wissenschaftliche Grundlage besitzen würde und mit der alles und jeder psychopathologisiert werden kann. Dann die postmoderne Philosophie, die sich von Fakten und Empirie verabschiedet hat und mit mathematischen und physikalischen Begriffen hantierend nur noch wirres Zeug von sich gibt. Und schließlich Gender-Mainstreaming, eine Pseudo-Theorie, die uns einreden will, dass es keine biologischen Geschlechter gäbe. Mit den ersten zwei Säulen kommt der normale Mensch kaum in Kontakt, die dritte jedoch ist offizielle Politik der EU, auch wenn das kaum einer merkt. Und wenn man es zufällig mitkriegt, wird man sich mehrheitlich an den Kopf fassen.
Doch Gender-Mainstreaming stellt genau den Punkt dar, an dem man mit dem Autor nicht mehr einer Meinung sein muss. Es ist doch nicht so, dass wir alle zu Hause herumsitzen und nachdenklich in uns hineinhören, ob wir vielleicht doch ein anderes Geschlecht haben als das, was wir nach unseren äußeren Merkmalen vermuten sollten. Immerhin hätten wir viel Stoff zum Nachdenken, denn schließlich gibt es nach dieser schwachsinnigen Theorie nicht nur zwei, sondern viele Geschlechter. Es mag ja sein, dass einige Menschen an dieser Stelle Probleme haben. Voss beziffert ihren Anteil bei einem Prozent der Bevölkerung. Kann man also deshalb sagen, wir würden uns kaputtpsychologisieren? Ist es nicht vielmehr so, dass gerade an dieser Stelle deutlich wird, dass diese Kreise überproportional dort vertreten sind, wo öffentliche Meinung erzeugt werden soll oder wo praktische Politik gemacht wird? Vielleicht wird ja erst so ein Schuh aus der Behauptung des Autors.
Wie auch immer man das sehen mag – das Buch liest sich nicht nur hervorragend, es ist auch sehr amüsant. Und man wird ständig mit Parolen konfrontiert, die man aus den täglichen medialen Verkündungen kennt und vielleicht schon nicht mehr hinterfragt, weil sie sich in der Dauerwiederholungsschleife inzwischen als "Wahrheit" etabliert haben.
Diese "Mythen der Reflexivkultur" entlarvt der Autor im zweiten Teil seines Buches, nachdem er vorher die Theorie und die Ahnen der Reflexivkultur vorgestellt hatte. Das erwies sich für mich als der amüsanteste Teil, auch wenn ich nicht immer mit dem Autor einer Meinung war. Beispielsweise kann man Sinn und Zweck des Achtsamkeitsbegriffs von Buddha nicht an seiner Auslegung durch Esoteriker oder andere Verwirrte messen. Wer hingegen glaubt, dass wir "wertschätzend miteinander umgehen müssen", dass "alle Gspräche auf Augenhöhe stattfinden sollten", dass "alle Entscheidungen transparent sein und unter Beteiligung aller getroffen werden müssten", dass wir "alle Menschen aus Afrika großzügig bei uns aufnehmen sollten", dass "alle Menschen gleich wären" und dass "psychische Erkrankungen zunehmen", der sollte besser Abstand von dieser Lektüre nehmen.
Das Buch enthält am Ende auch noch einige lustige Kapitel über die Deutschen in der Welt, den dauerreflexiven Hypersensitivismus und seiner Sprache sowie über das Schizophrene der Postmoderne. Alles in allem ein sehr unterhaltsames Buch, wenn man wieder einmal über die moderne Welt lachen möchte und es auch noch kann. Allen, die noch nicht dem "Betroffenheitskult" huldigen oder unter einer "generalisierten Heiterkeitsstörung" leiden, sei dieses Buch wärmstens empfohlen. Es gibt viel Spaß.
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