Der Begriff Hysterie stammt von griechischen Wort für Gebärmutter „hystera“, da man früher glaubte, dass die Symptome der Überspanntheit, Stimmungslabilität und emtionaler Ausbrüche eine Erkrankung der Frauen war, die keine oder länger keine Kinder geboren haben. Somit wurde die Hysterie als rein weibliches Leiden deklariert, das behandelt werden muss. Am besten mittels „eines kleinen Eingriffs“.
Die Geschichte wird als Ich-Erzählung aus der Sicht Merets, einer jungen Krankenschwester erzählt, die in ihrer Klinik mit Menschen, überwiegend Frauen arbeitet, die sich aufgrund einer psychischen Störung einem operativen Eingriff unterziehen müssen. Dieser relativ neue Eingriff ist notwendig, da ihr psychisches Verhalten auffällig ist und nicht der gewünschten, gesellschaftlichen Norm entspricht. Sehr einfühlsam lernt man zunächst Meret und ihr Leben, das fast überwiegend von Arbeit bestimmt und geprägt ist, kennen. In Rückblenden wird von Merets Familie erzählt, die der Grund dafür sind, warum sich Meret in der strengen Hierarchie des Krankenhauses wohl fühlt. Denn einst waren es die Stimmungsschwankungen und gewalttätigen Wutanfälle des Vaters, die das Familienleben bestimmten und die Familie – mit Ausnahme ihrer Schwester Bibiana – stoisch erträgt.
Meret geht auf in ihrem Beruf und schafft es durch ihr persönliches Interesse und Engagement die Aufmerksamkeit des Chefarztes zu erregen, der ihr fortan wichtigere Aufgaben anvertraut und ihr lästige Pflichten abnimmt. Meret wird seine Assistenz, sie ist während der Eingriffe an den wachen Patienten mit im OP und sorgt für Ablenkung der Patienten und Steuerung des Arztes durch das richtige Areal des Gehirns. Sie ist motiviert und von der Notwendigkeit der Eingriffe überzeugt, die den Patienten danach ein gesellschaftlich integriertes Leben ermöglichen.
Im Verlauf baut Merle ein engeres Verhältnis zu ihrer Patientin Marianne Ellerbach auf, einer Tochter aus gutem Haus, die aufgrund von nur sehr grob skizzierten Aggressionsproblemen ebenfalls operativ behandelt werden soll. Doch Marianne macht sich Sorgen, bei dem Eingriff einen Teil ihrer Persönlichkeit zu verlieren. Als dann auch ausgerechnet ihr Eingriff Komplikationen nach sich zieht, kommen Meret zunehmend Zweifel am Verfahren.
Im Laufe der Geschichte verliebt sich Meret in ihre neue Zimmerkollegin Sarah, die mit ihr das Zimmer im Schwesternwohnheim teilt. Hier erlebt sie nicht nur erstmals eine befreiende, wenn auch streng geheim zu haltende Liebe, sie lernt auch eine völlig andere Sichtweise auf ihre Tätigkeit kennen und beginnt über ihre Leben und ihren Beruf nachzudenken. Denn Sarah macht ihr klar, dass ihre Liebe ebenso krankhaft gewertet werden würde, wie die hysterischen Symptome der Patienten.
In diesem Roman geht es immer wieder um Frauen und Rollenbilder. Solange Frauen der gesellschaftlichen Norm entsprechen ist alles gut. Eine Frau, die ein anderes, nicht angepasstes und gesellschaftlich erwünschtes Verhalten an den Tag legt wird pathologisiert und muss behandelt werden. Meret wünscht sich zunächst Stabilität und Normalität, ihre aufsässige, wilde und selbstbestimmte Schwester, die mit den Wutanfällen des Vaters spielt, stört sie. Sie wünscht sich Bibiana angepasster. Erst als Meret durch die Liebe zu Sarah und den Kontakt zu Marianne erkennt, dass es das Selbst ist, das man aufgeben muss, um der sozialen Norm zu entsprechen, beginnt sich Widerstand in ihr zu regen.
Die Geschichte spielt im eigenen Kosmos, dem Krankenhaus und dem Schwesternwohnheim, in dem Meret und Sarah leben. Durch das kammerspielartige werden die engen Grenzen, in denen sich die Frauen bewegen deutlich wieder gespiegelt. Beklemmend und intensiv liest sich das Buh, das in drei Abschnitte geteilt ist, überschrieben mit den Namen der Protagonisten Meret, Sarah und Marianne. Ich habe es sehr intensiv empfunden, sprachlich auf den Punkt ohne viel Dekoration. Vieles bleibt im Nebel, wie z.B. Ort und Zeit der Handlung, sowie genaue Abläufe im Krankenhaus.
Die Liebesgeschichte zwischen Meret und Sarah nimmt einen großen Teil der Handlung ein, was ich mir etwas kürzer gewünscht hätte und dafür mehr Reflexionen, die Meret nach den ersten Auseinandersetzungen mit Sarah hat.
Und auch wenn mir das Buch insgesamt gut gefallen hat, hätte ich gerne noch etwas mehr Details gehabt und weniger Fragmente.
Nichts desto trotz ist das Buch im Hinblick auf Themen wie selbstbestimmtes Leben, Emanzipation, Identität und Sexualität sehr aktuell und definitiv lesenswert!