In diesem Buch, das letztes Jahr den Schweizer Buchpreis gewonnen hat, geht es um einen autofiktionalen Stoff, um den viel zu früh verstorbenen, verunfallten Vater, den die Autorin bereits mit acht Monaten verloren und so nie kennengelernt hat.
Aus dieser Situation ergeben sich zwei Kernfragen: wie lebt der Täter (von der Autorin „Töter“ genannt) mit seiner Schuld? Und welche Auswirkungen hatten dieser frühe und plötzliche Tod, die Vaterlosigkeit auf die Erzählerin?
Schon der Titel „Seinetwegen“ ist dabei durchaus zweideutig zu verstehen. Zum einen weist er auf den Vater, zum anderen auf den Töter (in Abgrenzung zu einem Mörder) hin, und damit auch auf die Komplexität des Buches, dass eher ein Memoir denn ein Roman ist.
Letzteres ist nichts, was mich abschreckt – im Gegenteil, ich lese gerne Memoirs, weil sie in der Regel zum Nachdenken anregen und universelle Themen wie Identität, Liebe, Elternschaft, Verlust, Schuld usw. behandeln. So ist es auch hier.
Die Herangehensweise, in der die Autorin uns quasi von ihrer Recherche erzählt, statt von den Geschehnissen direkt, und dies mit Gesprächen in einem Café mit ihren Freunden in Berlin abwechselt, schafft eine gewisse Distanz, bedingt sachbuchähnliche Einschübe wie Statistiken oder Untersuchungsergebnisse, und ist somit weniger für Leser geeignet, die sich gerne mit den Protagonisten eines Buches identifizieren möchten.
Persönlich fand ich den Aufbau des Buches besonders interessant, da diese umkreisende Entwicklung des Stoffes vom üblichen autofiktionalen Schreiben abweicht, eher ausgefallen ist, und die inneren Konflikte sowohl eindrücklich als auch sehr authentisch darstellt.
Der Schreibstil ist dabei so bildhaft, dass sehr leicht filmische Bilder im Kopf entwickelt werden können und stellenweise durchaus Sog entsteht, es gibt auch poetische Stellen.
Gleichzeitig liegt auch meine Kritik aber leider in diesem etwas mäandernden Gedankenfluss, der nicht immer in der Lage ist, die Spannung oder Atmosphäre so zu halten, wie ich es mir gewünscht hätte. Manchmal gingen mir zu viele Themen durcheinander. Aids, Demenz, Alltagsrassismus oder auch Autowahnsinn/Oldtimertreffen, Hundehaltung wechseln ab mit der elterlichen Liebesgeschichte oder Kindheitserfahrungen, ohne dass der Bezug immer deutlich wird.
Insgesamt überwiegt aber das Positive, das für mich vor allem aus literarischer Qualität und thematischer Relevanz sowie in der subtilen Gesellschaftskritik besteht, die aktuelle Themen und Herausforderungen anspricht, ohne zu dozieren.
Es gelingt der Autorin einfühlsam zu sein, ohne zu viel Sentimentalität oder gar Kitsch einzubringen. Besonders nett fand ich auch die Einschübe schweizerischer Sprache und Begriffe, die immer passend und interessant platziert waren.
Fazit: Seinetwegen ist ein interessantes Buch für Alle, die gerne autofiktional lesen, Memoirs oder Essays nicht scheuen und von einem guten Buch vor allen Dingen zum Nachdenken angeregt werden möchten. Wer sich für Psychologisches, aktuelle Themen, die schweizerische Geschichte und den Alltagsrassismus (Stichworte Gastarbeiter/Verdingkinder) interessiert, wird hier glücklich werden, wer stringente Plots und emotionale Geschichten, die Möglichkeit zur Identifikation sucht, sollte eher woanders schauen. Auch muss man durch ein paar Längen und Statistiken durch.
Für mich hat sich das Buch trotzdem gelohnt, und ich habe eine neue Autorin auf dem Zettel, die ich noch weiter belesen möchte.