Cover des Buches Die Sterblichen (ISBN: 9783446234215)
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Rezension zu Die Sterblichen von Yiyun Li

Rezension zu "Die Sterblichen" von Anette Grube

von dzaushang vor 14 Jahren

Rezension

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dzaushangvor 14 Jahren
China zur Zeit des „Pekinger Frühlings“, Ende der Siebziger Jahre. In der kurzen Zeitspanne 1977/78 hat die Bevölkerung die Möglichkeit, öffentlich Kritik an der Regierung zu üben. In Frage gestellt und kritisiert wird insbesondere die Zeit der Kulturrevolution. Veröffentlicht wird die Kritik an der sogenannten „Mauer der Demokratie“ in Peking. Aktivisten der damaligen Demokratiebewegung verbreiten hier mit Hilfe von Wandzeitungen ihre Ideen, unter anderem werden hier erstmals auch Forderungen nach mehr individuellen Freiheiten veröffentlicht. Schon Ende 1979 wird die Mauer „geschlossen“, zeitgleich wird die Demokratiebewegung durch Verhaftungen unterdrückt. Vor diesem, in „Die Sterblichen“ nur angedeuteten, zeitgeschichtlichen Hintergrund, entwickelt Yiyun Li die verschiedenen Handlungsstränge des Romans. Er beginnt, exakt datiert, am 21.März 1979. Gu Shan, was übersetzt interessanterweise soviel bedeutet wie „Berg der Einsamkeit“, eine ehemals linientreue, berühmt-berüchtigte Parteigenossin, die viele Menschen ins Unglück gestoßen hat, wird an diesem Tag, als Konterrevolutionärin der schlimmsten Sorte, exekutiert. Nicht wegen ihrer menschenverachtenden Taten im Dienste der Partei, nein, sondern weil sie, die Achtundzwanzigjährige, angefangen hat daran zu zweifeln, ob der Weg der Partei der richtige Weg ist. Für die Menschen in der Provinzstadt, fern von Peking, wird dieser Tag zu einer Art Volksfest. An verschiedenen Orten in der Stadt werden sogenannte Denunziationsveranstaltungen vor der eigentlichen Hinrichtung durchgeführt, an der die Bewohner, vom Kindergartenalter an eingebunden in die unterschiedlichsten Kollektive, teilzunehmen haben. Die schon halbtote Gu Shan wird, um allen als abschreckendes Beispiel präsentiert werden zu können, von einem dieser Orte zum nächsten quer durch die Stadt geschleift, ehe sie dann endlich, zuvor noch einiger ihrer Organe beraubt, vor den Toren der Stadt erschossen wird. Damit scheint alles erledigt zu sein. Aber einigen Menschen kommen Zweifel am Tod von Gu Shan, andere bringen den Keim der Hoffnung auf bessere, menschenfreundlichere Zeiten aus der fernen Hauptstadt mit und finden jede Menge weiterer, zumeist stiller, angsterfüllter Sympathisanten. Plötzlich tauchen gar regierungsfeindliche Flugblätter auf. Die lokalen Parteioberen sind zumindest verunsichert über das, was in Peking offenbar geschieht, schicken Abgesandte in die nächst größere Stadt um die Lage und weiteres Vorgehen zu besprechen. Kann es sein, das man die Partei, ihre Anordnungen und Entscheidungen tatsächlich ungestraft kritisieren darf, bricht ein neues, unangenehmeres Zeitalter für die Oberen an? Oder können sie es doch noch schaffen den Kopf wieder aus der Schlinge zu ziehen? Um diese kurze Zeitspanne des Machtvakuums dreht sich der ganze Roman, meisterlich beschreibt er die Sorgen und Ängste aber auch die Hoffnungen und Wünsche der Menschen, lässt kleinere und größere Helden des Alltags aus den unterschiedlichsten Schichten der Gesellschaft auferstehen, lässt aber auch Familien zerbrechen und Verdächtigung, Neid und Hass regieren. Eine nahezu bedrückende Stimmung macht sich breit, wenn von diesen Schicksalen berichtet wird. Manche begleiten den Leser ausführlich über den ganzen Roman hinweg, manche tauchen nur für einen kurzen Absatz, mit zwei, drei Sätzen umschrieben, aus den Tiefen der Masse auf, wie Fische, die kurz aus dem Wasser schnellen um nach Luft zu schnappen und dennoch entdeckt der Leser darin ein ganzen Leben gespiegelt. Es erschüttert zutiefst vom Vater Gu Shans zu hören, wie er sich fragt, ob es richtig war, seiner Tochter das Lesen beizubringen, ob es richtig war ihr das selbstständige Denken beizubringen. Hätte sie nicht lesen gelernt, hätten die Parolen der Kulturrevolution sie nicht verführen können. Hätte sie nicht das selbstständige Denken erlernt, hätten ihre Zweifel nicht ihr Schicksal besiegelt. Eine chinesische Weisheit besagt: „Erhaltet einander am Leben mit eurem Wasser“. Denn einmal strandeten zwei Fische, Mann und Frau, in einer Pfütze. Beide schluckten sie daraufhin so viel Wasser wie möglich, ehe die sengende Sonne die Pfütze austrocknete, sodass sie einander während des langen Leidens vor dem sicheren Tod am Leben erhalten konnten, indem sie einander Wasser gaben. Das chinesische Schicksal, in diesem Roman, und bis auf den heutigen Tag auch in der Wirklichkeit – viel besser lässt es sich wohl kaum auf den Punkt bringen.
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