Annesofia
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Annesofias Bücher
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Bewertung zu "Nichts. Was im Leben wichtig ist - Das Hörspiel" von Janne Teller
Minne, Macht und sexuelle Triebe. Ein kluger, facettenreicher Opernroman über die Macht und ihre Deformationen
Der preußische Minister Heinrich Friedrich Karl Reichsfreiherr vom und zum Stein wusste: 'Regierung kann nur von der höchsten Gewalt ausgehen'. Aus Liebe zu seiner Königin Luise bekämpfte er Napoleon, doch da er den monarchischen Regierungsstil abschaffen und den Staat grundlegend reformieren wollte, entließ König Friedrich Wilhelm II. ihn als Finanzminister.
Auch der Held aus Wolfgang Herles' Roman "Die Dirigentin'" heißt Stein, er ist ebenfalls ein Minister, der geschasst wird. Grausam per SMS von der Bundeskanzlerin, die ihm einen Dirigentenstab in die Hand drückt, als er das Zepter abgeben muss. Doch Jakob Stein ist kein Reformer, eher ein machtbewusster Karrierist, der unter seiner neuen Bedeutungslosigkeit leidet. Er flüchtet in die Welt der Kunst und verliebt sich in Maria Bensson, die an den Opernhäusern von München, Wien, Zürich als Dirigentin reüssiert hat. Stein, der sich als 'sexfreie Zone' bezeichnet, bewundert mächtige Frauen. Freilich übersieht er in seiner Begeisterung, dass Maria lesbisch und mit einer Züricher Bankerin liiert ist. Der Leser erfährt dies in einem Briefwechsel zwischen Maria und ihrer Bankerin, den Herles als Erzählebene in die Handlung eingebaut hat: dort mokiert sich die Dirigentin über den liebestollen Stein und macht ihn lächerlich. Stein, der als Vorruheständler nichts zu tun hat, steigert sich derweil in diese Liebe hinein, wird gar zum Stalker, der seiner Angebeteten von Salzburg aus quer durch Europa bis nach Berlin an die Lindenoper folgt, wo die Bensson Wagners 'Rheingold' inszenieren soll. Als Maria, die mit Gewalt Intendantin in Berlin werden will, in eine politische Intrige gerät, wittert Stein seine Chance. Politik ist schließlich sein Metier! Er macht sich zu Marias Berater, hofft auf liebende Vergeltung - und eine zweite Karriere in der Kunst. Doch der in unerfülltem Liebeswahn gefangene Stein wird zur Gefahr: für andere und sich selbst. Als er ein Treffen zwischen Maria und seiner Ex-Chefin arrangiert und die beiden Frauen sich verbünden, kommt es zur Katastrophe'...
Macht wird am wirkungsvollsten durch Ironie entlarvt. Friedrich Dürrenmatt, Martin Walser wussten das und der erfahrene Literaturkritiker Herles weiß das natürlich auch. So ist es nicht verwunderlich, wenn er in diesem Roman einen ironischen Ton anschlägt. Eine Tonart', die am Bodensee beheimatete Schriftsteller mit der Muttermilch aufsaugen? Auf alle Fälle verleiht dieser "Bodensee-Sound" der Geschichte eine wunderbare Leichtigkeit. Daneben ist der Roman glänzend recherchiert. Man merkt, dass der ehemalige ZDF-Politikjournalist und langjährige Berliner Kulturredakteur Herles sich in beiden Milieus auskennt und ein profunder Opernkenner ist. Er hat für diesen Roman zahlreiche Gespräche mit großen Dirigenten wie Simone Young und Daniel Barenboim geführt. Handwerklich geschickt verwebt Herles den eigentlichen Handlungsstrang mit zwei weiteren Ebenen: antithetisch spiegelt der Briefwechsel der beiden Frauen die Handlung und Marias Inszenierung der Wagneroper bildet schließlich den Überbau des Romans. Ein kleiner Wermutstropfen: schade, dass der Autor die machtvollen Frauen zu Lesben macht. Dieses Frauenbild bedürfte einer Reform...
Die 'Dirigentin' ist nicht nur eine flott geschriebene Polit-Satire über Aufstieg und Fall, Lust und verschmähte Liebe. Dieser vielschichtige Roman ist vielmehr eine kluge und facettenreiche Analyse der Macht und ihrer Deformationen mit zwei tragisch Liebenden. Stein und Alberich haben sich verknallt in die Idee der absoluten Macht - weil beide ahnen, dass sich Liebe und Machtbewusstsein nicht vereinigen lassen? Stein himmelt Maria an, weil diese ihre Kunst kompromisslos durchsetzt. Er dagegen ist kein Künstler, er liebäugelt höchstens mit der Kunst. Der machtgeile Karrierist begreift nicht, dass ein Künstler etwas wagen muss, auch wenn ihm manchmal etwas misslingt. Weil Stein lediglich taktiert, verwechselt er Karriere mit persönlicher Entwicklung. Verstoßen von der höchsten Gewalt, kann er weder regieren noch lieben. Das macht ihn zum Alberich, der um der Macht willen der wahren Liebe entsagen muss.