München kennt man einerseits als "Weltstadt mit Herz", als Stadt der großen Museen, des englischen Garten und des Oktoberfests, andererseits als Stadt der Schickeria und der unbezahlbar hohen Mieten.
Dieser Band, an dem sich 20 Autoren beteiligt haben, die sich die Münchner Schreiberlinge nennen, wirft einen Blick auf ein wichtiges Kulturgut jeder Gegend mit Geschichte: Auf Sagen und Legenden, die sich um sie ranken. Bei solchen, ursprünglich meist mündlichen Erzählformen gibt es häufig einen Kern und verschiedene Varianten, was einigen Interpretationsspielraum bietet. Der wurde in diesem Buch aufgegriffen und lustvoll ausgekostet. Manche Geschichten sind konservativer erzählt und näher am Ursprung, manche komplett neue aufgesetzt und modernisiert. Das bietet, auch im Spannungsbogen des Buches einen großen Reiz. Besonders schön ist, dass man eine Sage - etwa die um das berühmte bayerische Fabeltier, den Wolpertinger, oder die um den Lindwurm - aus verschiedenen, ganz unterschiedlichen Perspektiven kennenlernt.
Den Band bevölkern viele Wesen und Orte: Neben den genannten Wolpertinger und Lindwurm, lernen wir die Isarnixe von einer ganz neuen Seite kennen und erfahren Interessantes über den heiligen Onophrius, die Gründung Münchens, das Fausttürmchen, die Peterkirche. Ebenso zu Wort kommen "Hexen" und Heilerinnen.
Wie immer in solchen Anthologien sind nicht alle Geschichten erzählerisch gleich gut gelungen. Sicherlich ist es aber so, dass jede Leserin eigene Vorlieben hat und so jede Erzählung zu ihrem Recht kommen wird.
Mir persönlich haben besonders gut gefallen: Martin Anderfefdt: Die Stille (aufgrund der literarischen Qualitäten), Sarah Malhus: Der Spiegelmörder (anrührend und tolle Volte am Schluss), Roxane Bicker: Reliquien (komplex erzählt und packend), Dani Aquitaine: Die letzte Hexe (tolle Umdeutung/Einbettung einer wahren Gegebenheit in ein modernes Setting), Matthias Sebastian Biehl: Urteile (kluge, gegenwartsbezogene Umsetzung der Sage, die zum Nachdenken anregt), Marie Wilhelmsen: Bryanna (erzählerisch einfach großartig), Nelly Altmeyer: Die Isarnixe (unheimlich berührende und packende Umdeutung mit kluger Figurenzeichnung, die mich so schnell nicht losgelassen hat).
Zu loben ist abschließend das Arrangement der Herausgeberin, das einen konsistenten Bogen ergibt; als Doppelung habe ich lediglich die zweite Erzählung über den Goldschmied empfunden, die der ersten doch recht ähnlich war.
Insgesamt: eine runde Sache! Und aufgrund der doch vielen starken Texte 5 von 5 Punkten.
Ich habe mich sehr darüber gefreut, bei der Leserunde dabei sein zu dürfen und kann dieses Buch jedem ans Herz legen, der süffige, fantasievolle und atmosphärische Geschichten mag.