Bewertung zu "Die Kultur der Ambiguität" von Thomas Bauer
Bei diesem Buch handelt es sich um ein derart epochales, wissenschaftliches Werk, dass es eine eigenständige Liga bildet und nicht in eine Reihe mit gewissen populärwissenschaftlichen Islam-Büchern gehört, wie etwa denen von Frau Kelek. Der gravierende Unterschied: Thomas Bauer ist Arabist und renommierter Islamwissenschaftler und recherchiert jahrelang mit akribischer Gründlichkeit. Dieses Buch ist eines der drei, vier Bücher, die mich in den letzten Jahrzehnten am meisten beeindruckt haben. Es gibt Bücher, die Geschichte schreiben, und ich hoffe, dass dieses, trotz seines hohen Anspruchs, dazu gehören wird.
Thomas Bauer erläutert in diesem Werk die Grundlagen der islamischen Lehre. Es geht also nicht um Detailfragen und Äußerlichkeiten, wie Kopftücher oder Beschneidungsriten - denn (kaum zu glauben, aber wahr) der Islam ist mehr als das! Wie Bauer durch die äußerst kenntnisreiche Analyse mittelalterlicher theologischer Schriften aufzeigt, zeichnete sich die islamische Lehre bis zum Anbruch der Moderne vor allem durch eines aus: Durch eine hohe Ambiguitätstoleranz. Warum? Weil bereits der Koran, die wörtlich offenbarte heilige Schrift des Koran, ursprünglich äußerst vielfältig interpretierbar war. Die frühen Muslime waren also exakt das Gegenteil dessen, was man denken mag: Gerade die Gelehrten waren gerade keineswegs engstirnige, intolerante Fanatiker. Vielmehr zeichneten sie sich durch eine beeindruckende Debattenkultur aus, durch eigenständige Denkleistungen, durch hohe Toleranz gegenüber Koraninterpretationen, die möglicherweise im Gegensatz zur eigenen standen. Die Frage, die sich das "aufgeklärte Abendland", geprägt vom Cartesianischen Richtig/Falsch-Denken, in Bezug auf einzelne Koranverse stellt, lautet: "Wie ist die korrekte Interpretation des Verses XY?" Nicht so die frühen Muslime! Die mittelalterlichen muslimischen Denker gingen wie selbstverständlich davon aus, dass ein Vers viele verschiedene "Lesarten" bzw. Interpretationen haben konnte. Dies ist der Schlüssel zu der Frage, wie ein heiliges Buch beanspruchen kann, für alle Zeiten und in allen Gesellschaftsordnungen Gültigkeit zu besitzen. Interessant ist, dass Bauer aufzeigt, dass die Vielfalt der Koranversionen offenbar von Anfang an durchaus beabsichtigt war: Etwa wurden Vokalzeichen absichtlich nicht hinzugefügt, obwohl diese durchaus schon bekannt waren. Warum dies? Weil das islamische Denken Vielfalt und Flexibilität als Wert, nicht als Manko betrachtete - gemäß der Überlieferung: "Die Meinungsvielfalt unter den Gläubigen ist eine Gnade Allahs". Erst im 13. Jahrhundert wurden die ursprünglich vielfältigen Koranversionen, die kursierten, zunehmend von einer sich immer stärker verbreitenden Version, in den Hintergrund gedrängt. Mit Beginn des 18. Jahrhunderts infiltrierte das abendländische Cartesianische Denken auch die islamische Welt. Diese wollte den Missionsbestrebungen und dem Einfluss des Westens etwas entgegensetzen - und beging den folgenschweren Fehler, das westliche Denken unter umgekehrten Vorzeichen zu übernehmen. Dies war die Geburtsstunde des Islamismus. Der Islamismus propagiert also keineswegs den "ursprünglichen Islam" - im Gegenteil! Sein rechthaberisches Streben nach der "einzig wahren Koraninterpretation" steht völlig im Widerspruch zum Geist des Islam. Die islamische Lehre hielt ihre Anhänger ursprünglich nicht nur zum regelmäßigen Fasten, Beten und Spenden an, sondern darüber hinaus zu zwei Dingen:
1) Zur lebenslangen Suche nach der Wahrheit, sei es durch Aneignung von Wissen, eigenständigem Denken oder Befragung des Gewissens - immer im Bewusstsein, dass der Weg das Ziel ist, denn die letzte Antwort kennt nur Gott!
2) Sich darin zu üben, gerade NICHT Halt in Extremismen zu suchen, sondern vermeintliche Widersprüchlichkeiten zu ertragen - die Spannung mithin, die sich naturgemäß zwischen den überall in der Natur, wie auch im Koran, zu findenden Polen aufzubauen pflegt. Der Islam ist also eine zutiefst naturgemäße Religion - nicht umsonst werden die Verse des Korans mit demselben arabischen Wort bezeichnet wie die Naturphänomene: "Ayat" - Zeichen Allahs.