Cover des Buches Glückseligkeit (ISBN: 9783608937923)
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Rezension zu Glückseligkeit von Zülfü Livaneli

Rezension zu "Glückseligkeit" von Zülfü Livaneli

von Clari vor 16 Jahren

Rezension

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Clarivor 16 Jahren
Zülfü Livaneli Glückseligkeit Klett-Cotta ISBN 3608937927 Die Türkei zwischen gestern und morgen. Mit einem bedrückenden Szenario beginnt der Roman über verschiedene Gesichter türkischen Lebens heute. Meryem, deren Mutter bei ihrer Geburt gestorben ist, wird im Alter von 15 Jahren von dem Scheich ihres ostanatolischen Dorfes vergewaltigt. Weit entfernt davon, irgendwelche Rechte einklagen zu können, erwartet sie ein bedrohliches Schicksal. Zur gleichen Zeit gibt sich ihr Vetter Celem den Träumen über eine verheißungsvolle Geschichte hin: sie handelt von einer unschuldigen Braut und kursiert unter den Soldaten, die in den Bergen gegen Anhänger der PKK kämpfen. Kurden und Türken bekriegen sich heftig, und die Gegenüberstellung zwischen Celem und seinem einstigen kurdischen Jugendfreund zeigt krass die landesinternen Konflikte zwischen gegensätzlichen Bevölkerungsgruppen. In Istanbul wird Irfan Kurudal, Professor an der Universität von Istanbul, von heimtückischen Ängsten verfolgt, die an eine Lebenskrise des mittleren Lebensalters gemahnen. Alle drei Protagonisten zeichnet eine Gemeinsamkeit aus: sie leben in einem Land, in dem hierarchische, archaische und mit Aberglauben vermischte Gewohnheiten zur Tradition gehören. Die Unterdrückung sexueller Bedürfnisse und vermeintliche weibliche Abgefeimtheit im Kontrast zu männlicher Überlegenheit und Herrschaft bestimmen den Alltag. Wilde Fantasien beflügeln das Verhalten von Männern und Frauen. Selbst der westlich gebildete und von einem Auslandstudium heimgekehrte Professor ist ängstigenden Fantasien ausgesetzt, die ihn zur Ohnmacht gegen ein mächtiges Geschick verdammen: er fürchtet seinen nahenden Tod! Indem der Autor die Lebensläufe der aus unterschiedlichen Kulturkreisen entstammenden Protagonisten thematisiert, wird die heutige Türkei aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet. Sowohl die ländlich- schlichte Bevölkerung als auch das an westliche Lebensformen angelehnte Verhalten der Menschen in Istanbul bieten Einblicke in die Zerrissenheit türkischer Lebensart. Aufklärung steht gegen anachronistische Tradition und Herkommen, Bildung kontra Analphabetentum. Der mit dem Leben hadernde Soziologieprofessor hat den Durchblick, mit dem er ein schwankendes Gesellschaftsbild heraufbeschwört: in ihm sieht er die alten Werte östlicher und islamischer Vergangenheit dahinschwinden, ohne dass sich mit der Annäherung an den Westen ein neues Wertesystem entwickeln konnte. Die Gesellschaft hat ihre Bezugspunkte verloren und ist damit ihrer Wurzeln verlustig gegangen. Irfan Kurudal, aus armen Verhältnissen in die reiche Gesellschaft Istanbuls aufgestiegen, wird mit seinen Reflexionen zum Prototyp des aufgeklärten, aber an sich und seiner Kultur verzweifelnden Türken. Was zunächst als deutlich realistische und vorstellbare Handlung beginnt, das entwickelt sich zu einem breit angelegten Schmöker. Die Lebensgeschichte der drei führt sie am Ende zusammen, und gespannt folgt man ihren Abenteuern. Verpackt in die märchenhafte Handlung wird die gegensätzliche Gesellschaftsstruktur mit ihren unterschiedlichen Gewohnheiten, Glaubensvorstellungen, mit Rückständigkeit und Fortschritt zu einem glanzvollen Stück türkischer Alltagsgeschichte. Zülfü Livaneli schreibt atmosphärisch anspruchsvoll und eindringlich. Er kennt sich aus und hat den emanzipatorischen Anspruch, mit seiner Schilderung immanente Wünsche an eine gleichberechtigte und aufgeklärte Gesellschaft zu verknüpfen. Zugleich machen seine Beschreibungen deutlich, dass die Gegensätze in der türkischen Gesellschaft noch lange nicht behoben sein werden. Der Autor gilt als aufgeklärt und liberal und musste aufgrund seiner politischen Einstellung einige Jahre im Exil verbringen.
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