Aischas avatar

Aischa

  • Mitglied seit 22.06.2017
  • 101 Freund*innen
  • 725 Bücher
  • 661 Rezensionen
  • 682 Bewertungen (Ø 3,98)

Rezensionen und Bewertungen

Filtern:
  • 5 Sterne256
  • 4 Sterne218
  • 3 Sterne153
  • 2 Sterne51
  • 1 Stern4
Sortieren:
Cover des Buches Geordnete Verhältnisse (ISBN: 9783446279551)

Bewertung zu "Geordnete Verhältnisse" von Lana Lux

Geordnete Verhältnisse
Aischavor 3 Stunden
Kurzmeinung: Entwicklung einer toxische Beziehung, die unter die Haut geht - gruselig und leider dennoch sehr realistisch
Und wieder einmal weggeschaut

Die Geschichte beginnt so hoffnungsvoll: Zwei Außenseiter, beide rothaarig und voller Sommersprossen, werden als Grundschüler zu Freunden, unterstützen sich und führen als junge Erwachsene eine Liebesbeziehung. Doch wer genau hinsieht, kann schon früh Anzeichen dafür entdecken, dass die Beziehung der beiden nie auf Augenhöhe ist. Phillip wünscht sich zwar nichts sehnlicher, als endlich nicht mehr allein auf dem Pausenhof zu sein, und so kümmert er sich intensiv um die neue Mitschülerin Faina, die frisch aus Russland zugezogen ist und zunächst auch niemanden an ihrer Seite hat. Doch Phillip ist nicht nur helfend, sondern auch extrem fordernd, er will seine neu gewonnene Freundin nach seinen Vorstellungen formen. Es kommt zum Bruch - und dennoch sucht Faina in einer Notsituation nach Jahren ausgerechnet wieder bei Phillip Hilfe. Zwei verkrachte Existenzen, jede auf ihre Weise, versuchen erneut, sich gegenseitig zu stützen. Nach außen dringt von den Schwierigkeiten nur wenig, sie leben "in geordneten Verhältnissen", auch wenn die Beziehung hinter der Fassade alles andere als gesund ist.

Lana Lux erzählt die Geschichte zunächst aus Phillips, dann aus Fainas Sicht, und beide Protagonisten sind nicht die zuverlässigsten Zeugen ihrer eigenen Story. Man wirft als Leser*in unweigerlich im Fortgang der Handlung bereits gefasste Meinungen wieder über Bord, da neue Perspektiven völlig andere Interpretationen zulassen. Für mich ein erfrischend neuer Hinweis auf die abgedroschene, aber deswegen nicht weniger wahre Phrase, alles habe zwei Seiten. Nicht ganz glücklich bin ich mit dem Dritten Teil, der mit Faina und Phillip überschrieben ist. Denn hier nutzt die Autorin zunehmend Fainas innere Monologe, um der Leserschaft etwas zu erklären, die gespreizte Gedankenwelt empfand ich oft als aufgesetzt, nicht authentisch. Das Befolgen der guten alten "Show, don´t tell"-Regel hätte dem hier Text gut getan.

Davon abgesehen ist der Roman sehr eingängig geschrieben, die Handlung steuert rasant und zunächst unterschwellig, schnell aber offensichtlich auf ein unheilvolles Finale zu. Lux analysiert, ohne jedoch zu viel zu bewerten oder gar Schuldzuschreibungen zu formulieren. Wenn überhaupt, dann gilt ihre Kritik nicht Einzelnen, sondern der Presse, die manchmal Verbrechen in eine Schublade steckt, ohne ausreichend zu recherchieren, sowie der Gesellschaft, die leider viel zu oft wegschaut. Also: Bitte lest das Buch und/oder kümmert euch um eure Freund*innen, Nachbarn und Kolleg*innen, fragt nach und hört zu!

Cover des Buches Hier fließt die Liebe. Persische Küche (ISBN: 9783710607806)

Bewertung zu "Hier fließt die Liebe. Persische Küche" von Forough Sodoudi

Hier fließt die Liebe. Persische Küche
Aischavor 2 Tagen
Kurzmeinung: köstliche Gerichte, traumhaft garniert - mein neues Lieblingskochbuch, unbedingte Empfehlung von mir!
Ein Fest für die Sinne!

Was für ein großartiges Buch! Seit es Einzug in mein Küchenregal gehalten hat ist es umgehend zu meinem aktuellen Lieblingskochbuch avanciert, und das, obwohl ich mehrere Dutzend guter Kochbücher besitze.

Die Rezepte, die die persischstämmigen Zwillingsschwestern hier vorstellen, sind einfach phänomenal. Ob frische Salate, raffinierte Mezze, außerordentlich schmackhafte Hauptgerichte oder fantastische Desserts - jedes Gericht vereint typisch persische Zutaten und Aromen und ist überdies so hübsch angerichtet, dass es ein wahrer Augenschmaus ist.

Nicht alle Rezepte sind für Anfänger geeignet, und für die meisten Leckereien muss man schon etwas länger in der Küche stehen, aber das Ergebnis lohnt die Mühe in jedem Fall! Ob man Gäste mit einem Mehrgänge-Menü verwöhnen möchte oder sich selbst ein orientalisches Gericht zaubert, Genuss ist garantiert. Ich bin einfach nur begeistert vom Juwelenreis mit Tahdig, der golden-knusprigen Kruste, und von "Kottlet", aromatischen Frikadellen mit Koriander und Kurkuma, kann ich gar nicht genug bekommen. 

Zutaten und Angaben zur Zubereitung sind übersichtlich angeordnet, die Fotos einfach nur wunderschön, eine wahre Einladung zum Genuss.

Neben den Gerichten geben die Sodoudi-Schwestern auch Einblicke in ihre Kindheit im Iran und erzählen in wundervoll bebilderten Geschichten von der faszinierenden persischen Kultur. Zweisprachige Register, ein Glossar und die Playlist mit persischen Songs runden das hochwertige Hardcover ab. Die Autorinnen brennen nicht nur selbst für die vielfältige Kulinarik Persiens, sondern haben auch dieses Buch mit Leidenschaft und Herzblut verfasst. Beide Daumen hoch, meine uneingeschränkte Empfehlung!

Cover des Buches Hotel Amerika (ISBN: 9781546603344)

Bewertung zu "Hotel Amerika" von Maria Leitner

Hotel Amerika
Aischavor 8 Tagen
Kurzmeinung: reichlich angestaubter Klassiker, nach wie vor gültige Sozialkritik, leider in sehr sprödem Stil verfasst, habe mich durchgequält
Angestaubte Sozialkritik

Angeregt durch eine Leserunde wurde ich auf diesen 1930 erstmals veröffentlichten Roman aufmerksam. "Hotel Amerika" gilt vielen als Klassiker, zudem kam er 1933 auf die nationalsozialistische Liste der zu verbrennenden Bücher gesetzt.

Ausreichend Gründe für mich, mich neugierig an die Lektüre zu machen. Aber was für eine Enttäuschung! An vorderster Stelle möchte ich hier den Stil nennen, über weite Strecken trocken und spröde konnte mich die Erzählung so gar nicht packen, auch die Charaktere vermochten nicht wirklich zu fesseln. Teils erinnerten mich die Kapitel an einen Aufsatz einer nur mittelmäßig begabten Schülerin, teils an eine nüchterne Reportage. 

Dabei hätte man aus dem Plot so viel mehr machen können. Die Geschichte spielt an einem einzigen Tag in einem Luxushotel im New York der späten 1920er. Die Hochzeitsfeierlichkeiten der Tochter eines reichen Zeitungsmagnaten will deren zwielichtiger Ex-Liebhaber nutzen, um den Vater der Braut zu erpressen. Doch es steht weniger dieser Kriminalfall im Fokus als das Anprangern sozialer Missstände. Hier zeigt Leitner zwar deutlich die unmenschliche Ausbeutung des Hotelpersonals auf, ebenso wie die unfassbare Dekadenz der reichen Gäste, deren Wohlstand oftmals auf Ausbeutung anderer beruht. Doch mögliche Auswege aus der Armut der Arbeiterschaft, wie die Organisation in Gewerkschaften oder Streiks werden im Roman zwar aufgezeigt und erklären die Gefahr, die die Nationalsozialisten in der Lektüre sahen, aber leider lässt Leitner keine ihrer Romanfiguren aus der Ausbeutung entkommen.

Ich habe der Geschichte ein paar nette Details zum Spannungsfeld zwischen armen Immigranten und reicher Elite in New York vor rund 100 Jahren entnommen, aber das ist viel zu wenig für einen guten Roman.

Cover des Buches Lil (ISBN: 9783406813757)

Bewertung zu "Lil" von Markus Gasser

Lil
Aischavor 11 Tagen
Kurzmeinung: sprachgewaltiger Pageturner, bei dem einem das Lachen manchmal im Hals stecken bleibt
Furioser Rachefeldzug

Bislang kannte ich Markus Gasser nur als Sachbuchautor, aber bereits in diesem Genre war mir seine Sprachvirtualität äußerst positiv aufgefallen. Doch auch mit seinem Roman über die titelgebende Lil Cutting, Angehörige des Geldadels und der New Yorker High Society Ende des 19. Jahrhunderts, konnte mich der österreichische Literaturwissenschaftler überzeugen.

Gasser bettet die Geschichte der taffen Lil, die so gar keiner Rolle entsprechen mag, die damals an eine Frau der höheren Gesellschaft gestellt wurde, in eine Rahmenhandlung ein, in der Lils nicht ganz so taffe Ururururenkelin Sarah sich mit der Familiengeschichte beschäftigt. Diese Brücke in die Gegenwart mochte ich vergleichsweise wenig, nicht zuletzt weil Sarah Zwiegespräche mit ihrer Dobermannhündin Miss Brontë führt oder sich auch mal Rosen zu Wort melden. Ich bin einfach generell kein Fan von Anthropomorphismen, hier ist es mir zu viel "Alice im Wunderland" und dann doch wieder zu realistisch, um als kafkaesk durchzugehen. Das sind jedoch Kleinigkeiten, wirklich gestört hat mich das Ende, in dem Gasser zu einem Seitenhieb auf die Psychiatrie an sich ausholt, wenig reflektiert und für mich nicht nachvollziehbar.

Davon abgesehen ist "Lil" wirklich gelungen: Der Roman bietet durchweg Spannung, ist extrem dicht, schnell und kurzweilig und spart nicht an Gesellschaftskritik. Lil wird durch eine Intrige ihres misogynen Sohnes gegen ihren Willen in einer psychiatrischen Klinik festgehalten, kann sich jedoch befreien und der sich anschließende Rachefeldzug ist gleichermaßen atemberaubend wie tragikomisch. Manche Figuren grenzen an Karikaturen und brachten mich immer wieder zum Schmunzeln, sieht man mal vom Ende ab, das doch etwas zu sehr mit Abstrusitäten vollgestopft ist.

Literatur- und Geschichtsfans mögen Spaß daran finden, möglichst viele der historischen und literarischen Bezüge und Zitate zu entdecken, die Gasser zuhauf in den knapp 240 Seiten unterbringt. Aber auch ohne überaus belesen zu sein kann "Lil" gut unterhalten.

Cover des Buches Lichtungen (ISBN: 9783608987706)

Bewertung zu "Lichtungen" von Iris Wolff

Lichtungen
Aischavor 15 Tagen
Kurzmeinung: zart, poetisch, experimentell - braucht aufmerksames Lesen
Rückwärts

An Iris Wolffs neuestem Roman fällt zunächst die ungewöhnliche Form auf: Die Liebesbeziehung zwischen der jungen Künstlerin Kato und Lev, ihrem Freund aus Kindestagen, wird nicht wie gewohnt chronologisch erzählt, sondern beginnt in der Gegenwart und führt von Kapitel zu Kaptitel rückwärts, weiter in die Vergangenheit. Beide sind als Rumäniendeutsche in Siebenbürgen aufgewachsen, haben den Wandel der sozialistischen Republik in einen diktatorisch-kommunistischen Staat erlebt, sind aber höchst unterschiedlich mit der 1990 plötzlich gewonnenen Freiheit umgegangen.

Der Roman ist mehr als eine Liebesgeschichte, nahezu nebenbei, fast unbemerkt erzählt Wolff von den Auswirkungen der großen Politik auf die kleinen Leute, vom Nuklearunfall im Atomkraftwerk Tschernobyl oder der im Rückblick reichlich skurril anmutenden Tatsache, dass die Bundesrepublik Deutschland Diktator Nicolae Ceaușescu einst das Bundesverdienstkreuz verliehen hatte. Besonders wird die Geschichte auch dadurch, dass sie das Augenmerk darauf richtet, wie es sein mag, sich in der eigenen Heimat fremd zu fühlen und nicht zuletzt, ob Mehrsprachigkeit Fluch oder Segen sein kann, nicht nur, aber auch in Beziehungen. Gut gefallen mir die Zitate, die den Kapiteln vorangestellt sind. Jedes ist in einer anderen Sprache und kann so als Reminiszenz an unsere polyglotte Gesellschaft gelesen werden.

Wolff schreibt zart und poetisch, vieles wird nur angedeutet, manches bleibt ungesagt. Es ist ein Roman der leise daherkommt, darum aber nicht weniger Gehör findet.

Cover des Buches Der Stich der Biene (ISBN: 9783956145810)

Bewertung zu "Der Stich der Biene" von Paul Murray

Der Stich der Biene
Aischavor 19 Tagen
Kurzmeinung: ein brillanter Blick in die menschliche Seele, unser stetes Streben nach Glück und dem häufigen Scheitern
Echt

Müsste ich diesen 700 Seiten umfassenden Wälzer Paul Murrays in ein einziges Wort fassen, so wäre dies ECHT.

Natürlich ist diese Erzählung erfunden, und vermutlich verteilt sich das, was der dysfunktionalen vierköpfigen Romanfamilie an kleineren Unglücken und großen Katastrophen widerfährt, in der Realität auf zahlreiche irische Leben. Aber Murray setzt das Stilmittel der Verdichtung derart gekonnt ein, dass ich - so schräg der Plot auch manchmal anmutet - doch stets das Gefühl hatte, es könnte haargenau so passiert sein, es könnte echt gewesen sein.

Es ist eine Geschichte, die echt unter die Haut geht, und sie ist echt gut erzählt. (Allerdings schwächelt die Übersetzung durch Wolfgang Müller an der ein oder anderen Stelle etwas.) Die Perspektive wechselt zwischen den vier Protagonist*innen: Vater Dickie, der inmitten der Finanzkrise mehr als nur die Leitung seines Autohauses verliert, Mutter Imelda, die bildungsferne Dorfschönheit, die ihrem gewalttätigen Vater eigentlich durch eine Hochzeit mit Dickies Bruder entkommen wollte, Tochter Cass, die vor allem raus aus dem kleinstädtischen Mief möchte, in dem "alle wie zerstampfte Kartoffeln aussehen", und der zwölfjährige PJ, der sich - weitgehend unter dem Radar seiner Eltern - in große Gefahr begibt.

Wie Murray dabei seine Leserschaft jeweils in die unterschiedlichen Welten seiner Figuren eintauchen lässt, ist ganz großes Kino. Ich habe jeden einzelnen Gedanken geglaubt, nicht weil sie wahr sein mussten, sondern weil sie echt sein könnten. Murray ist, wie so viele Iren, ein überzeugender, fesselnder Geschichtenerzähler, und er ist dabei der Wahrhaftigkeit verpflichtet, dem Streben nach Wahrheit.

Was macht uns zu der Person, die wir sind, was geben wir lediglich vor zu sein? Wo sind wir in der Vergangenheit falsch abgebogen, und können wir jederzeit wieder die Richtung ändern? Was ist Fassade, was ist echt?

Echt lesenswert!

Cover des Buches I, Robot (ISBN: 9780007532278)

Bewertung zu "I, Robot" von Isaac Asimov

I, Robot
Aischavor 19 Tagen
Kurzmeinung: Rightly a sci-fi classic, as the stories pose fundamental ethical questions regarding the relationship between AI and humans
Cover des Buches Sad Cypress: A classic Hercule Poirot Mystery (ISBN: 9780008129576)

Bewertung zu "Sad Cypress: A classic Hercule Poirot Mystery" von Agatha Christie

Sad Cypress: A classic Hercule Poirot Mystery
Aischavor 19 Tagen
Kurzmeinung: Poirot makes a late appearance here, but his usual razor-sharp mind and the logical resolution of the case make up for it, very entertaining
Cover des Buches Tremor (ISBN: 9783546100656)

Bewertung zu "Tremor" von Teju Cole

Tremor
Aischavor 25 Tagen
Kurzmeinung: die anspruchsvolle, anstrengende Struktur hat mir die wichtigen Inhalte verleidet
Anstrengend und avantgardistisch

Eigentlich bin ich für Ungewöhnliches, Innovatives fast immer zu haben, auch Literatur abseits ausgetretener Pfade interessiert mich durchaus. Aber in seinem jüngsten Roman zeigt Teju Cole, seines Zeichens nicht nur Fotograf und Kurator, sondern auch Professor für Kreatives Schreiben in Harvard, für meinen Geschmack dann doch etwas zu viel Kreativität:

Protagonist Tunde ist - wie auch Cole selbst - mit 17 Jahren aus Nigeria in die U.S.A. ausgewandert. Nun, mit Mitte Vierzig, ist er verheiratet, erfolgreicher Fotograf und Akademiker, aber nicht wirklich angekommen. So weit, so gut. Allerdings verlässt Cole recht schnell die klassische Romanstruktur, und "Tremor" zeigt sich vor allem als rasende Abfolge innerer Monologe des Protagonisten. Die rapide wechselnden essayistischen Fragmente zu sortieren und einzuordnen hat mich oft ermüdet und manchmal überfordert.

Auch inhaltlich verlangt Cole seiner Leserschaft viel ab. Er verhandelt schöngeistige Musiktheorien (denen ich nur bedingt folgen konnte), sinniert über verschiedene Interpretationen eines bestimmten Mandinke-Liedes oder setzt an anderer Stelle voraus, man wisse, was mit "C. elegans" gemeint sei. (Es handelt sich um einen Fadenwurm, der in der Biologie als Modellorganismus erforscht wird.) Anfangs habe ich noch hochmotiviert alles mir Unbekannte recherchiert, doch schnell haben mir die intellektuellen "Höhenflüge" die Lektüre verleidet. Ich fürchte, dass dieser Roman sich aufgrund seiner Form nur an hochgebildete Leser*innen richtet. Dies ist mehr als schade, zumal einigen Botschaften definitiv mehr Augenmerk zukommen sollte: Der immer noch von postkolonialem Überlegenheitsgefühl geprägte Diskurs über Restitution von Raubkunst oder verschiedene Facetten des Rassismus, die selbst das Töten betreffen. Interessant - wenngleich ein wiederkehrendes Motiv Coles -  ist auch die Fragestellung, in wieweit Fotografie, ohne aktive Erlaubnis einzuholen, in das Leben anderer Menschen eindringen darf.

Besonders erwähnen möchte ich ein Kapitel, das aus einer Aneinanderreihung kurzer, individueller Monologe verschiedener Einwohner Lagos´ besteht. Es zeichnet ein äußerst brutales, von Korruption und Gewalt geprägtes Bild der Lagunenmetropole, jedoch ohne erkennbare Einordnung durch den Autor. Wer Nigeria kennt, wird kaum überrascht sein, der Rest der Leser*innen wird ohne Hintergründe wohl schwerlich etwas mit diesen Momentaufnahmen anfangen können.

Fazit: Thematisch überfrachtet und strukturell für mich leider zu experimentell.

Cover des Buches James (ISBN: 9783446279483)

Bewertung zu "James" von Percival Everett

James
Aischavor einem Monat
Kurzmeinung: ein brillantes Sprachfeuerwerk, das erneut zeigt, wie menschenverachtend die Sklaverei in den USA war und wie sie sich bis heute auswirkt
Mutig - und längst überfällig

Es gehört wohl eine immense Portion Mut dazu, einen der großen US-amerikanischen Klassiker neu zu erzählen. Aber Percival Everett macht genau dies, er nimmt sich Mark Twains "Huckleberry Finn" vor, zerlegt den Roman in seine Einzelteile und setzt ihn neu zusammen. Und dies auf grandiose Art und Weise.

Die offensichtlichste Änderung ist, dass Everett den Sklaven Jim (respektive James, wie sein wahrer Name lautet) als Ich-Erzähler zu Wort kommen lässt. Und schon dadurch erfährt die Story einen grundlegenden Wandel. James ist kein einfältiger Zwangsarbeiter, sondern literarisch und philosophisch kompetent. Allerdings ist es für ihn lebensgefährlich, sich Wissen anzueignen, er kann sich nur heimlich in die Bibliotheken der Weißen schleichen. Überhaupt ist "schleichen" überlebenswichtig, nur möglichst nicht auffallen, jede noch so kleine Banalität kann zu drakonischen Strafen führen, willkürliche Auspeitschungen sind an der Tagesordnung. Und so tarnen sich die Sklaven mit einem tumben, stereotypen Dialekt, der sie dumm und ungefährlich wirken lässt. Diese Sprache wird nur in Gegenwart Weißer verwendet, muss jedoch von den Kindern der Sklaven heimlich erlernt werden. Besonders erwähnen möchte ich an dieser Stelle auch die großartige übersetzerische Leistung Nikolaus Stingls, der diesen "Sklaven-Slang" geschickt in ein adäquates, genuscheltes und mit grammatikalischen Fehlern gespicktes Deutsch übertragen hat.

Everett steht Twains erzählerischem Talent in nichts nach, rückt jedoch die Lebensrealität der Sklaven in den Mittelpunkt. Erscheinen die gemeinsamen Abenteuer bei Twain aus Hucks Sicht überwiegend spannend und lustig, so ist die Flucht entlang des Mississippi aus James´ Warte in jeder Sekunde von Todesgefahr begleitet. Obwohl sich Everett weitgehend an Twains Plot hält, erschließt sich hier eine gänzlich andere Geschichte. Einer der intensivsten Momente war für mich, als James sich einer Showtruppe von Minstrels anschließt. Diese weißen  Unterhaltungsmusiker färbten sich die Gesichter schwarz und karikierten bei ihren Auftritten das (vermeintliche) Leben der Afroamerikaner. Der relativ hellhäutige James bekommt ebenfalls Blackfacing verpasst, um als schwarz geschminkter Weißer wahrgenommen zu werden - als "echter" Schwarzer hätte er nie eine Bühne bekommen. Doch diese Maskerade ist auch ein genialer schriftstellerischer Schachzug, mit dem Everett deutlich macht, wie anders der Blick Weißer auf People of Color war und oft immer noch ist: "Ich nahm Blickkontakt mit ein paar Leuten in der Menge auf, und die Art, wie sie mich ansahen, war anders als jeder Kontakt, den ich je mit Weißen hatte" lässt er James in seiner Minstrel-Tarnung konstatieren. 

"James" ist auch die Geschichte einer Selbstermächtigung, den Everetts Protagonist schreibt seine Geschichte selbst nieder, er lässt sie nicht von anderen erzählen. Schon gar nicht von einem jungen weißen Analphabeten.

Über mich

Lesen ist wie Urlaub - ich kann neue Menschen kennen lernen, andere Länder und Kulturen entdecken!
  • weiblich

Lieblingsgenres

Biografien, Krimis und Thriller, Kochen und Genießen, Comics, Historische Romane, Science-Fiction, Literatur, Unterhaltung

Mitgliedschaft

Freund*innen

Was ist LovelyBooks?

Über Bücher redet man gerne, empfiehlt sie seinen Freund*innen und Bekannten oder kritisiert sie, wenn sie einem nicht gefallen haben. LovelyBooks ist der Ort im Internet, an dem all das möglich ist - die Heimat für Buchliebhaber*innen und Lesebegeisterte. Schön, dass du hier bist!

Mehr Infos

Hol dir mehr von LovelyBooks