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Anne-Kuhlmeyer

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Cover des Buches STILL (ISBN: 9783945386002)

Bewertung zu "STILL" von Zoran Drvenkar

STILL
Anne-Kuhlmeyervor 10 Jahren
Vom falschberechtigten Vorurteil

Man soll keine Vorurteile haben, aber man hat sie, weil man sie braucht. Bestenfalls kann man sich von ihnen befreien und dem Gegenüber neugierig begegnen. Genau das musste ich mit diesem Roman tun, denn ich hatte „Du“ von Zoran Drvenkar nach der Hälfte genervt weggelegt. Also nehme ich mein Wohlwollen und begebe mich in den Text. (Menschen, auch Autoren, entwickeln sich).
Der beginnt mit dem Kapitel: SIE. Sie sind eine Handvoll Männer, die aus einem Eisloch im See nackt in eine warme Hütte schlüpfen, anschließend lauern sie auf ihre Chance zu einer Entführung. Sie sind clever, omnipotent und böse.
Das Kapitel: DU. Du bist Lucia, 13 Jahre alt. Deine Entführung wird erzählt, und wie du sechs Jahre lang schweigend, tot für dich selbst, auf deine Erinnerung wartest. Du bist das Opfer.
Kapitel: ICH. Ich bin Lehrer, suche meine Tochter und nehme dafür in eine neue Identität an, um mit den mutmaßlichen pädophilen Entführern Kontakt aufzunehmen. Nach gründlicher Vorbereitung begebe ich mich unter sie, werde einer von ihnen. Ich bin der Rächer.
Diese klare Struktur wird fortgeführt und entspricht damit formal der Hypothese, Disziplin könne aggressive Impulse kontrollieren.
Die 2. Person als Erzählperspektive mag ich nicht. Zu suggestiv scheint sie mir. Einem fremden Ich kann ich folgen oder es sein lassen. Ein Du vereinnahmt mich stärker, schreibt mir etwas zu, auch oder obwohl es sich an Lucia wendet.
Überhaupt Lucia, die einzige Überlebende der entführten Kinder. Ein Leichtes wäre es für die übermächtigen Entführer, das Mädchen zu killen. Sie tun es nicht, obwohl Lucia niemand braucht, niemand will, nicht einmal ihre Eltern, niemand außer dem Plot. Um ihr Überleben zu sichern, müssen ein paar ideologisierend pseudomoralische Verrenkungen gemacht werden.
Vieles wird gedreht, gehobelt, geschoben, damit es in die Geschichte von Geheimbündlern, die Kinder abrichten, um Kinder zu töten, passt. Ein Beispiel: Der Lehrer lässt sich Schlaftabletten verschreiben. Damit will er seine Gegner kampfunfähig und redselig machen. Es wirkt innerhalb von Minuten. Tolles Zeug! Bloß gibt es solch ein Zauberding halt nicht. Braucht ja auch keiner, außer eben der Plot.
Spannend ist dieser Roman. Er lässt mich voyeuristisch auf die sadistischen Männer, die in ihrem öffentlichen Leben Familienväter und nette Kerle sind, starren. (Frauen kommen dagegen als Opfer oder Verräterinnen vor.) Sie sind mächtige, gut organisierte, traditionsverhaftete Bestien. Für die Spannung ertrage ich sogar die schiefen Bilder, die oft juxta vorbeigehen am Treffenden. Spannung ist die Qualität des Romans. Zugegeben die einzige, die ich erkennen kann, denn es bleibt mir ein Rätsel, was er mir sagen möchte. Dass es grausame Menschen gibt, die nachts Kinder aus ihrer wohlgeordneten Umgebung klauen, um sie zu misshandeln und zu töten? (Da wird der Angstknopf jedes Menschen, der Eltern ist, gedrückt, gell?) Dass die Polizei deren Treiben ohnmächtig gegenübersteht, weil sie als Instanz eh hilflos ist? (Wir haben doch immer gewusst, dass die nix auf die Kette kriegen, weil sie faul, ignorant, unterbezahlt und/oder beamtet sind, ne?!) Dass nur das Opfer selbst den Schlüssel zu seiner Befreiung von Scham und Schmerz in den Händen hält? (Und deswegen auch verantwortlich ist.) Dass Tätern gleiche Gräuel widerfahren sollen wie den Opfern? (Schwanz ab für Pädophile, genau!)
Ich weiß nicht, was mir der Roman erzählen will, ehrlich.
Und ich hasse es, wenn mir jemand sagt, was ich fühlen soll. Der Ductus des Romans zwingt sich auf. Doch ich möchte mich Figuren anschließen dürfen. Ich bin nicht zimperlich, ich gehe weit mit. Wenn ich will. Hier darf ich nicht wollen können.
Noch nicht einmal lachen darf ich, denn die konsequente Ironiefreiheit ist eine weitere Bedauerlichkeit.
Ich hoffte, mein Vorurteil würde sich nicht bestätigen. Hat es aber. Leider.

Cover des Buches Gefährlicher Frühling (ISBN: 9783865323866)

Bewertung zu "Gefährlicher Frühling" von Sophie Sumburane

Gefährlicher Frühling
Anne-Kuhlmeyervor 10 Jahren
Ein Roman in Schwarz mit hellen Flecken

Tunesien 2010. Eine von Ungerechtigkeit, Einschüchterung und ökonomischen Verwerfungen aufgeheizte Situation braucht einen Funken, damit sie in Gewalt kippt. Die Selbstverbrennung eines jungen Mannes ist dieser Funke, der den „arabischen Frühling“ entzündet. Mit dieser auf Realität beruhenden Episode beginnt der Roman.
Leipzig, 2013. Die Chefin des Ingenieurbüros WesTex wird erschossen, hingerichtet. Charlotte Petzold muss sich von ihrer Kollegin trennen und mit dem Frischling Mario ermitteln, denn eine Beziehungstat, in die die Freundin verwickelt sein könnte, scheint möglich. Charlotte erzählt von sich selbst. Nur gibt es da in Leipzig noch ein Ich, eines, das hasst, eines, das sich quält, ein unbenanntes, flüchtiges Ich.
Ägypten 2011. Ein Mann wird in einem Polizeikeller zu Tode gefoltert.
Leipzig 2013. Mohamad Hassan ist verschwunden. Bei WesTex gefeuert und dann verschwunden. Also: „Der böse Moslem war es. Im Zweifel der Moslem.“
Aber ...
Mohamad Hassan ist kein Mensch, kein Name eines Einzelnen. Er ist ein Begriff, eine Berufsbezeichnung. Mohamad Hassan ist der Folterknecht, wie Sam der Butler ist.
Sophie Sumburane erzählt, wie aus einem Menschen ein Mohamad Hassan werden kann. Dunkle, verwitterte, blutdurchtränkte Szenen, die seltsam nackt und blank anmuten. Doch der Mann ist nicht nur Folterknecht. Er ist Sohn und Geliebter, Fühlloser und Ängstlicher, Hassender und Hoffender. Auch. Und keiner von den vielen weiß von dem anderen.
Ganz großartig, stark und plausibel entwickelt die Autorin die Psychopathogenese eines Harmlosen zu einem Täter, unter Gewaltbedingungen.
Und was hat der Tod einer Frau im friedlichen Leipzig damit zu tun? Charlotte Petzold findet Waffen, oder vielmehr Bilder davon, in den Akten von WesTex. Plötzlich geschieht ein weiterer, unerwarteter, unerhörter Mord in ihrer näheren Umgebung ...
Charlotte ist eine ganz normale Frau mit Heuschnupfen, einem regelrechten Feierabend und einer Familie, die ihr Kraft gibt. Bezaubernd, die Liebe zu ihren Kindern und tückisch, die Angst um sie. Sie ermittelt sich durch die spärlichen Hinweise, während die Autorin nicht völlig ohne Klischees auskommt, aber auch mit ihnen spielt und mit unseren fernsehgeprägten Vorstellungen von Polizeiarbeit.
Doch die arabischen Bilder haben eine weit höhere Intensität. Grell, blutig, schwarz und wüstenstaubig. Wie Granatsplitter dringen sie einem unter die Haut. Sie sind die absolute Stärke des Romans.
Die beiden Handlungsstränge laufen raumzeitlich aufeinander zu, unterbrechen sich, finden sich am Schluss zu keinem Ende, keinem endgültigen. Wie könnte auch? Geschichten haben ein Ende, die Geschichte hat keins, zumindest kein absehbares.
„Gefährlicher Frühling“ ist der zweite Kriminalroman aus Sophie Sumburanes Hand. An manchen Stellen leicht wie ein Aquarell, an anderen naiv, romantisch, grotesk. Ein Roman aus Kellerbildern mit hellen Flecken. Auf ihren nächsten darf man gespannt sein.


Cover des Buches Das letzte Geheimnis: Bloch III (Bloch-Trilogie) (ISBN: 9783943877212)

Bewertung zu "Das letzte Geheimnis: Bloch III (Bloch-Trilogie)" von Hans Zengeler

Das letzte Geheimnis: Bloch III (Bloch-Trilogie)
Anne-Kuhlmeyervor 10 Jahren
berührend und komisch

Mit „Das letzte Geheimnis“ liegt der letzte Teil der Bloch-Trilogie (Teil 1: „Gestorben wird später“, Teil 2: „Die größte Liebe aller Zeiten“, von Hans Zengeler vor.
In Rhythmus und Ton so bitterkomisch wie die Vorgänger nur in der Farbe einige Nuancen dunkler beginnt der Roman mit einer Katastrophe für Josef Bloch. Der hat grundsätzlich Erfahrung mit Katastrophen und mit seiner Nichtehefrau Ira eine Partnerin an der Seite, die ihm hindurch hilft. Josefs neuerliche Katastrophe heißt Anna. Normalerweise handelt es sich bei Josefs Katastrophen regelhaft um Frauen. Doch Anna ist eine ganz Besondere. Autonom, abweisend, ängstlich, bedürftig, kalt, 85 Jahre alt und seine Mutter, die er nie Mutter nennt, schon gar nicht seine, so verzwickt ist das Verhältnis zu ihr. Über die Jahrzehnte haben sie sich in einem Schweigen eingerichtet, das beide davor bewahrt hat, einander die Köpfe einzuschlagen oder in „Liebe“ zu ersticken. Doch nun ist Anna krank und okkupiert Josefs Rückzugsgebiet, das Obergeschoß mit der Tagtraumcouch, auf der er sich übelicherweise in eine Freiheit hineinträumt, die sein Brotjob als Korrektor von Lokalblättchen ihm nicht bietet. Anna ist die personifizierte Zerstörung. Mit ihrer Präsenz walzt sie die brüchige Normalität nieder, in der sich Josef eingerichtet hat. Damit, dass sie sterben würde, wenn Josef nicht tut, was ihr gefällt, droht sie, seit seiner Kindheit. Das klingt vielleicht nicht so spektakulär, ist aber ein gängiges Bindungsmittel selbstunsicherer Eltern, mit dramatischen Folgen. Zumal Kind auch noch für Leben oder Tod des (zwangsweise) geliebten Elternteils verantwortlich gemacht wird, was dessen eigene Existenz, ist es jung genug, gefährden würde.
Josef, der sich lange gemüht hat, sich seiner Geschichte zu entziehen, wird erinnert. An die Hand, die schlug und koste, zeitgleich. Die klassische Doublebind-Kommunikation. Josef hat sie bis auf ein paar normalneurotische Schrullen überlebt, was man längst nicht von jedem sagen kann. Spannenderweise werden neben der glasklaren Darstellung des Phänomens selbst Ressourcen abgebildet, die ihm das ermöglichten – neben offenem Widerstand, Rückzug, frühes Entfernen von der Familie, Schweigen. So problematisch das Schweigen, das die ganze Familie so hartnäckig kultiviert, auch ist, so nützlich ist es ihr zum Überleben. Denn es gibt starre moralische Prinzipien, tiefe Scham und ein Geheimnis. Anna hat es und behält es. Oder nicht? Josef versucht, um seines Seelenfriedens Willen, diesem Geheimnis beizukommen. Schon allein seine Entscheidung, Schriftsteller zu werden, wendet sich gegen das Schweigen. Man könnte Anna für eine bösartige Person halten, wie sie ihre Umwelt tyrannisiert und ihren Willen aufzwingt. (Sie hört einfach auf zu essen.) Josef fühlt sich, wie er sich immer in Gegenwart von Anna gefühlt hat, ambivalent. Wie kann man so herzlos sein und die eigene Mutter hassen, noch dazu, wo sie krank ist, möglicherweise bald sterben wird? Oder ist das wieder eine ihrer Finten, mit denen sie Josef immer schon gekriegt hat?
Ganz wunderbar erzählt der Autor, wie sich Josef dem Charakter der Mutter nähert. Wie er ihr Sosein verstehen lernt, wenngleich er es nicht billigt.
Hans Zengeler zeichnet die Charaktere so vielschichtig und komplex, in so komischen Szenen, dass einem nur das Lachen bleibt, wenn man nicht heulen möchte. Wer noch nicht wusste, dass Familien durchaus gefährliche Orte sein können, erfährt es in diesem Roman. Anna ist keine Hexe, die ihrem Sohn Böses will. Sie ist eine Frau, die unter konkreten gesellschaftlichen Bedingungen mit einer verlogenen Moral und ökonomischen Abhängigkeiten auskommen musste. Diese Erfahrungen hat sie in ihrer eigenen Familie gelebt. Mit Josef, seiner Schwester, dem gewalttätigen „Erzeuger“ und dem Stiefvater von Josef, seiner Tante, den Großeltern ... Anna hat versucht zu überleben. Und sie hat es lange geschafft. In ihrer Funktion als Mutter hat sie zumindest teilversagt. Als Mensch mit einer Biographie, die sie zu dem gemacht hat, was sie ist, lernt Josef Anna verstehen und das Eine von dem Anderen zu unterscheiden.
Und was ist nun mit dem Geheimnis? Das verrät der Roman.

Cover des Buches 2/14 (ISBN: 9783037346549)

Bewertung zu "2/14" von Nathan Larson

2/14
Anne-Kuhlmeyervor 10 Jahren
Ein Noir vom Feinsten!

Dewey Decimal ist Bibliothekar in der New York Public Library, soviel weiß er. Sonst weiß er wenig von sich, nicht einmal seinen richtigen Namen. Er benutzt ein System, das Dewey Decimal System eben, eine Klassifikation zur Erschließung von Bibliotheksbeständen, um das Durcheinander zu ordnen. Ein höchst zweckmäßiges Ding, mit dem Dewey nicht nur dem Bücherchaos, sondern auch der urbanen Verwüstung beizukommen sucht.
Am Valentinstag ist New Yorks Architektur und Infrastruktur von nicht näher benannten „Begebenheit(en)“ zerstört worden. Inzwischen herrscht Sommerglut.
Metropolen wie NY werden ja gerne mal geschrottet. Literarisch. Seit 09/11 holt die Realität auf.
Paramilitärische Banden, staatlich eingesetzt oder kriminell organisiert, kontrollieren die stinkenden Straßen. Geplünderte Supermärkte und Malls, dagegen halbwegs intakte Museen. Kein Mensch braucht Kunst, wenn er nix aufm Teller hat, keine Bleibe, keine Sicherheit, keine Basics. Abgesehen von wenigen, die die Katastrophe für ihr kriminelles Unwesen nutzen und auf die Zeit hoffen.
Dewey jedenfalls hat einen kleinen Nebenjob beim obersten Staatsanwalt der Stadt, eine Tätigkeit zwischen Privat Eye und Profikiller. Von irgendetwas muss man schließlich leben angesichts des Mangels an ... allem. Außerdem bekommt er Pillen vom Staatsanwalt, die ihm gegen seine bevorstehende Dekompensation helfen, denkt er. Oder ist der suggestive Faktor die Droge? Seine Qualifikation bezieht Dewey aus seiner soldatischen Vergangenheit, einer, die durchaus in Frage steht, denn auf seine Erinnerung kann er sich nicht verlassen. Man hat irgendetwas damit gemacht, etwas implantiert, vielleicht im Militärkrankenhaus damals nach dem Einsatz in ... , vielleicht ...
Unsicherheit in ... allem.
Dem Chaos setzt Dewey sein System entgegen, er hat eine Art inneren Navigator, mit dem er sich durch die Straßen bewegt. Außerdem einen Zwang, dem er folgen muss: Händedesinfektion. Der Ekel als eher frühkindliches Phänomen kann nicht mehr zivilisatorisch kompensiert werden in Gegenwart von all dem Dreck und Gestank rundum. Daneben braucht er noch ein paar Übergangsobjekte. Einen Hut, einen Schlüssel, seine Beretta, seine Pillen, für die eigene Sicherheit. So ausgestattet wird er angeschossen, von einer Frau. Aber Glück im Unglück (Wer weiß, wie das ohne Übergangsobjekte ausgegangen wäre?) ist es nur das Knie. Der Staatsanwalt beschafft ihm ein neues. Frisch operiert flieht er aus dem Militärkrankenhaus, weil ihm das nicht geheuer scheint. Militärkrankenhauserinnerungen – falsche oder echte? Er rennt durch die Stadt auf der Suche nach ... Das weiß er nicht so genau. Ihn treiben verschiedene Mordaufträge. Seine konkurrierenden Auftraggeber chipen ihn vorsichtshalber zwecks Überwachung.
Während er Leichen aufs Dach schleppt mache ich mir Sorgen. Woher hat ein Mensch in solch einem schlechten Allgemein- und Ernährungszustand die Kraft dafür? Und wieso hindert ihn sein Knie nicht, oder nicht sehr, an seinen Aktivitäten? Ich denke an eine Prothesenlockerung, an eine Peronaeuslähmung (mit der Derwey nur noch durch NY stolpern könnte), an schwarze Zehen durch Arterienverschlüsse, ganz abgesehen vom Schmerz.
Aber nichts dergleichen. Naja, so Hard-boiled-Typen sind schon, ähm, hard boiled. Okay, ich glaube ihm. Er sagt ja auch: „Die Leute sind dumm, und wenn man ihnen eine plausible Geschichte präsentiert, wollen sie sie glauben. Weil die Leute nicht nur dumm, sondern auch faul sind und sich keine Zusatzarbeit aufhalsen wollen.“ Nun, Dewey nimmt sich selbst nicht aus, denn er glaubt, dass er die Frau beschützen müsse, die ihn ins Knie geschossen hat, was ihm allerdings jede Menge Zusatzarbeit einträgt.
Höchst plausibel sind Deweys Zwänge. Mit ihnen löst er den Konflikt zwischen erlernter (aktuell untauglicher) Moral und den momentan nötigen Regelübertretungen: Er bringt Leute um. Das ist nicht richtig.
Er tut das nicht als Soldat. Da muss das ja so. Sondern zu seinem Vorteil. Zu seiner Legitimation versucht er herauszufinden, wer von denen, für die er einen Mordauftrag hat, den Tod „verdient“. Soviel Moral muss sein. Nur kommt ihm bei der Recherche dauernd ein Bodyguard, eine Agentin oder ein Haufen Outlaws in die Quere, was ihm Mittelgesichtsfrakturen, Thoraxprellungen und eine ruinierte Garderobe einbringt. Um seine Anzüge sorgt er sich oft, setzt der Verwahrlosung so einen Standard entgegen, den er aus dem Davor mitgebracht hat. Die „Begebenheit(en)“ um den 14. Februar haben ein Davor und ein Danach geschaffen. Obwohl sich die Geschichte kaum explizit auf eine Vergangenheit bezieht (mit der Gegenwart hat Dewey genug an der Backe), blitzt die „Kultur“ und das Festhalten an ihr um des Menschseins Willen in solch scheinbar absurden Handlungen durchs Chaos.
Irgendwann kriegt Dewey eine gewisse Struktur in seine Aufträge und der folgt er. Auch in gutem Glauben ...

2/14 ist das Debüt von Nathan Larson und der erste Roman seiner Trilogie um Dewey Decimal. In dem erhellenden Nachwort positioniert Thomas Wörtche das Werk auf spannende Weise im Literarischen.
Hart, klar, kühl und sarkastisch wird die Geschichte erzählt. Doch daneben ist sie mit ihrem Scheitern und Weitermachen, ihren Albträumen und Intrusionen, ihrem Irren und Sehnsüchtigen, ihrem Rauen, Fraglichen und Fragilen wie ein Abbruchhaus auf Speed. Und ein Noir vom Feinsten! 

Cover des Buches Der Marodeur von Oxford (ISBN: 9783037344248)

Bewertung zu "Der Marodeur von Oxford" von Gary Dexter

Der Marodeur von Oxford
Anne-Kuhlmeyervor 10 Jahren
ein kluger Spaß

Zuallererst muss man von dem Spaß erzählen, den dieses Buch gemacht hat. Man kann auf dem Sofa liegen, sich in die viktorianische Zeit (1893) hineinlesen - fröhlich, ein wenig langweilig im besten Sinne, weil der Ductus so vertraut ist wie das eigne Sofakissen, entspannt - und bei jeder Passage vor sich hin kichern.
Da ist Olive Salter, die psychosomatisch belastete Schriftstellerin, die über ihren ersten, zunächst erfolglosen Roman Bekanntschaft mit dem schmuddeligen Dr. Henry St. Liver macht. Der Sexualwissenschaftler klärt „Fälle“ auf. Nix wirklich Schlimmes, eher etwas, das Menschen in verhältnismäßig übersichtliche Schwierigkeiten gebracht hat. (Der Umstand, dass sich ein Lord anlässlich seiner Hochzeit in der Kirche entblößt, ist zwar für niemanden ein wünschenswertes Geschehen, aber eben auch nicht unmittelbar lebensgefährlich.) Olive Salter wird Dr. Watson, während St. Liver in Sherlock Holmes Manier Rätsel löst. Nur die Schlüsse unterscheiden von denen seiner Vorlage erheblich. Er arbeitet, sagen wir, eher therapeutisch. Will heißen: Es gibt einen Konflikt, die persönliche sexuelle Präferenz vs. die gesellschaftliche Norm (die auch verinnerlicht ist, sonst wäre es ja nur ein äußerer Konflikt). Eine Situation erfordert die Hilfe von St Livers und führt dazu, sich zu offenbaren, was Entlastung beschert und die Scham mindert. St. Livers macht einen behavioristischen Lösungsvorschlag, der begeistert angenommen wird. Fertig. Ein Setting, was allein schon lustig genug ist, aber wunderbar an die Sherlock-Holmes-Geschichten anschließt, nur mit umgekehrtem Ergebnis. Niemand geht ins Gefängnis. Vielmehr lernt der ‚Außenseiter‘, mit seinem Sosein lustvoll zu leben Spannend, dass es in den Geschichten häufig um Scham geht, einem heute kaum beachteten Gefühl, dass man in der Persönlichkeitsentwicklung zwischen dem 18. und 24. Lebensmonat ansiedeln muss und das in weniger individualisierten Gesellschaften als der unseren eine bedeutendere Rolle spielt. Man kann davon ausgehen, dass das im Ausgang des 19. Jahrhunderts in Europa auch so war, wenn man mal die Erzählzeit ernst nimmt. Zumindest war es sozial akzeptabel, schamhaft zu sein. Naja, St. Liver erlöst die Beschämten so oder so.
Heikler wird es beim Ekel. Sexuelle Befriedigung aus der Beobachtung der Defäkation zu ziehen, ist gewiss speziell und würde manchem Leser Tapferkeit abverlangen, wäre die Szene nicht so burlesk und brüllend komisch.
Hübsch auch lateinische und latiniforme Begriffe, die im allgemeinen Sprachgebrauch nicht vorkommen. Iatronudie zum Beispiel: extrem selten gelesen, während das Phänomen vergleichsweise häufig anzutreffen ist.
Bei allem Spaß hantiert der Autor mit einem fundierten Wissen um psychodynamische Prozesse, was sehr erfreulich ist im Gegensatz zu jener Ahnungslosigkeit, die sich vielen sogenannten Psychothrillern findet.
Die unglaublichen vielen Anspielungen auf Bücher, Persönlichkeiten und deren Verbindungen lassen sich in dem klugen, aufschlussreichen und ebenso amüsanten Nachwort von Thomas Wörtche nachlesen.
Sollte man Oskar Wilde, Conan Doyle, Eleonore Marx, Iwan Bloch, Magnus Hirschfeld und, und, und ... nicht kennen, macht das überhaupt nichts. Wer Sinn fürs Komische hat, wird eine großartige Zeit mit diesem Buch verbringen.

Cover des Buches Unter dem Auge Gottes (ISBN: 9783037344293)

Bewertung zu "Unter dem Auge Gottes" von Jerome Charyn

Unter dem Auge Gottes
Anne-Kuhlmeyervor 11 Jahren
Kurzmeinung: mystisch, verwoben, schräg, realistisch - großartig!!
genial!!!

Nun ist schon so viel zu dem Roman geschrieben worden – begeistert Überschäumendes, spritzig Glitzerndes und Superkluges, recht passend, dass man sich gar nicht traut ...
Aber: Seien Sie mutig, lassen Sie sich nicht abschrecken, trauen Sie sich!
Denn man kann diesen Roman lesen, wie man will. Von allen Seiten quasi. Aus allen möglichen Perspektiven. Auf allen Ebenen. Nimmt man zum Beispiel die höckerige Oberfläche: Isaak Sidel, ein Cop aus der Bronx wird Bürgermeister von New York, Vizepräsident der Vereinigten Staaten, heimlicher und eigentlicher Präsident? Hä? Okay, der Roman spielt in New York Ende der 1980er. Da is alles drin.
Sidel trägt Second-Hand-Militärmäntel und seine Glock, die er auch benutzt, also gegen das Böse und so. Er liebt Walnusskekse. Er kann gar nicht ohne sie. Er liebt überhaupt. Also ganz generell. (Seine Bronx. Inez, die Richtige und die Falsche, die aber auch eine Richtige ist. Das legendäre Ansonia-Hote in Manhattenl, in dem sie wohnt. David Pearl, den kleinen, ewig jungen Oberganoven, Banker, Landnehmer, Solipisten, den David im Goliath, den Lehrer, Bewahrer und ... das führt zu weit.) Obwohl er schon so alt ist. Die zwölfjährige Marianna, Tochter des Präsidenten zum Beispiel, die Firstlady, die die Walnusskekse bäckt und auch sonst mit den wundervollsten weiblichen Attributen glänzt.
Ups, da wären wir jetzt eine Ebene drunter. Kinder sind keiner Kinder, weder Marianna noch David Pearl, der als 9jähriger den Gangsterboss Arnold Rothstein beriet. Zumindest spielen sie keine kindlichen Rollen. Vielmehr werden sie verstanden, wie man sie bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts verstanden hat, als Miniaturerwachsene. Zwar werden sie ernst genommen, aber auch verkannt, erhöht und paternalisiert. Sidel will man eine Lolita-Affäre anhängen, um ihn und damit den Präsidenten zu diskreditieren. Tatsächlich beschützt er das Mädchen. Irgendwie. Und er liebt sie. Missbrauch steht im Raum, deutlich. Den gibt es aber nicht, eigentlich. Uneigentlich aber eben doch, im Sinne der Paternalisierung.
Marianna jedenfalls wird erst einmal weggeschafft. Keine Walnusskekse mehr.
Auch der jugendliche Sidel kommt vor: Neugierig, wagemutig und rebellisch, wie es sich gehört. Sein Vater war Handschuhfabrikant. Für so Leute, die dringend Handschuhe aus feinstem Leder brauchen, damit sie sich die Finger nicht dreckig machen. Jedes verdammte Detail ist eine Metapher. Oder auch nicht. Je nachdem, wie man den Roman liest. In jungen Jahren lernt Isaak David Pearl kennen und ist fasziniert von seinen Geschichten und von seiner Chuzpe. In späteren Jahren ist Sidel Pearl in fröhlicher Ambivalenz zugetan und in verhasster Verbundenheit. Pearl ist eigentlich der Superkriminelle, den er bekämpfen müsste, was auch tut, irgendwie. Und von dem er abhängig ist, auch wenn er behauptet, nicht gewusst zu haben, dass der ihn protegierte.
Tausendundeine Facette, Ebene, Perspektive von diesem Roman könnte man beleuchten.
Vielleicht ist das sein Wesen: Es gibt alles und alles auch nicht oder vielleicht oder ein bisschen. Oder es würde es geben können.
Nur eines ist sicher: Du gehörst dem, auf dessen Land du stehst.
Und nu gucken Sie mal unter Ihre Füße. 

Cover des Buches Wolf hetzt die Meute (ISBN: 9783865323873)

Bewertung zu "Wolf hetzt die Meute" von Martin Schöne

Wolf hetzt die Meute
Anne-Kuhlmeyervor 10 Jahren
blutig, unernst, hammerhart

Sie da! Ja, Sie! 

Lesen da mal rein! Schon der Bildung wegen. Es erwarten Sie nützliche Tipps, wie Sie z.B. eine fremde Wohnung effizient durchsuchen oder einen Schlagstockangriff elegant abwehren. Aber auch falls Sie das schon können, wird Wolf, der Ex-Zielfahnder und Privatier, Sie ansprechen. Nämlich direkt.
Und er fackelt nicht lange, sondern kommt direkt auf den Punkt.
Sein Ziehsohn Philip wird vermisst, wie schon dessen Vater und Wolfs Freund Peter 24 Jahre zuvor. Lange und mit allen Mitteln hatte Wolf so intensiv wie erfolglos nach dem Freund gesucht. Peter verschwand in der Nacht des Mauerfalls und tauchte nie wieder auf. Wolf glaubt, seiner unerfüllten Liebe Anke, Philips Mutter, etwas schuldig zu sein. Er reist von seinem Exil in Malta zurück nach Berlin, klinkt sich in Philips Job als Wachmann in einer Sicherheitsfirma, die sich „Heimat“ nennt, ein und bewacht den DDR, den Dritten Deutschen Rundfunk (!). Das Gebäude ist ein kleeblattförmiges Monstrum mit fünf Untergeschossen, einige davon ungenutzt und heruntergekommen in ödem DDR-Design samt Stasi-Vergangenheit.
Weitere Mitarbeiter des DDR sind seit Monaten verschwunden, wie sich zeigt. Die Stadt will Personal abbauen und letztlich die Schließung des Senders erzwingen. Niemand berichtet über die Vermissten.
Wolf ermittelt under cover in der „Heimat“-Truppe, er entdeckt einen Schemen im Untergrund, getrocknetes Blut und verschlossene Türen ...

Man könnte meinen, es handele sich um einen von den bis zum Gähnen durchdeklinierten Serienkillerblödsinnsromanen. Aber so ist es nicht. Wolf ist ein Typ. Arrogant, gewitzt, idiotisch, verletzlich, risikobereit, schlau, analytisch, feige und gefühlslegasthenisch. Irgendwas zwischen James Bond, Phillip Marlow und Merlin. Rasant entwickelt Martin Schöne seinen ersten Roman, an manchen Stellen noch ein wenig plakativ, okay. Aber die Satire auf Verschwörungstheorie- und Serienkillertrashliteratur ist gelungen. Auch das Fernsehen bekommt sein Fett weg, und zwar von einem Insider, denn Martin Schöne ist als Redakteur bei 3sat Kulturzeit tätig.
Wunderbar persifliert ist auch die DDR-Nostalgie, ohne zu übersehen, dass die Menschen die einst unter diktatorischen Bedingungen lebten, immer noch da sind, sich neu bestimmen, neu arrangieren, neu orientieren oder ihre festgezurrten Überzeugungen verbergen mussten bzw. müssen.
Blutig, unernst und hammerhart ist der Roman ein großer Spaß für Jungs. Und für Mädels, die Jungsspielzeug mögen. Aber er erzählt auch von Bindung und Freundschaft, und von der Angst vor der Liebe.

Cover des Buches Sonnentau (ISBN: 9783627002053)

Bewertung zu "Sonnentau" von Kai Hensel

Sonnentau
Anne-Kuhlmeyervor 10 Jahren
bissig & böse

Wenige Sekunden lang bebt die Erde und die Hölle bricht ins Paradies. Nicht, dass Haiti ein Paradies gewesen wäre. Armut, Gewalt, Korruption – das kleine Land unter der tropischen Sonne hatte auch vor der Katastrophe mit ungezählten Toten genug Probleme. Doch diese Erschütterung bewegt die Welt. Menschliches Mitleid spült 2010 Helfer und Gelder ins Land.
2013 sind die Geld- und Menschenströme fast versiegt. Hilfsprojekte stecken fest oder liegen brach. Doch Maria Brechts Schulfreundin Jooly, die verwöhnungsverwahrloste Tochter eines Schönheitschirurgen, folgt dem plötzlichen Wunsch, ihrem Leben Sinn zu verleihen, und reist von Berlin nach Haiti, um Gutes zu tun. Sie schreibt ein paar Mails, dann bricht der Kontakt ab. Kurz darauf wird Maria von Jollys Vater gebeten, seine Tochter zu suchen. Tot sei sie, ihre Leiche verschwunden. Maria hat gute Gründe, sein Geld anzunehmen und ihren Tresen in Kreuzberg gegen ein Hotelzimmer in Port-au-Prince zu tauschen. (Ihr aufbrausendes Naturell bescherte ihr eine Geldstrafe wegen Körperverletzung, die sie nicht zahlen kann.)
Maria nimmt Kontakt zur Helferszene auf. Die ist ganz einfach zu erkennen. Die Helfer sind weiß und trinken Sekt, alle anderen sind schwarz und bringen ihn. Oder leben in Slums.
Gutgemeinte, sinnlose Projekte von Wohlmeinenden arrogant angestrebt, scheitern zwangsläufig.
Eine Abgeordnete des Bremer Stadtparlaments mit haitianischen Wurzeln will eine Eisenbahn quer durchs Land bauen lassen. Infrastruktur für Haiti und Arbeitsplätze für das arme Bremen. Der Fotograf, Rafael Velasco, soll sie „menschlich“, vor allem „menschlich“ ablichten fürs Image. Was nichts weiter heißen soll, als: Zeige keinem mein wirkliches Ziel. Aber nicht nur sie, jeder Beteiligte hat ein spezielles Motiv abseits von Hilfe.
Rhodes z.B. (der auch schon mal Herr Rhodes genannt wird!) baut ein Museum, dass die geologischen Zusammenhänge des Erdbebens verdeutlichen soll, um den kruden Verschwörungstheorien (von Alaska aus sei das Beben mit Hektometerwellen über weiß der Henker was für Wege gesteuert worden) entgegen zu wirken. Aufklärerisch will er wiedergutmachen. Nämlich die Millionen, die ihm aus einem Agrardeal der USA mit der haitianischen Regierung zugeflossen sind. Zu wessen Lasten, ist klar.
Mads, der Arzt, ist schon lange in Port-au-Prince. Kurz nach dem Beben impfte er Leute in den dreckigsten Slums, auf dass sie keine Seuchen heimsuchten. Ein paar starben. Was nicht weiter auffiel angesichts des hunderttausendfachen Sterbens. Er blieb. Zum Wiedergutmachen.
Craig versorgt die Leute mit Seife. Das ist besser, als zu Hause zu sein, weil ihn dort die Familie unter Druck setzt. Ein paar kleine, schmutzige Nebenbeigeschäfte sollen ihm wieder auf die Beine helfen.
Craig, Rafael und Maria fahren in die Berge auf der Suche nach Joolys Leiche. Zunächst finden sie sie nicht, stattdessen viele andere ...
Die Glut, der Mangel, die Ungleichheit und die ständige Bedrohung durch Kriminalität verändern nicht nur die Haitianer. Die Helfer mit durchaus teilaltruistischem Ansinnen unterschätzen die Bedingungen in ein einem zerstörten, bitterarmen Land. Sie verändern sich. Nicht zu ihrem Besten. Und jede Figur auf ihre spezifische Weise. Dabei steht nicht nur der offensichtliche Sekundärgewinn der Entwicklungshilfe in Frage (schon allein das Wort: Geberländer!), sondern Altruismus an sich. Altruismus ohne Gewinn für den Einzelnen gibt es nicht. Das ist auch nicht nötig, solange individueller und sozialer Gewinn ausgewogen sind. Der Roman entlarvt die Verlogenheit der sogenannten Hilfe, die die Weltordnung in schwarzarm und weißreich zementiert. Der Titel „Sonnentau“ – man muss an die Moorpflanze Sonnentau denken, die ihre Beute mit klebriger Süße anlockt, um sie zu verschlingen – könnte passender nicht sein.
Kai Hensels zweiter Roman ist ein vielschichtiger, komplexer Politthriller (auf dem ruhig „Thriller“ draufstehen dürfte) über die Arroganz, die Ahnungslosigkeit und die Ignoranz der Besitzenden. Er ist genau recherchiert, bissig, böse und schonungslos. Literatur für Große!


Cover des Buches Love@Miriam (ISBN: 9783937357713)

Bewertung zu "Love@Miriam" von Christiane Geldmacher

Love@Miriam
Anne-Kuhlmeyervor 11 Jahren
Rezension zu "Love@Miriam" von Christiane Geldmacher

Harry liebt Miriam seit der Schulzeit. Inzwischen sind sie Anfang Dreißig und es ist vorbei mit ihnen, seit zwei Jahren und dem Tod von Harrys Vater schon. Harry liebt Miriam immer noch. Sowas soll’s ja geben. Er trifft sie wieder. Auf Facebook. Wenn er sich nur genug ins Zeug legt, wird sie ihren neuen Freund Ben verlassen und zu ihm zurückkehren, da ist er sicher. Harry legt sich ins Zeug. Tag und Nacht. Darüber verliert er seine Arbeit, säuft und ist ausschließlich mit dem Projekt „Miriam“ beschäftigt. Niemand versteht ihn. Nur der Leser blickt in seine Tagebuchaufzeichnungen, seine E-Mails, seine Chatverläufe und begleitet ihn in seiner von absurden Gedankengängen, Illusionen und Verstiegenheiten vernebelten Welt der Obsession. Als er von Ben und dessen Kumpels zusammengeschlagen wird, weil er Ben und Miriam stalkt, erfasst ihn eine unbändige Wut. Und er hat einen Plan …

Christiane Geldmachers Debut kommt zunächst leicht, fast heiter daher im Kommunikationsstil der social Medias. Zunächst erinnert es ein wenig an „Gut gegen Nordwind“ (Daniel Glattauer), doch dann wird alles ganz anders …
Man spielt Spiele auf Facebook, plaudert über Gott und die Welt und versucht den eigenen sozialen Status zu festigen oder zu heben, Missverständnisse und Kränkungen bleiben nicht aus, ganz wie im richtigen Leben. Witzig, ungewöhnlich in den Text eingearbeitet finden sich Facebook-typische Icons und Symbole.
Ernsthaft komisch wird es, als die Polizei ein Facebook-Profil anlegt, um einen Mord aufzuklären. Dabei sind die Polizisten eine gelungene Parodie auf das übliche Ermittlungsgespann, wie wir es aus unzähligen Krimis kennen.
Sehr treffend und völlig erklärungsfrei in Wort und Bild erzählt die Autorin Harrys biographischen Hintergrund. Eine hilflose, unselbständige Mutter neben einem egomanen Vater, der in der alzheimerschen Verblödung versinkt und von ihr und Miriam bis zu seinem Tod zwar abgelehnt, aber dennoch gepflegt wird. Daran zerbricht die Beziehung der jungen Leute. Und an der Sprachlosigkeit und Eiseskälte im familiären Milieu.
Anforderungen an Leistung, Perfektion und Status allerdings bleiben bestehen und spitzen sich in dem Freundschaftsnetz auf Facebook zu. Fehler können sozial tödlich sein und sind verboten. Das Selbstkonzept wird immer abhängiger von der Anzahl der „Freunde“ und den „likes“ unter den Beiträgen. Aber der Roman ist keine Streitschrift gegen neue Kommunikationsmittel, noch hebt er den erzieherischen Zeigefinger, vielmehr bildet er die zunehmende Entsolidarisierung, das Versagen der Familie, die Einsamkeit unter dem höchst fragwürdigen Ideal der Individualisierung ab.
Christiane Geldmacher gelingt es auf eine unterhaltsam – ironische und plausible Weise, von der Wut, der Kränkung, der Verlassenheit und der Qual zu erzählen, von den hermetischen Bedingungen, unter denen all das reifen kann, um in Gewalt und Tod zu gipfeln, eben nicht nur bei devianten Sonderlingen, sondern bei potenziell jedem.

Cover des Buches Abwärts (ISBN: 9783865321176)

Bewertung zu "Abwärts" von Frank Göhre

Abwärts
Anne-Kuhlmeyervor 12 Jahren
Rezension zu "Abwärts" von Frank Göhre

Der Film ist ein Klassiker, der Roman zum Film auch. In Gedenken an den früh verstorbenen Regisseur Carl Schenkel fügt der Autor die Entstehungsgeschichte von der Idee bis zur Premiere an, was ebenso spannend wie der Roman selbst ist.
Die Geschichte kennt eigentlich jeder, der in den letzten Jahrzehnten schon gelebt hat. Vier Menschen - drei Männer, eine Frau - stecken am späten Abend im Fahrstuhl eines Bürohochhauses fest, vier sehr unterschiedliche Menschen. Panik, Wut, Resignation, Ignoranz wechseln zwischen den vieren, während sie Stunde um Stunde ausharren, auf Rettung warten, nach Lösungen suchen, sich kennenlernen und heftig aneinander geraten. Jörg und Marion sind Konkurrenten in ihrer Firma, hatten eine kurze Affäre miteinander. Gössmann, der angepasste und gedemütigte Buchhalter (Mobbing war 1984 noch kein Modewort), will endlich seinen Anteil vom Kuchen. Der junge Pit, der nach der Auffassung der Älteren der Null-Bock-Generation angehört, ist längst nicht so ambitionslos, wie er sich gibt. Sie alle sind Vertreter von sozialen Gruppen des bundesdeutschen Alltags der 1980er Jahre - satt, unersättlich, wertereduziert und mehr oder weniger desillusioniert, wie er sich in jener Zeit gestaltet. Man hat sich bequem eingerichtet im Kalten Krieg mit seinen Grenzen und Perspektivlosigkeiten. Und doch überschattet die Schuld Karrierepläne, Ordnungszwang und Reihenhausgemütlichkeit. Schuld, die im Roman vor allem die Männer zu tragen scheinen. Der ausgebrannte Jörg in seiner Ignoranz jeglicher Verantwortung gegenüber. Gössmann in seiner preußischen Obrigkeitshörigkeit. Der Pförtner, der formal und den Vorschriften folgend seinen Job absitzt, während vier Menschen im Fahrstuhl in Not geraten, weil die Seile zu reißen drohen. Unter anderen sozialen Bedingungen hatten solche Haltungen in eine Katastrophe gemündet. Aber davon wollte man auch Jahrzehnte später nicht viel wissen.
Interessanterweise stellt sich den Frauenfiguren die Schuldfrage nicht. Zwar folgen sie ihren Interessen, die aber richten sich vor allem an bzw. gegen die Männer. Marion will (und bekommt) die Stellung von Jörg. Tina, eine Edelhure, will ihr Geld, und möglichst viel davon, von dem betrügerischen Chef Gössmanns. Eine Ahnung der Rollenkonflikte, die sich heute zuspitzen, zeichnet sich ab.
So reduziert sich die Story in Ort und Personal gestaltet, so fokussiert wirft sie Schlaglichter auf eine Gesellschaft, die ihre Geschichte verleugnet und ihre Zukunft verhökert. Dem Autor gelingt dies, in einem atemlosen, rasanten Tempo zu erzählen. Hochspannung!

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