Venedig im Coronalockdown, Frühling 2020. Commissario Morello und seine Assistentin Anna entdecken auf ihrem Streifengang (Ausgangssperre!) in den menschenleeren Gassen der Altstadt einen jungen Afrikaner, der sich von der Rialtobrücke in den Canale Grande stürzt; sie können ihn gerade noch lebend aus dem Wasser fischen. Der junge Mann stammt aus Nigeria, ist illegal nach Italien gekommen und fürchtet, dass seine Freundin, die mit ihm übers Meer nach Sizilien gefahren ist, in den Fängen der Menschenschmuggler geblieben ist und nun irgendwo in einem Bordell der Mafia zwangsweise anschaffen muss. Prompt setzen sich Morello und Anna in den Zug nach Neapel und nehmen von dort ein Segelboot Richtung Palermo (Morello steht ja immer noch auf der Todesliste der Cosa Nostra und darf nur äußerst verdeckt in seine Heimat), um gemeinsam die junge Dame zu suchen.
Fragen Sie nicht, wieso Polizeiermittlungen beginnen, um dem Motiv eines gescheiterten Selbstmörders auf den Grund zu kommen, obwohl nichts strafrechtlich Relevantes geschehen ist - in meiner schlichten Welt wäre das ein Fall für eine Therapie oder krisenpsychologische Betreuung. Fragen Sie auch nicht, warum der junge Nigerianer - gesund, motiviert und energisch - nicht selbst nach Sizilien geht, um die Liebste zu finden, sondern lieber in Venedig bleibt und dort ins Wasser hüpft (schnellere, zuverlässigere und schmerzfreiere Wege zum Suizid kennt der Ärmste offenbar nicht) oder warum er bei seinem Selbstmordversuch nicht mal einen Hinweis auf die gefangene Schöne hinterlässt, damit wenigstens die Nachwelt sie rettet.
Es bleiben viele Fragen offen, aber das ist auch egal, denn eigentlich haben wir hier gar keinen Krimi vor uns. Dankenswerterweise versuchen sich Wolfgang Schorlau und sein Co-Autor Claudio Caiolo in diesem zweiten Band der Reihe gar nicht erst an der Frage, wers war (oder ist).
Nein, eigentlich müsste dieser vermeintliche Krimi im Regal mit den Sachbüchern zu finden sein: Über das organisierte Verbrechen in Nigeria, das kurioserweise aus Studentenverbindungen gewachsen ist, über die Sauereien bei der Ölförderung dort - und die unrühmliche Rolle, die Unternehmen wie Eni und Shell dabei spielen; darüber, wie Menschenschmuggel von Afrika nach Europa abläuft, über die gedeihliche Zusammenarbeit der Mafias von Sizilien, Nigeria und anderswo. Alles durchaus interessant und lehrreich. Die Belehrungswut der Autoren erreicht dabei bemerkenswerte Ausmaße: Sie schleudern uns nicht nur die selbstrecherchierten Informationen um die Ohren, sie drucken sogar Auszüge aus Originaldokumenten der italienischen Justiz ab und legen in die Dialoge ihrer Figuren obendrauf Zahlen, Daten, Fakten in ungebrochenem Strom - ein feuchter Traum für Helmut Markwort! (Sie wissen schon: "Fakten! Fakten! Fakten!")
Entfernt erträglich für den geneigten Krimifreund wird das nur, wenn man die eigentliche Handlung nur als auflockerndes und würzendes Element zwischen dem etwas monotonen Dauerfeuer mit Sachinformationen begreift. So wie Peter Lustig oder Herr Fuchs in 'Löwenzahn', die sich ja auch nur ihr Butterbrot schmieren, damit sie uns hinterher zeigen können, wie es im Kuhstall aussieht, aus dem die Milch für die Butter kommt.
Meins ist das nicht unbedingt. Aber ich greife auch nicht zum Krimi, um ein Rezept für Spaghetti Aglio e Olio zu erhalten (wer braucht da ein Rezept?) oder für Pasta al Ragù - die Kochvorgänge sind nicht nur im Text ausgiebig beschrieben, sondern im Anhang auch noch in Rezeptform zu finden. Ich würde übrigens fürs Ragù die doppelte Menge Knoblauch nehmen und noch die abgeriebene Schale einer halben Zitrone dazugeben, aber das nur am Rande.