Vor Kurzem wurde bekannt, dass der Haitianische Präsident Jovenes Moïse in seinem Haus erschossen wurde. Leser:innen des packenden Romans Sanfte Debakel von Yanick Lahens dürften davon nicht allzu überrascht sein und tatsächlich auch die Meldung von „spanisch sprechenden Angreifern“ zumindest in Zweifel ziehen. Welches Gewaltpotential, welches rücksichtslose Machtstreben und welche Menschenverachtung inmitten von Teilen der haitianischen Gesellschaft herrscht, wie hilflos ihnen die Bevölkerung ausgesetzt ist und wie wenig greifbare Hoffnung zur Zeit herrscht, das macht die 1953 geborene Autorin, die zu den wichtigsten intellektuellen Stimmen des Landes gehört, eindrücklich deutlich.
Im Mittelpunkt ihres vielstimmigen Romans steht die Entführung, Folterung und Ermordung von Richter Raymond Berthier. Im Rahmen seiner Ermittlungen ist er an Informationen gelangt, die gewissen Kreisen gefährlich werden könnten. Da er unbestechlich war, musste er beseitigt werden. Seine Tochter, die Sängerin Brune leidet sehr unter dem Tod ihres Vaters und zusammen mit ihrem Onkel Pierre stellt sie eigene Nachforschungen an. Währenddessen arrangiert sich ihr Geliebter, der junge ehrgeizige Anwalt Cyprièn, einst Schüler Berthiers, mit den Mächtigen und Einflussreichen.
In ihrem Freundeskreis bewegen sich noch Ézechiel, Marxist, Poet und mit reichlich revolutionären Gedanken ausgestattet; Waner, erklärter Pazifist; und der französische Journalist Francis, der sich für eine Reportage in Haiti aufhält und im Land herumreist. Sie alle lässt Yanick Lahens in Sanfte Debakel aufeinandertreffen, essen, feiern, debattieren. Dabei wechselt sie recht eigenwillig die Perspektiven. Jedes Kapitel ist einer der Personen gewidmet und der Text springt oft von Satz zu Satz von der Ich- in die Er/Sie-Perspektive und zurück. Das fordert ein wenig Eingewöhnungszeit, entfaltet dann aber einen ganz eigenen Sog.
Überhaupt entwickelt der Roman eine ungeheure Spannung. Denn da ist auch noch Joubert, der sich als Auftragskiller betätigt und wohl auch hinter der Ermordung des Richters steckt. Er steht in lockerem Kontakt zu Ézechiel und kommt dadurch der Freundesgruppe nahe.
Yanick Lahens macht deutlich, dass im heutigen Haiti gnadenlos das Recht des Stärkeren herrscht. Machtbesessene Politiker:innen und kriminelle Banden teilen die Pfründe der Insel unter sich auf und schrecken buchstäblich vor nichts zurück. Korruption, Misswirtschaft, dazu die das Land regelmäßig heimsuchenden Naturkatstrophen, wie das große Erdbeben im Januar 2010, das vermutlich über 300.000 Menschen das Leben kostete und die Infrastruktur weitgehend zerstörte, stürzen die Bevölkerung in Armut und Elend.
„Jeder bediente sich, wie er es brauchte. Wie er lustig war.“
Die Regierung kann weder Grundversorgung noch Sicherheit garantieren. Mittlerweile ist ca. ein Drittel der Bevölkerung auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen, die steigende Inflation und Nahrungsmittelknappheit treiben die Leute auf die Straße. Die Regierung ist tatenlos, auf Machterhalt fixiert, seitdem die Wahlen von 2019 verschoben wurden, gibt es sie faktisch gar nicht. Gewalt und deren Straflosigkeit regieren in den Straßen. Wo das Gesetz des Stärkeren herrscht, ist Misogynie nicht weit.
„Wer keine Macht hat, existiert nicht. Und wer nicht existiert, spricht nicht. Und wenn er spricht, wird er dorthin geschickt, wo die Würmer seine Zunge fressen.“
Diese Zusammenhänge macht Yanick Lahens in Sanfte Debakel klar. Sie vergisst aber auch nicht die hellen Seiten ihrer Heimatinsel, die Liebe zu Musik, gutem Essen. Das alles ergibt ein facettenreiches Gesellschaftsporträt. Das Ende lässt nicht viel Hoffnung für das Land. Hoffnung besteht aber dafür, dass Yanick Lahens endlich auch in Deutschland bekannter wird und ihr mit dem Prix Fémina ausgezeichneter Roman Bain de lune nun auch ins Deutsche übersetzt werden wird.