Elena Ferrante „Frau im Dunkeln“ (2017)
Originalausgabe „La figlia oscura“ (2006)
Aus dem Italienischen übersetzt von Anja Nattefort.
Von Elena Ferrante hatte ich bis vor kurzem noch nichts gelesen, aber ihre Bücher standen schon seit einer Weile auf meiner Leseliste, schliesslich will frau eine Ahnung haben von den Romanen, die gerade auf allen Kanälen und in allen Medien gehypt werden. Ihre neapolitanische Familiensaga, die mit „Meine geniale Freundin“ beginnt, steht weiterhin auf meiner Leseliste, aber ihr Roman „Frau im Dunkeln“ hat mich bereits sehr überzeugt, obwohl er offenbar erst nach dem internationalen Erfolg mit der neapolitanischen Familiensaga aus dem Italienischen in verschiedene Sprachen übersetzt und aufgelegt wurde.
Eigentlich hätte der Titel in der deutschen Übersetzung auch wörtlich „Die dunkle Tochter“ heissen können, aber damit wäre man im Deutschen wohl auf die falsche Fährte der Hautfarbe gekommen, die zwar bei einer Hauptfigur thematisiert wird, aber keinesfalls das Hauptthema darstellt. Deshalb wurde wahrscheinlich „Frau im Dunkeln“ als Titel gewählt. Auch „Die rätselhafte Tochter“ hätte eine dem italienischen Titel entsprechende Variante sein können. Es ist noch anzumerken, dass der Titel mit "L'enfant perdue" ins Französische übersetzt wurde, was wörtlich "Das verlorene Kind" heisst.
Dass nun aber die „Frau“ im Vordergrund steht, finde ich eine gute Lösung für den deutschen Titel, denn genau darum geht es in diesem Buch: Um eine Mutter, die eben nicht nur (aufopfernde) Mutter, sondern gleichzeitig auch (ehrgeizige) Frau und Geliebte und natürlich auch selber Tochter mit einer eigenen Familiengeschichte ist. Vor allem aber geht es um die sehr zwiespältigen Gefühle, die Schattenseiten, die frau als Mutter haben kann, um das heftige, ja blutige Kratzen am Idealbild der perfekten Mutter!
Der Roman hat einen spannenden Aufbau, der mich gleich faszinierte und das Buch fast in einem Zug hat lesen lassen. Für mich persönlich ein Qualitätsbeweis, denn nur Bücher, die ich atemlos verschlinge, bleiben mir nachhaltig in Erinnerung!
Und da ich selber Mutter zweier erwachsener Söhne bin, konnte ich einige Erfahrungen der Ich-Erzählerin nachvollziehen. Die Autorin Elena Ferrante hat wirklich eine ungeheure Begabung, die Dinge sprachlich auf den Punkt zu bringen. Und die Übersetzerin Anja Nattefort hat ausserdem einen sehr stimmigen Text auf Deutsch geschaffen!
Die Geschichte beginnt mit einem spannenden Kapitel 1, dessen Inhalt dem vorgezogenen Ende entspricht. In Ferrantes Buch wissen die Leserin und der Leser nämlich gleich: Die Protagonistin hat eine rätselhafte Stichwunde! Sofort fragt man sich: Wer hat sie angegriffen? Womit? Und natürlich vor allem: WARUM?
Wie konnte es geschehen, dass eine beinahe Fünfzigjährige, geschiedene Englisch-Dozentin aus Florenz, die sich für ein paar Wochen ganz allein nach Süditalien an den Strand in den Urlaub begibt, mit einer Stichwunde im Auto nachhause fährt und dabei ohnmächtig wird? Was hat sie bloss getan, dass es so weit kommen konnte?
Danach erst wird die Geschichte aufgerollt. Die Dozentin Leda beschäftigt sich während ihres Urlaubs damit, neben dem Arbeiten am Strand mit ihren Büchern auch eine neapolitanische Grossfamilie zu beobachten und allerhand Theorien über die familiären Beziehungen aller Mitglieder untereinander anzustellen. Nach einer Weile lernt sie vor allem die zwei Frauen der Grossfamilie näher kennen. Nina, eine 23-jährige und ihre kleine Tochter Elena (inklusive Spielpuppe mit wechselndem Namen), sowie Rosaria, deren Schwägerin, die mit 42 ihr erstes Kind erwartet und nicht nur ihren hochschwangeren Bauch stolz am Stand promeniert, sondern hie und da auch Nina bei ihrer Erziehung von Elena dazwischenfunkt.
Die Beziehung, die zwangsläufig zwischen Leda und der Grossfamilie entsteht, ist von einem Wechselbad der Gefühle geprägt. Ablehnung, ja Feindseligkeit, Beklemmung und Sympathie wechseln einander ab. Vor allem steigen in der Ich-Erzählerin schmerzhafte Erinnerungen an ihre eigene Kindheit innerhalb einer ähnlichen Grossfamilie hoch. Und sie macht intensive Rückblicke auf ihre eigene Mutterschaft. Beide Erinnerungsfäden sind stark geprägt von Verlassensängsten!
So drohte ihre eigene, oftmals überlastete Mutter Leda und ihren Schwestern in ihrer alltäglichen Verzweiflung tatsächlich damit, die ganze lärmige Kinderbande eines Tages zu verlassen, ohne diese Drohung je in die Tat umzusetzen, ganz im Gegenteil zu Leda selbst, die ihre beiden Töchter Bianca und Marta im Kleinkindalter später tatsächlich ohne jede Vorwarnung ihrem Ehemann gegenüber für drei Jahre verlassen hat.
Nachdem zwischen Leda und den neapolitanischen Frauen im Laufe des Strandaufenthalts eine Annäherung stattgefunden hat, erwähnt Leda eines Tages aus heiterem Himmel, dass sie ihre Töchter wirklich verlassen hat. Von da an wird Leda den patriarchalisch-traditionell geprägten Neapolitanern suspekt, vor allem Rosaria, der Schwägerin und ihrem Mann Corrado, dem Bruder von Nina. Die junge Nina hingegen – der Ich-Erzählerin kommt sie so vor, wie wenn sie schon wegen ihrer fast indisch wirkenden Anmut nicht zur Gruppe gehöre – fühlt sich angezogen von Leda. Sie ist geradezu fasziniert von ihr und sucht ihre Nähe und Komplizenschaft, vor allem, weil sie mit ihrer kleinen Tochter Elena nach der anfänglichen Strandidylle je länger je mehr überfordert ist, nachdem die Puppe der Kleinen am Meer verschwunden ist und sie deswegen tagelang untröstlich bleibt. Auch Nina möchte, obwohl sie eine symbiotische Beziehung zu ihrer kleinen Tochter Elena lebt, aus ihrem frustrierenden Alltag als Mutter flüchten, sucht aber einen anderen „Ausweg“ als Leda, die sie ganz konkret um Hilfe bittet. Doch dann erfährt Nina etwas Unerwartetes …
Fazit: Ein spannend geschriebener, ungewöhnlich tiefschürfender und empfehlenswerter Roman für gestandene Mütter, die die ganze Palette der widersprüchlichen Gefühle durchlebt haben!