Meisterhaft gelingt es Yasar Kemal die Verbindung und die Verdichtung von Unglück und Glück darzustellen. Er ist ein sozialkritischer und politischer Autor mit Anregungen zum Hinterfragen der Gegebenheiten. Wieso warum wozu weshalb?
Hintergründige Hauptthemen dieses Romans ist die Kaukasusfront im 1. Weltkrieg und der Bevölkerungsaustausch von Griechen und Türken.
Die Vorgeschichte: Griechenland war mehrere Jahrhunderte lang Teil des osmanischen Reiches. Nach dem Zusammenbruch des „Kranken Mannes am Bosporus“ sahen griechische Nationalisten die Chance eines großgriechischen Reiches und marschierten in Anatolien ein. Kemal Atatürk konnte sie jedoch zurückschlagen. Der Friedensvertrag von Lausanne im Jahre 1923 beinhaltete die Rückkehr von über einer Million Griechen und einer halben Millionen Türken. Dieser Konflikt beherrscht bis heute unterschwellig die politische Landschaft der beiden Staaten. Wie so oft ist diese Grüne-Tisch-Idee der diplomatischen Händler eine Maßnahme, die menschliche Schicksale nicht einbezieht und nur den politischen Rahmen berücksichtigt.
Die Griechen müssen die Ameiseninsel verlassen und nicht nur sie, alle in der Türkei lebenden Griechen werden nach Griechenland zwangs-umgesiedelt so wie ihr türkisches Pendant von Griechenland in die Türkei. Niemand dieser beiden Volksgruppen ging freiwillig: was sollten sie dort in der Fremde? Denn das sogenannte Heimatland war ihnen fremd, die Menschen und die Lebensbedingungen dort. Und was sollte sie dort erwarten? Offene Arme, freudige „Seid Willkommen“-Rufe? Oder Misstrauen und Missgunst: was wollen die hier, was sollen die hier? Die nehmen uns Land weg, die nehmen uns Arbeit weg.....ein altbekanntes Lied.
Die Protagonisten sind Musa der Nordwind, der in der kleinen Küstenstadt ein Haus und eine Mühle kauft und Vasili Atoynaranoglu. Der erste komm als Fremder auf die Insel, um hier ein Refugium, Frieden und eine neue Heimat zu finden, der andere stammt von hier und weigerte sich, zu gehen. Vasili hatte es sich in den Kopf gesetzt, den ersten, der die Insel betritt, zu erschießen: er lauerte ihm auf, er verfolgte ihn und schaffte es doch nie, den Abzugshahn seines Revolvers zu betätigen. Musa der Nordwind hingegen fühlte die Präsenz eines anderen, bekam ihn aber nie zu Gesicht, bis..... So ist ein Großteil des Romans diesem Versteckspiel geschuldet.
Wunderbare Naturschilderungen, poetisch, leuchtend und duftend, manchmal fast ein bisschen zu schwelgerisch. Eine flügelschlagende, wellenbrechende, blumige Poesie.
„Der Sonnenaufgang, wie das Strahlen der Sonne trotz aller Kriege und Hungersnöte die Welt in orangefarbenes Blühen taucht“, „der Duft der Heideblüte, bis ins Knochenmark spürte er jeden Frühling diesen Duft.“ „Weiße Blumen, als habe sich eine weiße Wolke auf die Erde gesenkt.. Und immer wieder das Meer, das ägäische Mare nostrum: die tausendfach verschiedenen Farbtöne von Blau, das Glitzern der Kiesel im Wasser.
Und die Menschen: Panos Valyanos – der beste Fischer weit und breit. Hat allen das Fischen beigebracht. Ohne ihn wäre das Meer kein Meer, die Insel keine Insel, der Fisch kein Fisch. Da ist Stavros, der Meister der Angel und der Harpune. Rais Yani, der alle Steine im Meer kannte, der es anbetete und der die Sprache der Fische sprach. Yordanis Güzeloglu, der einfüßig aus dem Krieg heimkehrte, aber sein Lächeln nicht verloren hatte, der sogar über den verloreren Fuß ein Lied singen konnte.
Lena Papazoglu, einstmals besungen und gerühmt: Heute ist eine alte gebeugte Frau mit hohen Wangenknochen und geschlitzten Augen.
Hadschi Remzi Bey, der dem Perikles Karagüloglu sein Hab und Gut abkaufen wollte – die goldrandigen Teller, die Kelims und die Sessel und vor allem sein Boot. „Und wenn Du es mir nicht verkaufen willst, lasse ich Deiner Tochter Gewalt antun.“ Und das obwohl Perikles ihm einst das Leben gerettet hatte.
Die menschliche Triebfeder der Habgier: auch hier wiederholt sich Geschichte der ewigen Profiteuere von Vertreibungen.
Vasili Einsamkeit wird immer wieder heimgesucht von grauenerregenden Kriegserinnerungen: die Kaukasusfront des Ersten Weltkriegs mit der Schlacht von Sarikamis.
Kampf der Bajonette, Blutbesudelte unter Leichenbergen, Granatfeuer, aus dem Feuer Fliehende. Und immer wieder die 10.000 erfrorenen Soldaten der Allahuekber-Berge. Ein Wald der Schnee- männer. Ein Bild, das sich durch die Retina des Lesers in seinem Gehirn abspeichert.
Auch Musas kriegerische und räuberische Vergangenheit wird thematisiert. Er jagte mit seiner Einheit Jesiden, raubte und plünderte, watete in einem Meer von Blut. Abgeschnittene Brüste von Jungfrauen im Wüstensand, Euphrat und Tigris sind keine Wasserläufe mehr, sondern blutige Leichenflüsse. Jesiden waren schon damals ein Fremdkörper im „Volkskörper“. Auch hier wiederholt sich die Geschichte. Oder ist die Vertreibung und Mordung der Jesiden durch den IS schon wieder aus dem kollektiven Gedächtnis entschwunden?.
Musa wurde bei einem Überfall auf Beduinen verwundet und von einem Emir aufgenommen und gepflegt. Einem Emir eines mächtigen und großen Stammes, der den Legenden aus 1001er Nacht entsprungen zu sein scheint. Obwohl selbst sunnitischer Moslem, beschützt er die Jesiden: „Sie beten den Satan an? Wer hat den Satan oder Gott je gesehen? Ich habe Hochachtung vor ihrer Widerstandskraft, ihrem Glauben und ihrer Menschlichkeit. Sie töten nicht, sie ziehen nicht in den Krieg. Ich habe in Europa gelebt und fand hier bei ihnen die Wärme und Menschlichkeit, die ich suchte. Der Emir bot Musa an bei ihm zu bleiben, denn die Beduinen würden ihn verfolgen, jagen, töten. Zum Abschied übergab er ihm kostbare Geschenke, die Musa später das Leben auf der Ameiseninsel ermöglichten.
Er findet Ruhe und Heimat auf der Ameiseninsel mit Vasili, der alten Lena und Kapitän Kadri und dessen Mutter. Kadri, der mit sieben Jahren als Lehrling bei Panos, dem besten Fischer, begann. Der schenkt ihm sein Boot mit notarieller Urkunde.
Ein Roman mit Happy end also? Ein stilisiertes Paradies?
Der Roman ist orientalisch ausschmückend, voller wundersamer Bilder, die im Kopf bleiben. In langen Passagen und langen Weilen erfühlen wir das Glück der Natur, in Düften und Farben, lebensprall, zartblütig. Die Gegenüberstellung menschengemachter Grausamkeit und der Natur: „Die Schönheit der Welt ohne Menschen. Sollte es der Mensch sein, durch die sie hässlicher und schmutziger wird? Aber ohne die Wärme eines Menschen wird die Welt eiskalt“.
Es ist ein politisches Buch voller Schönheit und Grausamkeit und zugleich eine Hymne auf das Leben.