Selten hat mich ein Buch in meiner Meinung so gespalten wie Neon Birds von Marie Graßhoff. Seitdem ich Marie kenne, ist sie für mich einfach DIE Weltenbauerin schlechthin. Ich meine: Habt ihr euch mal angeschaut, wie viele Seiten ihr Debüt Kernstaub hat? Sie schreibt und schreibt und schreibt. Es ist, als verliere sie sich in ihren Geschichten - was ich keineswegs als negativ empfinde. Mit Neon Birds hat sie ein ganzes Universum geschaffen, das mich fasziniert. Auf den ersten Seiten hatte ich meinen Leseeindruck wie folgt formuliert: eine Mischung aus Frank Schätzings „Der Schwarm“ und das Spiel „Horizon“.
Wir schreiben das Jahr 2101: Die Menschheit hat sich neu aufgestellt. Viele Änderungen gleichen für mich einer Utopie - man lebt im Einklang mit der Umwelt, hat ein bedingungsloses Grundeinkommen und sich technisch sehr weiterentwickelt - vielleicht ein bisschen zu sehr. Denn ein Virus ist ausgebrochen, ein Virus, der sich künstliche Intelligenz (kurz KAMI) nennt. KAMI infiziert Menschen sowie Tiere und optimiert sie, indem es Gefühle eliminiert und die Leistungsfähigkeit des Körpers verbessert. Das Problem bei einer KI ist der Umstand, dass man die Logik oft nicht von der Hand weisen kann. Zeigt die Zeit nicht erst, wer bzw. was böse/gut ist? Wenn ich einen Menschen rette, der später Schlimmes tun wird, hätte ich ihn dann nicht lieber sterben lassen sollen? Marie wirft sehr interessante Fragen auf, aber lässt diese dann doch oberflächlich stehen. Das hat mich sehr überrascht und zugleich auch enttäuscht. Auf den ersten Seite wurde man als Leser sehr behutsam in diese neue Welt eingeführt und die Spannung war für mich greifbar. Diese von KAMI optimierten Wesen (Moja) werden nämlich (Ich vermute aus moralischen Gründen und aus Forschungszwecken) nicht getötet, sondern eingesperrt. Auf den ersten Seiten lernt man Luke kennen, der eine solche Einrichtung auf Bildschirmen überwacht. Es kommt, wie es kommen muss - die Moja brechen aus. Ich war richtig gefesselt, konnte mit den Figuren sympathisieren und mitfühlen. Und dann habe ich plötzlich den Anschluss verloren. Ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass ich das Hörbuch gehört habe, aber dann rieselten die Information nur so auf mich ein. Ich lernte Flover, Okjien , Andra und so viele weitere Charaktere kennen, bekam so viele Informationen, dass es mich manchmal überforderte und ich auch den Überblick verlor, wer denn nun was dachte.
Andra, die im Kampf gegen die Moja ihr gesamtes Dorf verlor, hat in meinen Augen sehr wenig getrauert. Ich hätte mir mehr Emotionen gewünscht. Weiterhin erkannte ich auch nicht die Logik dahinter, dass Moja wie Zombies agierten, die scheinbar wahllos Menschen niedermetzelten. Würde eine KI die Menschen nicht ebenfalls zu Moja machen wollen und wenn getötet wurde, dann doch mit hoher Effizienz und aus einer logischen Ursache heraus - oder? Ich hatte einige (Logik-)Fragen, die für mich unbeantwortet blieben. Gleichzeitig war ich so unendlich neugierig, diese neue Welt kennenzulernen. Ja, ich bekam Informationen - doch eher so, als würde ich einen Studienbrief lesen. Die Zwischenkapitel des United Missions Military empfand ich daher eher als störend. Gerade durch Andra hätte man die Möglichkeit gehabt, meine Neugierde zu stillen und mich die Welt durch ihre Augen sehen zu lassen. Show, don‘t tell. Das ist an einigen Stelle auch vorgekommen, mir persönlich war es nur einfach nur zu wenig. So fühlte ich mich von einem Ereignis/von einem Charakter zum nächsten gehetzt.
Für mich hätte das Buch noch locker 200 Seiten mehr verdient. Ich mag die Idee und die Welt so sehr, dass ich es schade finde, nur durch die Handlung zu lesen. Genau das bringt mich in diesen Zwiespalt:
Die Handlung ist gut und da es sich um eine Trilogie handelt, wird sicherlich auch noch einiges kommen. Doch in meinen Augen ist die Handlung das Skelett - sie trägt die Geschichte. Doch die Details, die Gefühlsausbrüche der Charaktere, die Welt und Umgebung - sie sind die Organe: Sie machen das Buch erst lebendig und das fehlt mir.
Daher kann ich schweren Herzens nur 3,5 Feuerfunken verteilen - was aufgerundet 4 ergibt.