„Das Lemming Projekt“ von Wolfgang Kaes lässt mich erst mal nach der Bedeutung des Wortes Lemming suchen. Es stammt wohl aus dem Dänischen. Und: Lemminge stürzen sich nicht einer nach dem anderen in den Tod, sie verüben keinen Selbstmord sondern überschätzen einfach maßlos ihre Kräfte, Wasserflächen zu überqueren. Alle paar Jahre vermehren sie sich aufgrund bestimmter Wetterlagen und genauso verringert sich wieder ihre Population. Hauptsächlich gehen sie auf Wanderschaft, um Futter aufzutreiben. Vielleicht stammt daher der Glaube, dass einer dem anderen folgt, egal ob gut oder schlecht. Das allerdings ist eine Grundlage für den Thriller, der hier beschrieben wird. Wie die Lemminge folgen wir einem, von dem wir denken, dass er weiß, wo das Futter sich befindet.
Um was geht es aber tatsächlich? Gleich mehrere Themen werden aufgegriffen: Die hohe Arbeitslosigkeit junger Menschen in Spanien sowie die Vergangenheit unter Franco und der katholischen Kirche. Ein Lemming = folgsames Wesen unter Franco, das sonst gefoltert, misshandelt, seine Kinder verliert und ähnlich schreckliche Dinge auch unter dem Schutz der Kirche erleidet. Die Macht des Internet, mit ihren Trollen und wie das alles heißt, um Menschen zu beeinflussen Dinge zu tun oder zu lassen, die sie ohne das Netz niemals getan hätten. Beeinflussung von Massen, Wahlen, Demokratien, Hass und alle bösen, niederen Instinkte an die Oberfläche zu bringen und zu verstärken. Jeder Klick ist gut, treibt Werbeeinnahmen ein und stärkt einige wenige darin, zu unvorstellbaren Taten zu greifen. Da helfen niedliche Katzenbilder nicht dabei.
Der Autor redet vom Giftmüll im Netz, das von bestimmten Firmen mithilfe Unzähliger gesäubert wird. Algorithmen können hier weniger unterstützen, die unterschiedlichen gesellschaftlichen Strukturen sind wohl nicht programmierbar. Deswegen werde ich bei FB abgestraft, wenn ich über das Buch die Pest schreibe, denn dass es sich hier um Literatur handelt, ist einem Algorithmus zunächst fremd.
Alejandro ist einer der jungen Arbeitslosen, gebildet, klug, nicht im Netz unterwegs und begierig auf einen Job. So sitzt er in der Spätschicht und säubert das, was er im Prinzip nicht kennt. Netzaktivitäten, die dem gesellschaftlichen Standard nicht entsprechen. Nacht für Nacht, am Ende der Schicht, trifft er eine junge Frau, Maria, nur um mit ihr in der Dunkelheit an den Strand zu fahren und den Dreck von sich zu spülen, den er stundenlang sehen muss. Entweder löschen oder Meinungsfreiheit.
Hier kommt ein weiteres Thema zur Sprache: Rechte Gruppierungen wollen die Macht übernehmen. Doch in einer Demokratie ist Meinungsfreiheit ein hohes Gut, und so muss er vieles durchgehen lassen, was ihm nicht schmeckt. Als Maria sich von einer Brücke stürzt und ihm eine Nachricht hinterlässt, kommt er Furchtbarem auf die Spur. Marias Familie rückt nun in den Vordergrund. Aber auch die Mutter von Alejandro, die, früh schwanger geworden, einen Taugenichts geheiratet hat, der sie verlässt, als sie wiederholt schwanger wird. Alejandro nun sieht vermehrt ein Bild während seiner Schichten auftauchen, auf dem ein kleiner Junge abgebildet ist, der ihm ähnlich ist. Er selbst ist es nicht? Was steckt dahinter? Seine Mutter bewahrt eben dieses Foto auf, will aber nicht darüber sprechen. Sie ist gefangen in der Zeit von Franco und der katholischen Kirche.
Ihm zu Hilfe eilen Freunde, eine Nachbarin und seine Schwester. Die Nachbarin ist ehemalige Kriegsreporterin, deren Bruder ein Internetspezialist. Seine Schwester arbeitet als Journalisten. Eine hübsche Gruppierung, die natürlich dazu da ist, Geheimnisse zu lüften. Das ist zum Teil sehr interessant, vor allem, was die Franco-Diktatur anbelangt, die bei mir nicht wirklich präsent ist. Die Strukturen der Internetriesen und der Firmen drumherum, wie sie Wahlen und Meinungen beeinflussen, lässt der Autor durch den Internetspezialisten gut erläutern.
Insgesamt ein sprachlich einwandfreier und spannender Beitrag zu den oben genannten Themen.
Mehr über den Autor und seine Bücher zum Beispiel unter https://www.wolfgang-kaes.de/