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Ariela

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Cover des Buches Mia & Serafina (ISBN: 9781482363739)

Bewertung zu "Mia & Serafina" von Kerstin Michelsen

Mia & Serafina
Arielavor 11 Jahren
von kleinen Wundern und einer großen Freunschaft

Eine Maus, die sich im Puppenhaus einrichtet, die in der hohlen Hand schläft, die einem Rechenergebnisse und schlagfertige Antworten ins Ohr flüstert, die dabei aber ihren ganz eigenen Kopf hat, das muss der Traum jeder jungen Leserin sein. Als Kind  hätte ich die Geschichte verschlungen und gebe zu, dass ich es heute auch getan habe, allerdings unter dem Vorwand, das bisherige Gesamtwerk dieser Autorin zur Kenntnis nehmen zu wollen. Liebevoll und stilistisch gekonnt erzählt Kerstin Michelsen von einem schüchternen Mädchen ohne Freunde, dem eine Maus – die Maus seines Lebens – zeigt, dass es selbst die Veränderung sein kann und muss, die es sich wünscht. Oder: “Werde, die du bist, und glaube an dich”. K. Michelsen erzählt in frech spritzigen Dialogen und kreativen narrativen Ideen die Geschichte einer außergewöhnlichen Freundschaft, die Geschichte einer Freundschaft, die Mut macht. Sie erzählt von kleinen Wundern, durchzieht die Erzählung mit Ideen von Abenteuern ohne dafür den realistisch erzählten kindlichen Alltag der Protagonistin zu verlassen. Damit kreiert sie eine Welt, in der Kinder sich zuhause fühlen mögen, warm und einfühlsam, aber nie behaglich langweilig, sondern gerade so, dass Beobachtung, Nachempfinden und behutsames Lernen ohne Zeigefinger möglich sind. Eine sehr schöne kindgerechte, aber anspruchsvolle Lektüre.


Die Originalrezension wurde für den Blog Autorenfreiheit. Die Seite für unabhängige Literatur erstellt www.autorenfreiheit.de

Cover des Buches Gut gelaufen, Thisbe! (ISBN: 9783844818918)

Bewertung zu "Gut gelaufen, Thisbe!" von Monika Kubach

Gut gelaufen, Thisbe!
Arielavor 11 Jahren
Grandiose Satire auf uns

“Noch mehr Rosa ertrage ich nicht”, sagt Ida Obersteyn und meint am Ende des Jahres 2011, dass ihr siebtes Kind ein Junge werden sollte. Vielleicht meint sie aber auch ihr Tagebuch, in dem sie ihre persönliche Sicht auf die Welt so rosarot gefärbt darstellt, wie es rosarot nicht intensiver geht. Zugegeben, das wäre eine Selbstironie, die man der naiv oberflächlichen Frau nur als völlig unbewusste Gedankenleistung unterstellen dürfte. Warum aber sollte einer Frau, die es schafft, ein Tagebuch als persönliche Generalrechtfertigung der eigenen Unzulänglichkeit zu inszenieren, nicht auch ein Funken Selbstironie unterkommen? (Natürlich unbewusst.)

Extrem nah an der Wirklichkeit verläuft das Erzählen ohnehin nicht, es ist immerhin eine Satire. Ironisiert wird nur vermeintlich die untere Gesellschaftsschicht von RTL2-Anhängern in der Figur der Ida Obersteyn.  Durch Idas naiven Blick auf das politisch-gesellschaftliche Geschehen, das sie in ihrem Tagebuch dokumentiert und kommentiert, entsteht beißender Spott und der entsteht gekonnt: auf die deutschen Medien, auf das Verhalten der Politgrößen, auf die Scheinheiligkeit und Ignoranz der Gesellschaft. Man ertappt sich dabei, selbst über gewisse Aussagen der n.tv-Berichterstattung völlig unkritisch hinweggegangen zu sein, damals, in 2011, und jetzt bekommt man den Spiegel vorgehalten. Wir, die wir uns für kritisch und aufgeklärt halten, nicht die Zielgruppe von RTL2. Ida, als deren Repräsentantin, ist der Spiegel, den die Autorin die Straße entlang trägt.

Komik und Spott entstehen aus der Simulation (die nicht selten auch gebrochen wird) einer völligen geistigen Unterbelichtung heraus, mit der die Protagonistin und Erzählinstanz sich über ihre Rolle “als Mutter von sechs Kindern” auslässt. Die Wochenration Tiefkühlpizza beträgt 21 Stück, Bettwäsche wird alle drei Monate gewendet und den Rest erledigt die “große Tochter”, während die Mutter ihr “Toffifeebäuchlein” (ein großartiger Euphemismus für die pikante Realität) zum RTL-Mittagsmagazin aus dem Bett schält. Die große Tochter, über deren Namenlosigkeit trefflich gerätselt werden kann, wird zur Ausnahmeerscheinung und kritischen Instanz. Wenn die im Spannungsverhältnis aus realer Brisanz und erzählter Verharmlosung transportierte Gesellschaftskritik Gefahr läuft, von Ida verwässert zu werden, nennt die ungewöhnlich intelligente und belesene Tochter die Dinge deutlich beim Namen.

Neben der Namenlosigkeit der Tochter bleiben weitere Rätsel der Denkleistung des Lesers überlassen, unter anderem die Frage, welche Bedeutung das Shakespeare-Zitat aus “Ein Sommernachtstraum” im Titel hat oder die Erklärung für das Auftreten seltsamer Geräusche aus dem Arbeitszimmer des Ehemanns und weshalb der arme Mann angeblich nur 10 Tage Urlaubsanspruch haben soll. Brüllend komisch ist die Vorgehensweise, mit der die Familie dem Arbeitszimmer-Rätsel versucht auf die Schliche zu kommen. Ebenso komisch sind die running gags, die den Text durchziehen und bei denen man sich fragt, wie der Autorin nur 52 von einer Sorte einfallen konnten.

Ein klug pointierter satirischer Kommentar auf den Verlauf des Jahres 2011. Für 2012 sollte es dringend wieder einen geben.

Die Originalrezension wurde für den Blog Autorenfreiheit. Die Seite für unabhängige Literatur erstellt www.autorenfreiheit.de



Cover des Buches Ich sag`s nur dir... Teil 1 (ISBN: B00AH0FH2E)

Bewertung zu "Ich sag`s nur dir... Teil 1" von James Henry Burson

Ich sag`s nur dir... Teil 1
Arielavor 11 Jahren
schreibend herausfinden, wer man ist

„Was ist das Innerste? Dinge, die man nicht verraten darf“, schreibt James Henry Burson zu Beginn von „Ich sag‘s nur dir“. Am Schluss des Buches hatte ich den Eindruck, der Satz sei programmatisch zu verstehen. In einer Linie mit dem Titel gedacht – ich sag‘s nur dir, also: Ich sage es nicht allen, ich rufe es nicht in die Welt hinaus, ich behalte es für mich – wird der Text zum Bericht über die Anstrengung, die ein kleiner Junge, ein Jugendlicher, ein junger Mann unternimmt, um sich aus der inneren Dunkelheit zu befreien, in die ihn das Leben und er sich selbst hinein manövriert hat. „Distanz gab mir Sicherheit“, urteilt der erwachsene Erzähler in der Retrospektive über sein Verhalten als Vierjähriger. Der von ihm selbst erfundene „Jänicke-Effekt“ ist es, der ihn am Ende befreit: Sich nicht erst vorzunehmen, jemand werden zu wollen, sondern zu sein, wer man ist.  Herauszufinden aber, wer man ist, das ist James Weg, in dessen Mitte er erkennt, dass er sich nicht erst auf den Weg machen muss, weil er längst unterwegs ist.

Säuglingsheim, Pflegefamilie, Kinderheim, Pflegefamilie, Lehrlingsheim, Burschenschaftsheim… James, dem im Text der Nachname und zeitweise sogar der Vorname fehlt, wird aufgenommen, verwahrt, abgegeben, weitergeschickt, verlegt und die ganze Zeit wartet er stoisch auf ein Zeichen seiner leiblichen Eltern, die ihm zum Finden seiner Identität verhelfen könnten. Solange er wartet und die Hoffnung nicht aufgeben will, versammelt er andere Menschen um sich herum. Er nennt sie „meine kleine Armee“ und befindet sich damit in einer Kriegsrhetorik, wie sie ihm als Vierjähriger aufgezwungen wurde, um ihn gefügig zu machen. Im Kinderheim unterliegt er dem bewusst provozierten Missverständnis, der Krieg sei nicht seit 12 Jahren vorbei, sondern herrsche noch immer. Draußen, vor den Toren des Kinderheims und nur das Kinderheim biete Schutz, solange die Heiminsassen sich fügsam zeigten.

James und die anderen Kinder sind Grausamkeit, Perversion und pädagogischer Inkompetenz ausgesetzt, die heutige Leser schockieren, für damalige Erziehungsberechtigte aber Alltag zu sein schienen. Der Mechanismus, sich vor physischer und psychischer Gewalt  zu schützen, geht über die Innerlichkeit, darüber, sich unauffällig zu verhalten, nicht gesehen zu werden, nichts zu sehen. James legt sich die Marotte zu, die Augen zusammen zu kneifen, um andere nicht zu sehen. Er unterliegt der kindlichen Illusion, darüber selbst unsichtbar zu werden und perfektioniert den Mechanismus bis zur Blindheit seiner gesamten Umwelt gegenüber. „Wer sich nicht bemerkbar machte oder sich gar aufdrängte, hatte keine Chance, von mir wahrgenommen zu werden.“ In der Schule sitzt er neben Mitschülern, ohne sie jemals zur Kenntnis genommen zu haben, die ersten Pflegeeltern bleiben namenlos, bei den Frauen, von denen er berichtet, ist von unzähligen sexuellen Abenteuern die Rede aber niemals von Gefühlen, von Liebe, von Zugewandtheit, von Beziehung. Hier ist ein Kind herangewachsen, dessen Integrität ständig verletzt wurde und das sich innerlich leer fühlt, das von einer Sehnsucht spricht, die es nicht zu benennen weiß.

Die ganze Erzählung lang wirkt James vollkommen isoliert. Selbst wenn er Kontakt aufnimmt, wie in seinen kleinen zwischenmenschlichen Inseln, sind die Dialoge knapp gewählt, die Kommunikation überhaupt findet nur selten tatsächlich statt. Sie bleibt im Innern stecken. Nur der Leser erfährt hin und wieder von dem, was das erlebende Ich umtreibt. Briefe an seinen Vormund erreichen den Leser, nicht aber den Vormund. Warum er seine Pflegeeltern nicht Mama und Papa nennen will, erklärt der Autor dem Leser, nicht aber den Pflegeeltern. Dass er seine Motivation den Pflegeeltern auseinandersetzen würde, wird zumindest nicht berichtet. Was es mit seiner Abneigung gegen Riemchensandalen auf sich hat, darüber wird der Leser informiert, der Pflegevater muss sich mit „Ich will aber keine mit Riemen hinten“ abfinden. Was der Mann, dem die Inszenierung der eigenen Familienidylle durch James verweigert wurde, nicht tut. Er empfindet diese Weigerung zu Sandalen mit Riemen als weitere Provokation und reagiert später mit einem unaussprechlichen Gewaltausbruch, nachdem er von seiner Frau über eine Verfehlung informiert worden war, über die wiederum der Leser den Hintergrund erfährt, nicht aber die Pflegemutter. Was auf allen Seiten fehlt ist Kommunikation. Die Pflegemutter sieht sich aus heiterem Himmel mit einer Zuneigungsbekundung konfrontiert, deren Bedürfnis sogar für den Leser völlig überraschend aufkommt. Bis zu diesem Zeitpunkt erscheint James wie ein distanzierter, einsamer, in sich gekehrter Mensch, der die Provokation als Mittel sieht, die eigenen Grenzen zu wahren. Und plötzlich will er seine Pflegemutter küssen, die pädagogisch inkompetent reagiert, deren Reaktion aber nicht ganz unverständlich ist. Sie weiß nicht, was den Jungen umtreibt, was er fühlt, wie es ihm geht. Und selbst der Leser ahnt es mehr, als dass er es wissen kann.

So wird es später auch dem Heimleiter ergehen, der James nach einem mehrere Wochen dauernden Sitzstreik auf der Couch im Heimeingangsbereich, des Heims verweist. Der Leser, aber nicht der Heimleiter haben von James innerer Motivation erfahren, sich reflektierend, nach sich selbst suchend auf diese Couch zu setzen. Der Heimleiter wird mit einem Ergebnis konfrontiert, das ihm völlig unvorbereitet erscheinen muss und dessen Glaubwürdigkeit er darum anzweifelt. Hätte James eine kooperative Kommunikation versucht, wäre der Selbstfindungsversuch vielleicht toleriert worden, wäre der Kuss nicht verweigert worden, hätten es die offenen Sandalen anstelle der Riemchensandalen sein dürfen. Aber Kooperation, darin ist James nicht sozialisiert worden, darin, sich zu öffnen, mehr von sich preis zu geben, als unbedingt notwendig. Er kennt nur Druck, Gewalt, Repressalien und dem ersten Kooperationsversuch durch seinen Lehrer Lenk steht er argwöhnisch gegenüber. Was den Jungen bewegt, erfährt der Lehrer nicht. Literarisch hält Burson es weitestgehend genauso.

Der Leser beobachtet von außen, wie James zu einem gewaltbereiten, verschlossenen Menschen wird, zu einem, der hasst, der beginnt, sich „für begangenes Unrecht zu rächen“, dessen Selbstbewusstsein durch die neue Macht der Gewaltausübung gegen andere wächst, der den Weg des Krieges und Kampfes beschritten hat, um zu überleben, der über keine Provokation hinwegsehen kann, die ihn erreicht, der um sich herum ausschließlich Feinde sieht. Er geht in den Widerstand. „Den lieben Bub gab es immer weniger“. Beliebtheit ist keines seiner Ziele. „Die Anzahl der Gegner wuchs“. Die Erfahrungen, die James in den ersten zwanzig Jahren seines Lebens gemacht hat, haben ihn an einen Tiefpunkt seiner selbst gebracht. Das Kind, der Junge, der junge Mann ist zu keinem Zeitpunkt mit sich identisch. Authentizität ist eine diffuse Größe für ihn, nach der er glücklicherweise noch immer sucht, danach, „Licht aus der Dunkelheit herausfiltern“ zu können.

Was der Leser aber auch miterleben darf, ist, dass James dafür sorgt, dass die Dinge sich ändern. Er bringt die Kraft auf, sich selbst zu erziehen. Als würde er sich auf dem Tiefpunkt hinhocken, abstützen und springen, sucht er sich Vorbilder, ändert seine Perspektive durch Selbstreflexion, bestimmt die Richtung seiner Entwicklung jetzt selbst. Er leitet die Emanzipation von den ihn beschränkenden Umständen eigenverantwortlich ein. Die Kraft dazu bietet ihm seine kleine Armee von Menschen, die ihn akzeptiert, vielleicht sogar geliebt haben. Und dann kommt es zur Entdeckung des Jänicke-Effekts, der James die ersehnte Befreiung bringt, die der Leser dem jungen Mann sehr gewünscht hat und die ein wunderbares, erwachsenes Ende bietet.

Auf literarischer Ebene allerdings würde ich dem Text gerne ankreiden, dass „frei nach Schnauze“ erzählt wird, was von manchen Lesern durchaus geschätzt wird, als literarische Strategie auch seinen Reiz haben kann, aber nur, wenn die Strategie als solche erkennbar ausgearbeitet wurde. Sätze wie „Ich wäre liebend gerne im Erdboden versunken, aber dazu gab es keine Gelegenheit“ oder „Es half alles nichts. Ich musste da durch“, lesen sich für mich als verwässernde Floskeln, die dem Text seine Kraft rauben. Ein Satz wie „Ein Blick nach links und rechts – oh Schreck – da stand plötzlich keiner mehr!“, lässt mich an ein Kinderstück denken, statt einen ernsthaften, für fremde Leser bearbeiteten erzählenden Sachtext zu erkennen. Plötzlichkeiten durchziehen den Text, die zur Folge haben, dass nicht alle Behauptungen auch erzählerisch vorbereitet wurden. Burson setzt auf Wahrheit, berichtet von den Abartigkeiten im Detail, von „gekotztem Eintopf mit Fettklumpen“, von Auswirkungen des Drogenmissbrauchs und von Schlägereien, lässt die ihn betreffende Wahrhaftigkeit aber auch für den Leser und erst Recht für seine Mitmenschen nur hier und da durchscheinen.

Was – wenn auch aus einer bewussten Intention heraus – fehlt, ist das Erzählen über das Innere der Geschichte und damit über die Seelentiefe des Kindes. Die Entwicklung muss an seinen äußeren Handlungen abgelesen werden, wo aber vor allem von Schlägereien und Gewalt erzählt wird. Nicht selten gibt es Deutungen, die mir als Leser keine Wahl lassen wollen, das Erzählte auch anders sehen zu dürfen. „Ich würde lernen müssen, Begehrlichkeiten zu unterdrücken“. Mit solchen Sätzen stilisiert Burson den James im Text subtil als Opfer und solche Formulierungen verlangen nach Zustimmung durch den Leser. Ein Leser kann auf den konkreten Satz nichts anderes sagen als: Natürlich hat jeder ein Recht auf Liebe. An dieser Stelle würde ich dem Text-James, von dem ich nicht immer ganz sicher bin, ob er trotz Namensgleichheit wirklich mit dem Autor identisch ist, allerdings die Zustimmung gerne verweigern. Es geht nicht um Unterdrückung, lieber James, würde ich gerne sagen, sondern um Selbstkontrolle. Selbstverständlich musst du lernen, deine Begehrlichkeiten zu kontrollieren, denn wo kämen wir hin, wenn sich jeder nehmen könnte, was er will? Oder dem Satz gegenüber: „Ich entschied, dass ich zum Schmusen wohl zu alt sei“. Im konkreten Kontext geht es nicht um das Alter, sondern um die Beziehungsqualität, die zum Schmusen keinerlei Grundlage geboten hat. Gerade bei seinem Verhalten im Sommerferienheim, bei dessen Aufenthalt er eine Betreuerin ganz für sich vereinnahmen will, verspielt der Text-James einiges an Sympathiepunkten, indem der Autor die Reflexion über dieses Fehlverhalten nur sehr spärlich beisteuert, den Jungen auch hier das Kriegsvokabular benutzen lässt, ohne dem Leser die tatsächliche innere Bedeutung zu zeigen. Er kann es erahnen. Vermutlich hat er ausreichend Lebenserfahrung, sich den Rest zu denken. Aber sagen tut es der Text nicht. Was der Text sagt ist: „Nichts da! Ich würde sie nicht mit jemandem teilen. Keine Chance den Roten!“ Dem Leser begegnet ein emotional ausgehungertes Kind, das die Grenzen anderer nicht respektieren kann und dessen Gewalteskapaden nur schwer Verständnis entgegengebracht werden kann, wo die Kommunikation über seine Gefühle fehlt. Sein Entschluss zur Berufswahl des Erziehers wird auch für den Leser keineswegs einleuchtend motiviert: „Das war so verrückt, das konnte nur gut sein“. Was der Gedanke in ihm auslöst und weshalb er ihn nicht mehr loslässt, das wäre eine der wichtigsten Erklärungen, die den Text authentisch und reich machen würden und die ich beim Lesen vermisst habe: Was bewegt ihn an dieser verrückten Idee und was verspricht er sich von dieser Zukunftsaussicht, das heißt, was hat er, trotz aller Widrigkeiten, aus seinen bisherigen Erfahrungen mitnehmen können, was hat er bewahren und was auch trotz allem aufbauen können?

Insgesamt hat man keine Schwierigkeiten, den Text anzunehmen, das Erzählte als Beschreibung eines Lebenswegs zu lesen und dem Autor bzw. dem James im Text zu seiner erfolgreichen Emanzipation von seinen unglücklichen Lebensumständen zu gratulieren. Literarisch würde ich diesem inhaltlich durchaus wertvollen Text aber einen Feinschliff wünschen, der sich auch in der Orthografie bemerkbar machen dürfte.

Die Originalrezension wurde für den Blog Autorenfreiheit. Die Seite für unabhängige Literatur erstellt www.autorenfreiheit.de

Cover des Buches Stillmanns Münzen (ISBN: 9781484083956)

Bewertung zu "Stillmanns Münzen" von Christian Sidjani

Stillmanns Münzen
Arielavor 11 Jahren
großartig, dieses literarische Spiel

Von diesem Autor wurde bereits ein anderer kurzer Text hier mit fünf Sternen rezensiert, die er für “Stillmanns Münzen”, eine Schauernovelle, von mir wieder bekommt. Gleich ab dem Prolog hat man das Gefühl, es mit einem Profi des Genres zu tun zu haben, mit einem Profi des geheimnisvollen Erzählens. Seinen Ellipsen kann man als Leser vertrauen, hier schreibt einer, der weiß was er tut und wann er die Informationen rausrückt, die er zum gelungenen Spannungsaufbau vorenthält.

Die narrative Strategie kurz benannt ist das Spiel mit der mise en abyme, eine Geschichte, die sich selbst noch einmal erzählt (die Geschichte in der Geschichte, im Drama bekannt als play in the play). Der namenlose Ich-Erzähler der Rahmenhandlung beschreibt sich selbst als “sozial verstört”, studiert, scheint ohne Sozialkontakte zu leben, ohne Ziel vor allem und flüchtet sich desillusioniert und unglücklich in das Geschichtenerzählen. Sein Arbeitsplatz, das Kino, für den Erzähler eine in sich abgeschlossene und nach außen hin abgeschottete Welt, zu dessen Inventar er werden will, ist gleichzeitig Hauptschauplatz der Erzählung, ein Platz, an dem wieder Geschichten erzählt werden und an dem der Erzähler seine eigenen Inspirationen erhält. Die Inspirationsquelle ist aber nicht etwa die dort gezeigten Filme, sondern sein persönlicher Begleiter und Gesprächspartner, der Tod. Die Geschichten, zu denen dieser Begleiter den Ich-Erzähler inspiriert, sind die vom Ende des Menschen, vom Ablauf der individuellen Zeit. Wenn der Erzähler über sich sagt: “Wie im Wahn schreiben, nenne ich das”, sollte man ihn dafür ernst nehmen.

Denn dann wird der intradiegetische Erzähler der Rahmenhandlung (Erzähler auch an Handlung teilnehmende Figur) zum extradiegetischen Erzähler der Binnenhandlung (Erzähler nur noch Erzähler, nimmt an Handlung nicht mehr teil) um Michael, eine vom Ich-Erzähler erfundene Figur, die ihrerseits genau wie der Ich-Erzähler in einem Kino arbeitet, in dem selben sogar wie der Ich-Erzähler “oder einem genauen Abbild dessen”.  ”Ich nenne ihn Michael”, kündigt der Erzähler an, dekonstruiert in metafiktionalen Kommentaren immer wieder das Erzählen als künstliche Produktion und seine Abhängigkeit von Wahrnehmungscodes (die man “aus klassischen Situationen (…) aus einigen Filmen” kennt) und deklariert auch seine Unsicherheiten als Autor über jenen Erzählvorgang, den er zum ersten Mal ohne die Anleitung durch den Tod unternimmt. Die Binnenhandlung wird dabei zum Abbild der Rahmenhandlung, zum Spiegelbild, das sich selbst spiegelt. Was der Spiegel zurückwirft, produziert wiederum Unsicherheit im Ich-Erzähler über seine Welt, die er zunehmend auch als Erzählung begreifen will: “die perfekte Traumfrau”, die “wie ausgedacht wirkt”, die vom Erzähler künstlich hergestellten Zusammenhänge, die seiner Meinung nach das Gehirn braucht, “um Eindrücke zu ordnen”, die zunehmende Interpretation von Zufällen als Hinweise auf etwas.

Die Wohnung des Erzählers und der erzählten Figur unterscheiden sich nur durch Anwesenheit bzw. Abwesenheit eines Schreibtischs, der Ort an dem in der ersten Erzählebene die Geschichte der zweiten Ebene entsteht, wobei die zweite Ebene die erste Ebene aufnimmt und weiterführt. Zum Beispiel in der Erscheinung des hageren Mannes von der Bahnhaltestelle, der per künstlerischer Entscheidung von der ersten in die zweite Ebene getragen wird und dort eine Mystik verliehen bekommt, die der Ich-Erzähler ihm in seiner realen Welt nur künstlich andichten kann.

In allem ähnelt Michael dem Ich-Erzähler, selbst wenn der Erzähler das Leben der Figur für erbärmlicher hält als sein eigenes es ist. Im Finden einer zweiten Münze aber, gehen ihre Geschichten auseinander, wird die eine Geschichte fantastisch und übertrumpft die andere an Mystik und Spannung. Hier, in der zweiten ist jene Dramatik erzählt, die in der ersten nicht recht aufkommen will, in der ersten, die eben Leben ist, das in seiner Erzählbarkeit Grenzen hat. Da wird Dunkelheit durch Stromausfall produziert, wo in der zweiten Ebene Blindheit herrscht, da geht der hagere Mann am Haus vorbei, wo er in der zweiten Eben ins Haus eindringt und im Erzählen an sich besteht für den Erzähler die Gefahr, sich im Vermischen der Ebenen zu verlieren.

Jenseits dieses literarischen Spiels, dem zu folgen Teil des Lesegenusses ist, arbeitet der Autor gekonnt mit Sprache, mit Andeutung und Auslassung, um gut lesbare Spannung zu erzeugen. Eigentlich geschieht gar nicht viel, aber als Michael sich die Münzen auf die Augen legt, hält man dennoch den Atem an, ebenso wie beim stromausfallbedingten Fahrstuhlstopp, bei dem man auf eine Wende im Leben des Ich-Erzählers hofft. Noch nach Beendigung der Lektüre wird man vielleicht eine Weile über den Zusammenhang von Dunkelheit, Blindheit, unbemerkten Begabungen und der Gabe des Sehens nachdenken und selbstverständlich den Tod als seltsamen Begleiter. Der Text, der jenseits des Mainstreams einzuordnen ist, endet ambivalent, passend zur mise en abyme, die nicht endet, nicht enden muss – man könnte es mit dem Kinderlied “Ein Mops kommt in die Küche” vergleichen, um die Struktur der Weiterführung plakativ zu machen. Der Text endet, die Geschichte aber… Und wenn es weitergehen würde, wäre ich noch immer gespannt, was aus dem Ich-Erzähler wird, der sich selbst zum Schluss ein Versprechen gibt.

Die Originalrezension wurde für den Blog Autorenfreiheit. Die Seite für unabhängige Literatur erstellt www.autorenfreiheit.de

Cover des Buches Leif - Hungrig nach Leben: Ein jugendlicher Liebesroman (ISBN: B00DQNRXP8)

Bewertung zu "Leif - Hungrig nach Leben: Ein jugendlicher Liebesroman" von Silke Heichel

Leif - Hungrig nach Leben: Ein jugendlicher Liebesroman
Arielavor 11 Jahren
Die perfekte erste Liebe

Man könnte diesen Roman mit Nicole Schröters “Oliver – Peace of mind” zusammen lesen und eine sehr fruchtbare vergleichende Lektüre vornehmen. Sie würde etwas über das  Jungsein in diesen Tagen und seine literarische Darstellung aussagen. In beiden Romanen geht es um Liebe, um Verlust, um Schmerz, um das Bedürfnis nach Freiheit, um Irrtümer, falsche Entscheidungen, um das Zujungsein, um das Leben, den Tod und alles ist miteinander verschränkt, nichts wird ausgespart von den jugendlichen Protagonisten der Romane.

Wie Nicole Schröters Roman strahlt auch Leif – Hungrig nach Leben die Kraft der Echtheit aus. Silke Heichel erzählt nicht kunstvoll raffiniert, sie erzählt einfach. Sie erzählt klar und schnörkellos, wählt deutliche Worte, redet nicht drum herum und darin liegt eine Authentizität, die besticht, die fesselt, die hineinzieht, in die Lektüre, aber auch in die Erinnerung der eigenen Jugend, die mit diesem Text heraufbeschworen wird, selbst wenn man nicht gerade jemanden wie Leif kannte oder jemand wie Nina war.

Die Erzählinstanz ist Nina Schultheiß, als erzählendes Ich erwachsen, als erzähltes Ich 16 Jahre jung und zum ersten Mal verliebt. Gerade die gewählte Erzählsituation dieses Romans, in der das Auseinanderfallen von Fokalisierungsinstanz und Erzählinstanz gelungen ist, birgt eine ganz eigene Spannung. Die Einstiegssituation erscheint völlig rätselhaft und das Bewusstsein für diese Rätselhaftigkeit begleitet den Leser die gesamte Lektüre hindurch. Man fragt sich immer wieder, was passieren mag, dass es zu diesem Eingangsgespräch kommen kann. Nina ist also verliebt, die erste Liebe, und sie trifft ausgerechnet auf Leif Teichert, Lehrersohn (womit er es nicht leicht hat), 17 Jahre jung, voller Lebenslust, Kraft, Leichtigkeit, Leichtsinn. Leif ist besonders.  Von ihm geküsst zu werden ist es auch: besonders aufregend. Von ihm verlassen zu werden allerdings scheint normal. Dem jungen Mann eilt ein Ruf voraus, der ihn in keinem guten Licht erscheinen lässt, nicht mal bei seinen eigenen Eltern. Aber Leif ist nicht oberflächlich, nicht egoistisch. Seine Popularität im weiblichen Fanclub ist ihm lästig. Er sucht nach mehr, nach tieferer Bindung, die er mit Nina findet. Allerdings sucht er die Bindung nicht um der Bindung, sondern um der Tiefe willen. Für Leif muss das Leben intensiv sein, es muss gelebt werden mit allem, was sich bietet und wenn sich nicht genug bietet, dann schafft Leif sich die Situationen, die noch intensiveres Erleben versprechen.

Bei Nina könnte er Halt finden, aber das ist den Jugendlichen nicht klar, dazu sind sie zu jung. Den Halt, den Nina anbietet, Verlässlichkeit und Treue, Attribute, die sie selbst auch einfordert, empfindet Leif als einengend. Die Gegensätzlichkeit der jugendlichen Positionen wird nicht bewertet, sie wird nur dargestellt, selbst wenn hier ausschließlich Ninas Sicht geschildert wird. Als Leser fühlt man sich nicht gezwungen, einer Sicht zu folgen und die andere abzulehnen. In den Gedanken, die die Jugendlichen in ihren Dialogen entwickeln, kann man beide Sichtweisen sehr entspannt auf sich wirken lassen und erkennt zwangsläufig, dass beide ihre Berechtigung haben. So fordert Leif dazu auf, sich treiben zu lassen, abzuwarten, wie die Dinge sich entwickeln während Nina Sicherheit sucht und sich vor Enttäuschungen schützen will. Wenn Nina das vorläufige Scheitern der Beziehung kommentiert: “Du bist nur nicht bereit, deinen Teil beizutragen”, kommt man als erwachsener Leser dennoch ins Grübeln, wenn man bereit ist, wirklich beiden Positionen gleiches Gewicht zu geben. Muss Liebe denn mit Besitz verwechselt werden?, wäre ungefähr Leifs Einwand.

Wunderbar liest sich die Entwicklung der Jugendlichen (und der beteiligten Erwachsenen!), selbst wenn die erzählte Zeit nur etwas mehr als ein halbes Jahr ausmacht. Und doch empfindet man besonders Nina zum Ende der Kerngeschichte als wesentlich selbstbewusster, stärker und erwachsener als zu Beginn der Geschichte. Der Leser konnte dem Sturm der Emotionen folgen, der von der Unsicherheit aus mangelnder Erfahrung über den Mut zu Vertrauen, Leidenschaft und wachsender Liebe bis zur Fähigkeit, Grenzen zu setzen, für sich selbst zu sorgen, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen geht. Die Entwicklung bei Leif verläuft zu einem Teil parallel. Hier geht es in der Erzählung allerdings mehr um das Verstehen dieser Persönlichkeit, dieser unbedingten Suche nach dem Absoluten.

Glücklicherweise wird hier auf jedes Rollenklischee verzichtet. Jede der Figuren macht Fehler, von den Eltern bis zu den Jugendlichen, aber jede Figur hat ihre Stärken. Verhalten, Denken und Handeln liegt in der jeweiligen Individualität begründet. Dinge wie “Frauengespräche”, wie sie uns von diversen Fernsehserien als normal suggeriert werden, werden hier im inneren Monolog der 16-Jährigen als nicht normal, sogar als klare Grenzüberschreitung,  abgelehnt. “Unbedarft und furchtlos” sind die Vertreter beider Geschlechter und beide genießen ihr “Leben in vollen Zügen” auf der Suche nach “Abenteuer”. Selbst wenn Nina sich wegen eines Pickels in der Wohnung vergräbt und Leif seine Abenteuersuche völlig übertreibt und es geschlechtertypisches Verhalten gibt, werden dennoch keine Rollenklischees zementiert. Leif und Nina stehen abwechselnd füreinander ein, machen sich Sorgen umeinander, ohne Ungleichgewicht. Dass Nina zuweilen opferbereiter scheint, um die Beziehung zu halten, liegt daran, dass einer wie Leif Maßstäbe setzt, selbst wenn er die Widersprüche in seinem Denken, Fühlen und Handeln nicht auflösen kann. Einen wie Leif gibt man nicht so schnell auf, was Leif mit einer wie Nina eigentlich auch nicht tun will. Bei allem Auf und Ab in dieser Liebesgeschichte, bei der man Glück und Schmerz wirklich mitfühlt, denkt man immer wieder: So perfekt muss die erste Liebe einfach sein!

Die Originalrezension wurde für den Blog Autorenfreiheit. Die Seite für unabhängige Literatur erstellt www.autorenfreiheit.de

Cover des Buches Krezmers Wirren (ISBN: B00DJ7DYNG)

Bewertung zu "Krezmers Wirren" von Benedikt Theis

Krezmers Wirren
Arielavor 11 Jahren
Vergnügen pur in Form und Inhalt

Ein Erzähler, dessen Erzählen mit dem Satz beginnt “Ich bin der Einzige hier, der nicht verrückt ist!” sollte den Leser grundsätzlich misstrauisch machen. Erst Recht die Beteuerung, er, der Erzähler, sei nicht Insasse, sondern einfacher Besucher einer Nervenheilanstalt. Wenn ein Erzähler gleich zu Beginn jede Form von Psychose vehement negiert, darauf besteht, auf keinen Fall verrückt zu sein, weiß der routinierte Leser, dass höchste Vorsicht geboten ist. Diesem Erzähler kann man nicht trauen. Wahrscheinlich ist er verrückt. Nervenheilanstalten und die Negierung von Verrücktheit sind in der Literatur typische Signale der Unzuverlässigkeit. Der Typ des unzuverlässigen Erzählers aber ist einer der spannendsten Varianten in der Literatur. Er hält den Leser auf Trab. Er will dem Leser Dinge für wahr verkaufen, die sich als Lüge herausstellen werden.  Aber jetzt wird es noch spannender. Peter Krezmer, nicht Insasse sondern einfacher Besucher der Laurensteiner Nervenheilanstalt, versucht nicht etwa Ärzte und Patienten und damit auch den Leser davon zu überzeugen, dass er die Wahrheit sage, während er lügt. Er erzählt und versucht diejenigen, die ihm zuhören, zu überzeugen, er lüge wie gedruckt, und dabei stellt sich heraus, dass er die Wahrheit sagt. Von der Lüge zur Wahrheit oder zu ihrer Entdeckung verlaufen die Wege wirr und abstrus, aber höchst amüsant. Das ist so kunstvoll gemacht, so konsequent durchgehalten, das Verhältnis von Wirrnis zu realistischem Erzählen oder zu dem, was wiederum dafür gehalten werden soll, wobei es auch nach der Aufdeckung der wirren Lage weiter wirr bleibt, dass man sich als Leser am besten dem Strom überlässt, dem Strom aus Sprache, aus Abenteuerlichkeit, aus Philosophie, aus Komik, aus Lüge. Denn wer lügt, das ist nicht nur Peter Krezmer. Die Lüge ist ein perfides System aus neuen medizinischen Methoden zur Behandlung von Verrücktheit (“wir nennen unsere Bewohner nicht verrückt”), die den Geisteskranken Peter K. auf seinem Weg begleiten, der unbedingt seinen Freund Lysander Elsterhazy treffen will, der wiederum der Mörder des gemeinsamen Freundes Johann sein soll.

Der gewünschte und immer wieder vereitelte Besuch bei Lysander zieht sich als roter Faden durch die Erzählung, unterbricht wiederholt Peter K.s Lust am Fabulieren über Ungeheuerlichkeiten von Alltag bis Abenteuer, bis sich das Verhältnis aus Wunsch und Lust schließlich umkehrt. Peter K. verweist zugleich darauf, dass er Skeptiker ist, am Zeitgeist zweifelt, in der Schriftstellerei die Möglichkeit zur Flucht vor einer Realität sieht, die ihm absurd und unerträglich erscheint. Jeder Zeitgenosse, über den er spricht, kommt dem Leser ebenfalls über die Maßen verrückt vor und gleichzeitig wird im Berichten über die Verrücktheit der Welt immer wieder vertrauenheischend darauf hingewiesen, wo gesponnen, spekuliert, im Geiste ergänzt wird, wo der Erzähler auch den anderen Erzählenden misstraut – “Ich glaube ihm kein Wort”, sagt er über die Lebenserzählung eines Patienten und kurz darauf über sich selbst: ‘”Ich erzähle Ihnen nichts als die Wahrheit!”, feiere ich meine eigene Ehrlichkeit’, bis man fast bereit ist zu glauben, der Erzähler habe Recht und er sei wirklich der Einzige, der noch klar sehe, bis man ihm also beinahe, wenn man nicht aufpasst, auf den Leim geht.

Bravourös an diesem Romandebüt ist nicht nur das Spiel aus Lüge und Wahrheit, sondern auch die Sprache in Melodie, Rhythmus, Lakonie. Besonders lohnen sich die Dialoge: ‘”Ich liebe dich”, sagte ich. Sie liebte mich auch.’ Hier wird auf Natürlichkeit zugunsten von Komik verzichtet, die durch kleine überraschende Wendungen entsteht. Die Komik aber entsteht auch auf anderen Ebenen, ist immer subtil, nie platt, ergibt sich aus einer verfremdenden Detailverliebtheit heraus, aus diesem pedantischen Beobachten und Bewerten aus der Distanz, mit dem der Erzähler die eigenen Fremdheitsgefühle dem Verhalten der Mitmenschen gegenüber ebenfalls im Leser entstehen lässt, der aber, anders als der Erzähler, die Bedeutung der komischen Situation nicht ignorieren kann: “In dieser Zeit liebte ich Susanne und Susanne, so schien mir, liebte mich und Klara hatte Brezeln mitgebracht”. Bravo auch für die Episode des arbeitslosen Johann, über dessen Arbeitslosigkeit nicht gesprochen werden darf: “…nicht so wie Johann, der kratzte sich am Kopf und bohrte in der Nase als wäre er arbeitslos.” Dann ist es wieder der Wechsel von Traumsequenzen zur Realität, von Chaos und Absurdität zu Banalität und Alltäglichkeit, der Komik erzeugt. Und überhaupt, ist das Erzählen völlig souverän. Mal glaubt man sich in Thomas Manns “Zauberberg” versetzt, mal in die Arbeit der Eifersucht, wie sie bei Alain Robbe-Grillet zu lesen ist, mal könnte auch Erich Kästner die Feder geführt haben.

Peter Krezmer scheitert an der eigenen Akzeptanz der Dinge, aber die Aufdeckung dessen, was er nicht akzeptieren kann, überrascht, nachdem der Leser sich längst ein Bild gemacht hat und glaubt, den guten Peter Krezmer erkannt zu haben, glaubt, verstanden zu haben, was sein Problem ist. Nach guter alter literarischer Tradition ist es der Karneval, der die Verhältnisse umkehrt, alles auf den Kopf stellt…

Fazit: Ein anspruchsvolles Lesevergnügen, das bis zur letzten Seite nicht verloren geht.

Die Originalrezension wurde für den Blog Autorenfreiheit. Die Seite für unabhängige Literatur erstellt www.autorenfreiheit.de

Cover des Buches LiebesWellen (ISBN: B0073GWJ0S)

Bewertung zu "LiebesWellen" von Elsa Rieger

LiebesWellen
Arielavor 11 Jahren
Großartige Bearbeitung des Nixenmotivs

Undine, die geheimnisvolle Fremde, die plötzlich in Dennis Myers Leben hinein rauscht, erinnert mich sehr an die Nixe aus Friedrich de la Motte Fouqués Märchen “Undine” (auch wenn die intendierte Anspielung im Text auf Hans Christian Andersens “Die kleine Meerjungfrau” zielt). Die Märchen-Undine bei de la Motte Fouqué ist ein angenommenes Kind. Undine Botazzi wurde von Bruno und Mara Botazzi adoptiert. Gefunden wurde das offensichtlich ausgesetzte Kind an einem Badestrand. Zumindest ist das ihre Version der Geschichte. Ob von Undine zuverlässig erzählt wird, ist für den Leser nicht ganz entscheidbar. Undine spricht zwar auch davon, dass sie aus dem Meer gekommen sei, womit sie aber Dennis zum Besten zu halten scheint. Zu ihrem Adoptionshintergrund gibt es  keine alternative Version.

Die junge Frau trägt glitzerndes Aquamarin, spielt selbst immer wieder auf das Nixenmotiv an und intertextuell wird auf das Meer verwiesen, auf Wellen und Liebe und ihren zerstörerischen Zusammenhang. Wie der Ritter Huldbrand von Ringstetten bei de la Motte Fouqué fühlt Dennis Myers sich von Anfang an zwiegespalten der Schönen gegenüber, angezogen einerseits, aber er fürchtet sich auch vor ihren unverständlichen Ausbrüchen, für die es bei Nixe und Mädchen ähnliche Gründe gibt: Es liegt an der Seele. Der Nixe fehlt die Seele. Die Seele des Mädchens Undine hat Schaden genommen, vielleicht ist sie auch zerstört: “Sie war innerlich gestorben”. Ob die Seele gerettet werden kann, wird zur entscheidenden Frage. Die zuvor seelenlose Nixe im Märchen erhält ihre Seele erst durch die Liebe des Ritters. Undines verletzte Seele kann vielleicht durch Dennis aufrichtige Liebe geheilt werden. Die Frage entscheidet sich zum Schluss an der Loyalität des Liebhabers. Die Märchennixe warnt ihren Ritter, ihr niemals seine Unterstützung zu entziehen, solange sie sich auf einem Gewässer befinden, weil die Verwandten in der Tiefe sonst Macht über sie gewinnen und die Wellen sie verschlucken werden. Undine Botazzi stellt mehrmals die Frage nach Liebe und Loyalität, fürchtet ohne Dennis Unterstützung unterzugehen und muss für sich entscheiden, ob seine Liebe und Loyalität ihr gegenüber zum Überleben groß genug ist oder nicht. Der entscheidende Schauplatz, an dem sich die Frage beantworten wird, ist im Märchen ein Schiff auf der Donau, in “LiebesWellen” ein Forschungsschiff auf dem offenen Meer.

Undines Verzweiflung in “LiebesWellen” ist anderer Natur als im Fall der Märchennixe, aber abstrahiert geht es auch hier, wie im Märchen, um Eifersucht. Das Perfide an der Eifersucht in “LiebesWellen” ist, dass sie die Aufdeckung des an Undine begangenen Verbrechens lange verhindert. Vom Adoptivvater missbraucht, erkennt das Kind und auch die junge Frau die Schuld des Vaters nicht an, weil Undine im Gefühl der Eifersucht gefangen ist. Bruno Botazzi missbraucht zugleich zur Adoptivtochter die beste Freundin Undines und erschafft ein perverses System der emotionalen Abhängigkeit. In seinem Verbrechen wendet er sich der kleinen Carla zu und von seiner Tochter ab, wodurch das Kind sich nicht als gerettet, sondern als abgelehnt empfindet. Das Gefühl der Ablehnung blockiert Undine ihr ganzes Leben lang und könnte ihr zum Schluss zum Verhängnis werden, als es, wie im Märchen, der Zorn des Liebenden ist, der Undine trifft und in ihr die bekannten Gefühlsmuster wach ruft.

“LiebesWellen” ist ein fesselnder Roman. Die aufgeworfene Frage ist höchst relevant und doch versinkt der Leser nicht in Dunkelheit. Die Sprache ist leicht, elliptisch das Erzählen, nichts verliert sich in Kleinteiligkeit und Detailverliebtheit. Der erzählerische Pinselstrich ist großzügig und luftig. Die Figurenmotivationen und ihre inneren Konflikte werden sehr verständlich. Für Dennis wird die Belastung unerträglich, die Kraftanstrengung, die er für eine beinahe Fremde aufbringen will, zu groß. Die Liebe hat noch keine Stabilität, keine Grundlage, steht erst ganz am Anfang, als der junge Mann sich für den Versuch entscheidet, sich für Undine einzusetzen, um ihr zu helfen und sich dann noch von ihr betrogen fühlt. Undine dagegen fällt immer wieder zurück in alte Muster, kämpft verzweifelt um die Wahrheit und kann sich aus den Fängen Carlas und Brunos, die beide ein Unterdrückungs- und Abhängigkeitssystem inszenieren, um Undine an sich zu binden, nicht befreien. Dass Carla allerdings als weitere Täterin hingestellt wird, mag an der Perspektivenwahl liegen, die bis auf einmal zwischen Dennis und Undine wechselt, könnte auf der Handlungsebene aber auch irritierend wirken. Carla ist genauso Opfer wie Undine und wenn Undine ihrer Freundin sagt, sie müsse sich selbst um Hilfe bemühen, ließ diese Kaltblütigkeit mich als Leserin aufschrecken, denn immerhin handelt die gelesene Geschichte davon, dass Undine Hilfe von außen bekommt, dass jemand sich ihrer annimmt und seine Kraft – und die eines befreundeten Traumatologen – aufbringt, Undine zu retten. Carla aber, die sich im Grunde an Undine klammert, wird sich selbst überlassen. Der Erzählstrang endet etwas unvermittelt.

Warum die Hilfe, die Undine angetragen wird, auf zwei Männer aufgeteilt wird, Dennis, den joblosen Liebhaber und Ahmad, Dennis Freund und Traumatologe, hat mir in seiner Funktion nicht ganz eingeleuchtet. Auch diese erzählerische Entscheidung hängt mir ein wenig in der Luft, ebenso, weshalb Dennis für eine Weile kalt gestellt wird. Gestört haben mich die sehr gegenständlichen Kapitelüberschriften, die mehr für ein Jugendbuch statt für einen Erwachsenenroman angemessen scheinen.

Insgesamt aber ist “Liebeswellen” ein sehr lesenswerter Roman mit nur kleinen Abstrichen, die nicht besonders ins Gewicht fallen. Besonders sprachlich ragt er für mein Empfinden heraus.

Die Originalrezension wurde für den Blog Autorenfreiheit. Die Seite für unabhängige Literatur erstellt www.autorenfreiheit.de

Cover des Buches Anarchie im Herzen (e-Books im Plauderton) (ISBN: B00CJWAS36)

Bewertung zu "Anarchie im Herzen (e-Books im Plauderton)" von Chrissi Winterfeld

Anarchie im Herzen (e-Books im Plauderton)
Arielavor 11 Jahren
Authentisch und geistfüllend

An diese Bücher traue ich mich nie so recht ran mit dem Lesen. Es gibt zu viele Klippen, die umschifft werden müssen. Larmoyanz ist eine Gefahr, die Anklage der Gesellschaft oder der Versuch der Vereinnahmung des Lesers für die eigene Sache, dann aber auch Sarkasmus oder Zynismus die andere. Die Grenze zwischen therapeutischem und kreativem Schreiben ist fließend, wenn autobiografisch geschrieben wird. Aber nichts von dem ist in Chrissi Winterfelds Anarchie im Herzen passiert. Chrissi Winterfeld zeigt, wie stark die Literarisierung subjektiv empfundener Realität sein kann, wie fesselnd, wie viel Empathie sie erzeugen kann, ohne den Leser am Boden zerstört zurück zu lassen.

Dass es sich um Geschichten handelt, die der eigenen Biografie entnommen sind, daraus macht Chrissi Winterfeld keinen Hehl. Ich würde fast empfehlen, die Lektüre mit dem Nachwort zu beginnen, es aber auf jeden Fall am Ende der fünf Kurzgeschichten nicht außer Acht zu lassen und auch den vorangestellten Kommentar nach Beendigung der Lektüre noch einmal zu lesen. Das zusätzliche Wissen, dass die Geschichten durch mindestens eine Person miteinander verbunden sind, braucht es nicht, um die Kraft der Texte zu fühlen, es legt aber dennoch sein ganz eigenes Gewicht über die Wahrnehmung des Lesers. “Sie sind nicht erfunden”, schreibt die Autorin im Nachwort, “sondern passiert, wie sie geschrieben wurden”. Natürlich sind sie nicht geschrieben, wie sie passiert sind, sondern wie sie wahrgenommen wurden und erzählt werden sie, wie die anschließende Sicht auf das Geschehen ist und was der Filter des erzählerischen Könnens der Autorin aus dieser Sicht gemacht hat. Weshalb diese fünf Texte zu Literatur werden.

Chrissi Winterfeld wählt die fünf Erzählsituationen sehr bewusst, gestaltet jede Geschichte aus genau dem Blickwinkel, der der jeweiligen Geschichte am besten gerecht wird. Sehr authentisch und dadurch zuweilen brutal, fast unerträglich nah wird von menschlichem Leid erzählt, einem Leid, das einer Frau, einem Kind zugefügt oder das durch Krankheit oder den Freitod eines Bruders verursacht wird. Manchmal scheint es, als würde die Autorin sich der Ereignisse und ihrer Bedeutung beim Schreiben selbst erst bewusst, dann, wenn die Textstimmung von Zuversicht in Verzweiflung umschlägt und der Leser den Umschwung nicht hatte kommen sehen können. Aber es scheint nur so, die Autorin weiß zu jeder Zeit sehr genau, was sie tut, denn es gibt ebenso die Variante, dass die Stimmung hin und her wechselt, je nach Zeitebene des erzählten Geschehens. Gleichzeitig liegt eine unterschwellige Zuversicht über allem. In den Figuren liegt eine Stärke, eine Heiterkeit sogar manchmal, die einen bei aller Grausamkeit dieser auf fünf Figuren aufgeteilten Schicksale, empathisch sein lassen, aber nicht mitleidsvoll, nicht bedrückt.

Immer wieder thematisieren Autoren, die von biografischen Schicksalsschlägen erzählen, die Unfähigkeit der Umwelt, mit dem Leid der Betroffenen umzugehen, sich angemessen zu verhalten und auch hier wird dieser Mangel am Rande erwähnt: die mitleidigen Blicke von Nachbarn, Kellnerinnen, Freunden, die nichts zu tun wissen, Familie, die sich selbst ohnmächtig fühlt, vielleicht auch ignorant ist. Allerdings klagt die Autorin nicht die Unfähigkeit der Umwelt an, vielmehr beschreibt sie die Einsamkeit, die daraus für Betroffene entsteht – egal wovon sie betroffen sind, ob von Krankheit, Gewalt oder dem Selbstmord eines Angehörigen. Woraus die Einsamkeit entsteht ist die Scham, die wiederum aus der zwischenmenschlichen Distanz erwächst und mit der besonders Opfer von häuslicher Gewalt oder Gewaltverbrechen sich niemandem anvertrauen und darum auch keine Unterstützung erlangen. Aus der Abwärtsspirale kann deshalb nur schwer ausgebrochen werden, weil die Menschen die Kraft aus sich selbst heraus aufbringen müssten, was nur schwer gelingen kann. Vier der fünf Figuren allerdings gelingt es, das ist der Ton, der über den Geschichten liegt und der die Texte lesenswert macht, während die menschlichen Schwächen, die das Leid ebenfalls produziert, nicht verschwiegen werden.

Ich frage mich seit einiger Zeit, wie jetzt gerade eigentlich Texte geschrieben sein können, die nicht im Mainstream liegen, nicht Fantasy, Krimi oder Chic-Lit usw. sind, die nicht vor Künstlichkeit langweilen und vor handwerklichem Können strotzen. Ich glaube, die letzten drei hier rezensierten Texte (Chrissie Winterfeld, Nicole Schröter, Silke Heichel) sind mir Antwort: Ehrlich geschrieben. Mit Kunstfertigkeit, aber ehrlich, wahrhaftig, authentisch. Das zu Text gemachte Bewusstsein und mit dem Bewusstsein für die dreifache Subjektivität, die des Erlebens, des Erinnerns und des Erzählens, schafft es, wirklich zu fesseln und die Seele, den Geist anzufüllen.

Die Originalrezension wurde für den Blog Autorenfreiheit. Die Seite für unabhängige Literatur erstellt www.autorenfreiheit.de

Cover des Buches Follower - Die Geschichte einer Stalkerin (ISBN: B00A6ZSMGS)

Bewertung zu "Follower - Die Geschichte einer Stalkerin" von Isabell Schmitt-Egner

Follower - Die Geschichte einer Stalkerin
Arielavor 11 Jahren
Spannende Story.

Spannend. Wirklich spannend ist diese Story, gut geschrieben, gut lesbar, ein solide gelungener Unterhaltungsroman. Dramatisch entwickelt sich für den Leser die Offenbarung des Wahnhaften, das in der Protagonistin Daniela lebt, aber auch dessen Ursachen und Konsequenzen. Die Konfrontation zwischen der Künstlichkeit der Unterhaltungsfilmindustrie, hier der daily soap-Produktion, und der Künstlichkeit von persönlichen Illusionen und Wunschträumen liefert eine Stückchen Medien- und Sozialkritik, die aber nur angedeutet wird und das Unterhaltende nicht schmälert.Erzählerisch perfekt ist die lebendige Beschreibung dieser Filmset-Welt gelungen. Wer nur einen Tag, aus welchen Gründen auch immer, mit einem Filmteam zu tun hatte, erkennt alles exakt wieder. Gleichzeitig liegt hierin ein Realismus, der vielleicht entzaubert, aber auch Spaß macht, denn was wir immer schon geahnt haben ist: Die Filmleute sind jenseits des Spektakels eigentlich ziemlich normale, zuweilen sympathische Menschen. Bei Schmitt-Egner sind sie sogar ein wenig zu sympathisch. Kiran Advani, der begehrte Schauspieler, hat weder als Kiran noch als die von ihm dargestellte Filmfigur Alex, Ecken und Kanten und auch seine spätere Partnerin Patricia ist Heldin wie sie sein sollte, um Heldin und Danielas Gegenspielerin genannt werden zu können. Das Aufopferungsvolle an ihrer Liebe ist nicht weit von dem Liebeswahn der Protagonistin entfernt, wird aber in andere, sozial akzeptierte Bahnen des Cinderellamotivs gelenkt. Für die Protagonistin dagegen lässt die Autorin es an Dreidimensionalität nicht fehlen: Sie ist höchst paradox in ihrem gesamten Verhalten, lässt sich nicht einfach zum Monster stilisieren, ist aber dennoch gefährlich.

Daniela ist das Mädchen vom Dorf. Daniela ist verliebt. Daniela ist fanatisch und geisteskrank. Daniela tummelt sich als erwachsene Frau in Diskussionsforen (deren literarische Nachbildung ebenfalls gut gestaltet ist), wo sie mit 17-Jährigen in der Intensität ihres schwärmerischen Fanatismus konkurriert. Denn Daniela ist einsam. Die verquere Gedankenlogik wird perspektivisch gut eingehalten. Durch die zumeist (aber nicht immer ganz) konsequente Fokalisierung über die Protagonistin, ohne, dass der personale Erzähler zu häufig wertend in Erscheinung tritt, wird man schnell in dieses pathologische Denken hineingezogen und kann sich wunderbar gruseln. Der Leser wird in der Gefühlswelt der Figur hin und her geschleudert. Er hofft zuweilen, dass es vielleicht doch nicht so schlimm steht um den Geistes- und Gemütszustand der Protagonistin, nur um festzustellen, dass es noch viel schlimmer ist.

Danielas psychosozialer Hintergrund ist der nichtgelebte Traum, das fehlende Verständnis ihrer Umwelt für ihre Persönlichkeit und ihre Wünsche. Damit können wir alle etwas anfangen. Für Daniela ist es eine Kategorie dramatischer: Ihr Elternhaus empfindet sie als kalt, heuchlerisch und egoistisch, Freunde hat sie keine, einen Partner auch nicht. Man selbst möchte auch nicht mit ihr befreundet sein und das ist gelungen: Obwohl diese Protagonistin keinerlei Sympathie beim Leser gewinnen dürfte, hat sie seine Empathie allein darüber, dass die Figur einem verständlich wird. Egal wie ablehnend man ihrer Überspanntheit und ihrem übersteigerten Narzissmus gegenüber steht, man fühlt dennoch mit ihr und wünscht, jemand möge ihr helfen, dieses (selbst)zerstörerische Gehabe zu verlassen, sich von ihrem ungesunden Elternhaus zu emanzipieren. Wäre da nicht zugleich dieses mulmige Gefühl, das einen bis zum Schluss nicht loslässt. Denn neben der als falsch empfundenen Fremdwahrnehmung ist die Eigenwahrnehmung höchst problematisch.

Daniela glaubt, schauspielern zu wollen und von außen daran gehindert zu werden, tatsächlich aber will sie nur ihrem Idol nah sein. Ihrem Idol, das sie mit einer beängstigenden Naivität auf einen Sockel stellt, ja wie einen Gott verglorifiziert. Sehr schön die Idee, das Cinderella-Motiv mit ironischer Distanz einzubinden, so dass das Titelbild einen deutlichen Kommentar bildet, unter dem der Roman gelesen werden kann, bei gleichzeitigem kritischen Verweis auf die Titelbilder jener Bücher, die genau das Frauenbild produzieren, das Daniela zu leben versucht. Ob es sich beim Schuhverlust um Inszenierung oder Zufall handelt ist beinahe so ununterscheidbar wie im Märchen selbst und auch die Reaktionen der Set-Mitarbeiter schwanken zwischen Ironie und wohlwollender Hilfsbereitschaft. Trotz dieses Auftritts bleibt die Komparsin am Filmset aber farb- und konturlos und sie kann ihr gefährliches Spiel beginnen.

Wer nach kurzweiliger, spannender, gut geschriebener Unterhaltung sucht, kann sich auf ein vergnügliches Lesewochenende einrichten, bei dem das Buch nur wenn notwendig aus der Hand gelegt wird. Den Sternabzug erhält der Roman auch nur, weil er unter der Kategorie Gegenwartsliteratur statt Genre/Unterhaltung firmiert und zur Maßgabe Literatur leider zu wenig Abstand genommen wird von den Genrekonventionen. Der Liebesplot endet vorschriftsmäßig (und etwas kitschig), der Thrillerplot endet zwar mit einer kleinen Überraschung, aber auf der Inhaltsebene, nicht in der narrativen Strategie. Für Literatur müsste die Erzählstrategie höher angesiedelt werden. Da bräuchte es eine unzuverlässige Erzählinstanz, was über verschiedene literarische Kniffe auch mit einem personalen Erzähler möglich wäre. Unzuverlässigkeit wird hier aber erst gegen Ende stärker gewählt. Denn selbst wenn die Autorin neutrale Beobachterin geblieben ist, ihre Erzählinstanz ist es nicht und der Perspektiv- und Schauplatzwechsel zwischen den Figuren ist der Spannung geschuldet, schwächt das künstlerische Niveau aber ab. Für Literatur bräuchte es Brüche in den Figuren, metafiktionale Reflexion, Intertextualität nicht nur wie zufällig angedeutet, sondern strategisch intendiert und auserzählt (hier läge viel Potenzial zu großer Literatur). Die Verhaltensweisen müssten komplexer und die Durchführung des Verbrechens realistischerweise mit mehr Schwierigkeiten behaftet sein. Die Medienkritik könnte ausgebaut werden, die psychosoziale Problematik deutlich auserzählt und als Fokus dem Spannungsaspekt gegenüber favorisiert werden… Was alles nicht in einen Unterhaltungsroman gehört, zugegeben, oder gehören muss, in Literatur aber würde ich es mir dringend wünschen.

Insgesamt habe ich den Roman aber gerne gelesen, auch gerne zu Ende, denn der Unterhaltungsaspekt von Genre ist nicht zu unterschätzen und dieser Roman macht einfach Spaß.

Die Originalrezension wurde für den Blog Autorenfreiheit. Die Seite für unabhängige Literatur erstellt www.Autorenfreiheit.de

Cover des Buches Die Reise der blauen Perle nach Hawaii (ISBN: 9783000406744)

Bewertung zu "Die Reise der blauen Perle nach Hawaii" von Mo Anders

Die Reise der blauen Perle nach Hawaii
Arielavor 11 Jahren
Kurzmeinung: Informativ, kindgerecht und spannend.
Informativ und spannend

Die Reise der blauen Perle musste ich als erstes meinem Nachbarskind empfehlen: wissbegierig, neugierig, liest Was-ist-Was-Bücher und Geolino und mag die Zeitdetektive, weil  der Leser da beim Lesen ganz viel lernen kann und das findet das Kind spannend. Das Gleiche gilt für die Reise der blauen Perle. Unaufdringlich in die Handlung verwoben wird Wissen über das jeweilige Land, seine Sprache, Geografie, Traditionen, seine Geschichte, seine Tier- und Pflanzenwelt erzählt. Dass die Autorin die von ihr geschilderten Länder selbst erlebt haben muss, wie die Biografie im hinteren Teil andeutet, spürt man an der Selbstverständlichkeit, mit der die Schauplätze erschaffen und belebt werden. Sie steht nicht staunend und ellenlang beschreibend vor ihrem Schauplatz Hawaii zum Beispiel, sondern ruft die Exotik sehr unkompliziert auf und lässt Keanu, ihren kleinen Protagonisten, darin leben, sich nach dem Schluss der letzten Schulstunde vor den Ferien sehnen, das Surfbrett schnappen und zum Strand rennen oder sie lässt Franziska in Österreich in ihre Berghöhle gehen, eine Ponykutsche lenken, Kracherl trinken und (verbotenerweise) am Schemenlauf teilnehmen, um den Winter auszutreiben. Und doch wird für nicht einheimische Kinder erzählt und der hawaiianische Gruß, das hangloose-Handzeichen, wird illustriert – zur Nachahmung einladend.

Die blaue Perle, jeweils Auslöser der Geschichte, ist eine Wanderperle und wird von Kind zu Kind weitergereicht. Keanu erhält die Perle von Lea aus Tonga und gibt sie an Franziska nach Österreich weiter. Das Geheimnis der Perle ist die Freundschaft. Freundschaft verbindet die Kinder über Kontinente miteinander und sie schafft neue Freundschaften sogar über Arten und Welten hinweg, indem sie Kinder und Tiere zueinander führt. Für jeweils zwei Tage darf die Perle sich im Besitz eines Kindes befinden und in dieser Zeit werden Abenteuer in beiden Welten bestanden, werden Schiffswrackschätze am Meeresboden gefunden, ein Adlerhorst besucht, Gefahrensituationen zwischen Kind und Tier gemeinsam gemeistert, Herzenswünsche mit Empathie und Fantasie erfüllt. Kaimana und Franz, ein Delphinmädchen und ein Adler, der gerade Vater geworden ist, teilen mit den Kindern Keanu und Franziska für zwei Tage  Sprache, Gedanken und die Rätsel, die die blaue Perle dem Gespann jeweils aufgibt. Aber die geheimnisvolle Perle kann noch mehr als das, denn sie ist magisch. Mit der blauen Perle am Handgelenk kann Keanu unter Wasser atmen und sprechen und bis zum Meeresgrund tauchen und wird Franziska leicht wie ein Vogel, so dass sie von ihrem Freund Franz durch die Luft geflogen werden kann.

Die regelmäßigen und puristischen Illustrationen bieten Lesepausen und Vorstellung von den Pflanzen, Tieren, Landschaften, Traditionen, Gesten oder einer außergewöhnlichen Beförderungstechnik (Kind auf Rucksack sitzend zum Adlerhorst), über die im Text gesprochen wird. Da, wo auf Illustration verzichtet wird, wird mit Worten gemalt. So war ich davon überzeugt, es gäbe eine Abbildung der abenteuerlichen Fahrt, bei der Keanu seine Freundin Kaimana per Planschbecken und Fahrradanhänger zum Vulkan fährt. Gibt es aber nicht. Hier hat die Autorin meine Vorstellungskraft derart angeregt, dass ein inneres, starkes Bild entstanden ist.

Echte Freunde, zumal wenn mindestens die Hälfte der Freunde Kinder sind, haben natürlich auch Unsinn im Kopf und so kommt der Spaß in die Lektüre, mit Klamauk und Schabernack, dabei aber Mut und Kreativität demonstrierend. Franziska nimmt zum Beispiel heimlich am traditionellen Schemenlauf teil und bricht damit mutig mit einer uralten Tradition, nach der es ausschließlich Männern erlaubt ist, im Maskenumzug den Winter auszutreiben. Was sie damit einleitet, ist  ein Überdenken der Sinnhaftigkeit von Althergebrachtem.

Einen sehr kleinen Abstrich würde ich persönlich für die Sprache geben. Das Erzählen kommt mir nicht immer ganz flüssig vor, Ideen werden manchmal etwas plötzlich aufgebracht, aufgegebene und noch nicht gelöste Rätsel  relativ unmotiviert wieder angesprochen. Die Prosa könnte in ihrer Poesie einen Feinschliff vertragen, ein wenig mehr Humor und Leichtigkeit, aber das ist  ein künstlerisches Detail, das auch Geschmackssache ist und die Qualität der Geschichte keineswegs schmälert.

Insgesamt ist die Reise der blauen Perle mit ihren ersten beiden veröffentlichten Bänden ein vielversprechender Auftakt zu einer Kinderbuchreihe, die mich an die Tradition der internationalen Kinder- und Jugendbibliothek auf Schloss Blutenburg denken ließ. Die Bibliothek, die nach dem zweiten Weltkrieg von einer Jüdin gegründet wurde mit der Auflage, von jedem Kinderbuch weltweit ein Exemplar dort aufzunehmen, damit Kinder die Literatur der anderen lesen und einander so verstehen sollen, dass eine Katastrophe wie der Holocaust nie wieder stattfinden kann, platzt inzwischen aus allen Nähten. Am Ende von Band zwei, Die Reise der blauen Perle nach Österreich, denkt Franziska über die Gründung einer Internetgruppe nach, in der sich alle Kinder versammeln und miteinander austauschen sollen, die die blaue Perle kennen gelernt haben. Ein internationales Projekt, bei dem Kinder der Welt einander erzählen, was sie an Respekt und Achtsamkeit der Natur, den Mitmenschen und ihrer Geschichte gegenüber gelernt haben, bei dem sie sich über Wünsche austauschen und gemeinsam für deren Realisierung eintreten. Der selbstverständliche Umgang der Kinder mit modernen Kommunikationsmitteln ist übrigens erfrischend und sehr zeitgemäß. Die Lektüre der Reise der blauen Perle hat mir gut gefallen.

Die Originalrezension wurde für den Blog Autorenfreiheit erstellt www.Autorenfreiheit.de

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