Ein wichtiges und schwer zu verdauendes Buch. Vielen Dank an den Herder-Verlag für die Bereitstellung eines digitalen Rezensionsexemplares.
Die Aufarbeitung relevanter Teile der DDR-Geschichte in Deutschland lässt zu wünschen übrig, und so ist es auch mit dem Heimsystem, den Betroffenen und den Täter:innen. Doch gerade hier haben wir die Chance, noch etwas zu tun, denn diese Menschen leben noch, jeden Tag, mit dem, was ihnen angetan wurde.
Trotz dass ich bereits über die Vorgänge im Heimsystem der DDR wusste, war dieses Buch sehr informativ und macht einen guten Job, das Ausmaß und die langfristigen Auswirkungen auf persönlicher Ebene zu verdeutlichen. Besonders gelungen finde ich die Vorgehensweise, persönliche Berichte und nüchterne Informationen immer als Paare auftreten zu lassen. So wird ein Erfahrungsbericht eingeordnet mit einer kurzen Geschichte der konkreten beschriebenen Institution und weiteren Kontext-Fakten, was die persönlichen Geschichten für uns als Leser:innen greifbarer und verständlicher, und damit auch noch schwerer zu verdauen, macht.
Die Autorin gibt den Betroffenen Raum für ihre Erlebnisse, angenehm neutral, ohne sie zu heldenhaften Opfern oder traumatisierten (Mit-)Täter:innen zu machen. Sie ordnet ein, wertet aber nicht und bleibt immer empathisch.
Das Heimsystem in der DDR war nicht auf Bildung oder Erziehung ausgerichtet, noch nicht einmal auf Vorbereitung aufs Erwachsenenleben. Die Kinder und Jugendlichen wurden als Zwangsarbeiter:innen für gefährliche Tätigkeiten verwendet und hatten sich einem gefängnisartigen Drill unterzuordnen, der eine Person nur komplett unvorbereitet auf ein eigenständiges Leben lassen kann. Missbrauch durch Heimarbeiter:innen mit Mithäftlinge war an der Tagesordnung. Ob ein Kind dabei ins Heim gekommen war, weil es von den Eltern vernachlässigt wurde, weil es auffällig geworden war oder weil die Eltern politisch nicht passten, war dabei egal. Mit dem Erreichen der Volljährigkeit wurden sie vor die Tür gesetzt und später wurde der einzige Abschluss, den sie im Heim erlangen konnten, von der BRD noch nicht einmal anerkannt.
Die wenigen Berichte von Heimarbeiter:innen, die sich tatsächlich für die Jugendlichen interessierten und aufgrund dessen entweder versetzt wurden oder den Job wechselten, weil sie die Zustände selbst nicht aushielten, verdeutlichen nur noch den Gedanken, der mir nach dem Lesen des Buches noch am längsten im Kopf blieb: Dieses System wurde von sehr vielen Menschen gestützt. Nicht nur Parteikadern, die auf einer abstrakten Ebene Entscheidungen trafen und nie ein Heim von innen gesehen hatten, sondern auch denjenigen, die tagtäglich in diesen Heimen arbeiteten, Kinder und Jugendliche missbrauchten und so gegeneinander ausspielten, sodass Solidarität kaum möglich war. Dazu braucht es einen ganz besonderen Schlag Mensch und eine gehörige Portion Menschenverachtung. Und es funktioniert immer wieder, in jedem System.
Kaum einer dieser Menschen wurde je für seine Taten zur Rechenschaft gezogen.
Wolfgang Thierse
Lebenslauf
Quelle: Verlag / vlb
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In der DDR gab es ein großes System an Kinderheimen. Normale Kinderheime, etwas Strengere oder eben auch Jugendwerkhöfe, die eher einem Kindergefängnis ähnelten. Viele Kinder kamen relativ grundlos ins Heim, zum Beispiel weil ihre Eltern ausreisen wollten. Natürlich gab es auch Waisen. Vielen Kindern ging es im Heim sicherlich nicht schlechter als zu Hause, doch in diesem Buch stehen die Kinder und Jugendlichen im Vordergrund, denen es im Heim alles andere als Gut ergangen ist. Psychoterror der ganz harten Sorte. Sei es von Seiten der Erzieher als auch von den anderen Heimkindern – die doch meist eher an Mithäftlinge erinnern.
Erzählt werden einige Anekdoten von ehemaligen Heimkindern. Sie schildern, wieso sie im Heim waren, in welchem und wie es ihnen dort ergangen ist. Auch wird darauf eingegangen, wie es ihnen nach der Entlassung ergangen ist und wie sie die Zeit nach der Wende verbracht haben. Die Protagonisten dieses Buchs haben alle ihren Knacks weg. Keiner hat seine Heimzeit komplett verarbeitet, viele können es wenigstens verdrängen und leben normal, solange sie sich nicht erinnern. Andere können die Zeit gar nicht ausblenden. Interessant fand ich, dass das DDR-Heimsystem schon gut erläutert wurde und anschaulich dargestellt wurde.
Was mich an diesem Buch etwas gestört hat, war, dass einige Textstellen mehrfach vorkamen. Die gleiche Person erzählt dieselben Anekdoten an unterschiedlichen Stellen des Buches. Teilweise hatte ich so das Gefühl, ich wäre im Buch verrutscht. Das Buch war informativ und interessant. Ich vergebe drei von fünf Sterne.
Mit diesem Buch wird ein trauriges Kapitel der DDR-Geschichte sachlich dargelegt. Im Wechsel mit rein informativen Kapiteln zu den jeweiligen Einrichtungen bieten Schilderungen Einzelner Einblick in traurige Schicksale. Ich konnte dieses Buch nicht hintereinander lesen, sondern musste immer mal wieder eine Pause einlegen um das Gelesene sacken zu lassen. Ein sehr berührende Sachbuch, das ich an der Thematik interessierten sehr gern weiterempfehlen.
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