Rezension zu "Zug der Fische" von Yaroslava Black
Marika wohnt in einem kleinen Dorf in den Karpaten. Ihre Eltern hat sie schon seit langem nicht mehr gesehen. Auch in diesem Jahr wird sie das Weihnachtsfest ohne ihre Mutter, allein mit der Großmutter verbringen müssen. Ihre Mutter arbeitet in einem fernen Land namens Italien. Regelmäßig schickt sie Geld, um das tägliche Leben zu erleichtern. Den anderen Kindern im Dorf geht es ähnlich. Sie erhalten zu Weihnachten einen Geldschein für notwendige Anschaffungen, können ihre Eltern jedoch nicht in die Arme schließen. Am Weihnachtstag schreiben alle Kinder des Dorfes diesen Herzenswunsch auf einen erhalten Geldschein und werfen ihn in den Fluss. Dort verwandeln sich die bemalten Scheine in glänzende blaue Fische, welche die Sehnsucht der Kinder an ihre Eltern überbringen.
Ausdrucksstarke, farbige Illustrationen begleiten und erweitern den Text. Für die Zeichnungen wurden bunte Fettstifte verwendet. Sie wirken ohne dunkle Konturen von Flächen sehr einfach, fast kindlich und erleichtern Kindern damit den Zugang zu diesem schwierigen, sehr komplexen Thema. Je eine Doppelseite enthält eine Szene. Manche Seiten sind vollflächig illustriert. Die Texte integrieren sich harmonisch in die gesamte Bildgestaltung. Mit relativ wenigen Sätzen wird das bescheidene Leben von Marika in einer schlichten aber sehr informativen Geschichte beschrieben.
Marikas Dorf steht für eines von vielen in der Ukraine, Rumänien, Bulgarien, Polen, Estland, Lettland, Litauen, Tschechien, Slowakei, Ungarn oder Slowenien. Auf der Suche nach besser bezahlten Jobs haben sich zahlreiche Menschen aus diesen Ländern auf den Weg nach Westen begeben. Als Arbeitsmigranten verdingen sie sich u.a. als Schlachter, Putzfrau, Pflegerin, Bauarbeiter oder Klempner. Sie übernehmen die schlechtbezahlten Jobs in Deutschland, Großbritannien, Italien oder Österreich. Das mühsam verdiente Geld wird gespart und nach Hause geschickt, damit das materielle Wohl der Familie und vor allem der Kinder gesichert ist. Obwohl diese Kinder Eltern haben, wachsen sie wie Waisen bei Großeltern, Verwanden oder Nachbarn auf. Nicht selten müssen sich ältere Kinder um ihre jüngeren Geschwister kümmern und werden damit viel zu früh in die verantwortungsvolle Rolle eines Erwachsenen gedrängt.
In einem aufrüttelndem Nachwort macht der Journalist Keno Verseck nicht nur auf die komplexe Situation von Arbeitsmigranten aufmerksam, sondern veranschaulicht sehr deutlich die emotionalen Konflikte der sogenannten „Eurowaisen“. Kindern, die innerlich zerrissen zwischen dem rationalen Verständnis für die finanzielle Situation und der starken Sehnsucht nach ihren Eltern allein aufwachsen müssen.
Dieses großartig illustrierte Bilderbuch macht auf ein tiefgreifendes gesellschaftliches Problem aufmerksam, über welches niemand spricht. Lehrern und Behörden ist die Situation der Kinder bekannt, aber weder Eltern noch Kinder sprechen diese Thematik an. Und in den westlichen Ländern der EU wird den sogenannten „Eurowaisen“ zugunsten ökonomischer Effektivität, fairem Handel und Klimadebatten keine Aufmerksamkeit geschenkt. Generationen von Kindern wachsen ohne Eltern auf – ein emotionaler Schaden dessen Folgen die Gesellschaft über eine sehr lange Zeit tragen wird.
Ein Bilderbuch das Emotionen aufwühlt und einen Konflikt aufzeigt, der noch nicht einmal von den Betroffenen thematisiert wird.