Rezension zu "Die Frau mit den Regenhänden" von Wolfram Fleischhauer
Heute möchte ich endlich eines meiner Lieblingsbücher bewerten...
Der historische Roman „Die Frau mit den Regenhänden“ von Wolfram Fleischhauer erschien laut meiner Recherche bereits 1999 und fand vor fast 20 Jahren ein neues Zuhause in meinem Bücherregal. Seit dem habe ich das Buch immer und immer wieder gelesen; es hat sich tief in mein Herz und meine Seele gebrannt, und die Handlung begleitet mich seither wie ein nebulöser Schatten. Immer, wenn die Sehnsucht nach dieser Geschichte zu groß wird, nehme ich den Roman wieder zur Hand, beginne zu lesen und – obwohl ich die Handlung in- und auswendig kenne – entdecke ich stets Neues und bin überrascht über die anhaltende Faszination, welche dieses Werk in mir auslöst. Auch die Spannung nimmt mit keinem erneuten Lesen ab, sondern ich bin immer wieder gefangen im Strom der Ereignisse, fiebere mit und möchte das Buch kaum mehr aus der Hand legen. Mehrfach habe ich es weiterempfohlen, jedoch immer mit negativem Feedback: die Geschichte scheint nicht jeden abzuholen, zu berühren, gefangenzunehmen, oder schlichtweg erreichen zu können. Die meisten Leser brachen den Roman sogar nach wenigen Seiten ab. Woran könnte das liegen?
Den Schreibstil des 1961 geborenen Literaturwissenschaftlers und später als Konferenzdolmetscher tätigen Wolfram Fleischhauer kann man nicht unbedingt als „leicht und flüssig“ bezeichnen. Er formuliert präzise und ohne „Schnickschnack“, dennoch entstehen beim Lesen seiner Worte unglaubliche Bilder im Kopf. Problemlos tauche ich in das Zeitalter dieser Geschichte ein und bin ein Teil von ihr. Die knapp 490 Seiten sind prall gefüllt mit Informationen zu dem Paris des mittleren 19. Jahrhunderts, aber auch der ein oder andere Hinweis auf unser aktuelles Zeitgeschehen ist zu finden. Wie mag das gehen? Ein Roman der späten Neunziger enthält Anspielungen auf unsere heutige Welt? Und ob das geht... Nicht nur die Modetrends kehren in schöner Regelmäßigkeit wieder, auch die Geschichte wiederholt sich laufend.
Wir schreiben das Jahr 1867, ganz Paris träumt von der Liebe (kleiner Scherz am Rande...) und ist in heller Aufregung ob der anstehenden Weltausstellung. London hat bereits im Jahre 1851 als erster Ausrichter eine atemberaubende „Great Exhibition“ auf die Beine gestellt, dieser wollte Napoleon III. nun in nichts nachstehen. Sein ganzes Regime ist auf Repräsentation ausgerichtet: endlose Feste, Prunkbauten, halb Paris lässt er abreißen und neu aufbauen. Napoleon III. ist nicht nur ein Diktator, er ist auch ein Visionär. Innenpolitisch gleitet ihm das Ruder mehr und mehr aus den Händen, ab hier hat er nun die Chance der Welt zu zeigen, was Frankreich vermag. Fast alle Staatsoberhäupter der Welt würden nach Paris kommen, ganz zu schweigen von den Millionen von Besuchern, um das Zentrum der Welt und des Wissens zu sehen...
Auf einer zweiten Zeitebene, nämlich im Jahr 1992 sitzt Bruno, der deutsche Doktorand der Architekturgeschichte in der historischen Bibliothek in Paris und recherchiert zu den zeitgenössischen Hintergründen der damaligen Weltausstellung. Vom Zweiten Kaiserreich hatte er bislang nicht die leiseste Ahnung, denn das wirre Durcheinander von Kaisern und Königen, von Kabinettskriegen und Bündnispolitik interessierte ihn eher wenig. Doch man kann das Weltausstellungsgebäude von 1867 architektonisch nicht verstehen, wenn man keine Kenntnis von den damaligen Zeitumständen hat. Und so begibt sich Bruno auf Spurensuche und taucht anhand Zeitungsberichten, Kartenmaterial sowie alter Pläne und Photographien in das Paris des mittleren 19. Jahrhunderts ein. Bald jedoch bemerkt er an einem der Nachbartische eine Frau in ungefähr seinem Alter, die ihrerseits ebenso in eine zeitaufwendige Nachforschung vertieft ist. „Recherche speciale“ heißt es auf einem Schild auf ihrem Tisch. Bruno versucht, die junge Frau näher kennenzulernen, denn sie scheint sich für die gleiche Zeitepoche zu interessieren wie er. Auf ihrem Tisch befinden sich Bücher über Geschworenengerichte und alte Prozessakten. Ist sie Juristin? Oder Historikerin? Oder vielleicht beides?
Der Roman besteht aus zwei Handlungssträngen, von denen sich der erste in weitere „feine Fäden“ verzweigt. Schnell erkennt man zwischen den einzelnen Ereignissen des Jahres 1867 erste Zusammenhänge und stellt Vermutungen an; hat Ahnungen, Befürchtungen. Manchmal ist man wieder ratlos und einfach schockiert. Gern möchte man im historischen Teil verweilen und sich weiter auf Spurensuche begeben, doch immer wieder reißt das plötzliche „Aufploppen“ der zweiten Zeitebene rund um Bruno und die mysteriöse Frau den Leser aus seiner atemlosen Anspannung. „Warum nur schon wieder?“, fragt man sich und möchte manchmal verzweifeln ob der (bewusst eingebauten) Längen, die sich immer wieder einstellen, während Bruno recherchiert und gleichzeitig versucht, der jungen Französin näherzukommen.
Mag sein, dass es dem ein oder anderen Leser zu verworren ist, den Fokus auf beide Zeitebenen zu legen, die scheinbar rein gar nichts miteinander zu tun haben. Gerade der historische Aspekt ist so vollumfänglich, dass einem das „träge Dahinplätschern“ in der Bibliothek der zweiten Zeitebene wie ein „Herunterbremsen von 100 auf 0“ vorkommt. Zum Glück kommen zu Beginn die Wechsel der Perspektiven nicht ganz so häufig vor, sondern mehren sich erst dann, wenn man bereits so tief in dem historischen Teil steckt, dass man „alles andere“ als Beigabe einfach als gegeben hinnimmt. Bis man entdeckt, dass es tatsächlich einen Zusammenhang zwischen beiden Zeitebenen gibt, der den Leser sprachlos macht...
Für mich ist dieses Buch etwas ganz Besonderes und ich werde es noch ganz oft lesen. Ich kann mich den Pressestimmen zu diesem und seinen anderen Werken nur anschließen: Wolfram Fleischhauer ist ein großartiger Erzähler, der es versteht, ein Geschehen zu entwickeln, das bis zum Schluss nicht nur spannend sonder auch zeitgeschichtlich faszinierend daherkommt.
Übrigens ist dies mein bislang einziges Buch des Autors. Zu gern würde ich eine weitere Geschichte aus seiner Feder lesen, aber ich scheue mich davor aus Angst, dass ein anderes Werk von ihm nicht an „Die Frau mit den Regenhänden“ heranreichen kann und ich ihn von dem imaginären Thron“, auf den ich ihn gesetzt habe, wieder herunterholen müsste.
Wen speziell der ungewöhnliche Titel nun neugierig gemacht hat, dem sei das Gedicht von E.E. Cummings empfohlen („somewhere i have never travelled, gladly beyond any experience, your eyes have their silence...“) - ich finde, ein besseres erstes Kennenlernen mit diesem Buch kann es nicht geben.