Eleanor Oliphant erzählt ihre Geschichte in der Ich-Form und in ihrer eigenen bemerkenswerten Stimme. Gail Honeyman braucht nur wenige Seiten, um ihre Hauptfigur und Erzählerin zu etablieren und uns, den Leser, in die einsame Tragik dieser von ihren Gefühlen und Sehnsüchten abgeschnittenen Protagonistin hineinzuziehen.
Ich, Eleanor Oliphant führt seine Figur liebevoll nach Jahren in Dunkelheit und den Mauern eines Gefängnisses, dessen Wände aus Schuld, Trauer, Trauma und Selbstschutz bestehen, zu einer lebensbejahenden Haltung. Der Konflikt entsteht aus den Gewohnheiten und Einstellungen der Hauptfigur, die – allem Selbstschutz als Zweck zum Trotz – selbstzerstörerisch sind. Eleanor hat keine Feinde im Außen, sondern das Monster, gegen das sie kämpfen muss, verbirgt sich in ihr selbst.
Jahrzehntelang hat Eleanor sich weggeduckt, sich von der Welt und ihren Gefühlen abgeschnitten. Sie hat die Einsamkeit umarmt. Bis zwei Ereignisse sie aufrütteln, und damit setzt der Roman ein:
1. Eleanor verknallt sich in den Sänger einer Band. Spätestens hier wissen wir: Eleanor Oliphant ist auf einer Suche. Schön klassisch gibt ihr Gail Honeyman dabei eine falsche Suche, einen falschen Wunsch, während wir als Leser die ganze Zeit wissen, dass es mit Johnnie dem Sänger nur schlimm enden kann.
2. Eleanor trifft Raymond. Diese Begegnung – der eigentliche anfängliche Wendepunkt – setzt eine Reihe von Ereignissen in Gang, die Eleanor zeigen, was Leben sein könnte und welche Möglichkeiten in ihr schlummern. Eleanor Oliphant ist eine Überlebende. Aber keine Lebende. Und so bekommt sie für ihre Heldenreise einen Mentor und Freund an die Seite gestellt: Raymond.
Eleanor muss sich ihrer Vergangenheit stellen. Welches Trauma hat sie durchlebt? Hier bewegen wir uns in einer emotionalen Detektiv-Story, die dem Leser keine Knalleffekte bietet, sondern einen ruhigen Strom aus Hinweisen, der ganz dem Charakter dieser unaufgeregten, logischen Hauptfigur entspricht.
Einsamkeit ist das zentrale Motiv dieses Romans. Mit dieser Kernidee hat sich Gail Honeyman ein Thema vorgenommen, das wenige Menschen kalt lässt. Es schreit nach Empathie, es berührt unsere Urängste. Aber Ich, Eleanor Oliphant ist ein lebensbejahender, Hoffnung gebender Roman. Platt gesagt (Eleanor Oliphant würde anders als ich hier ein viel besseres Wort finden): Es ist ein schöne Geschichte.
Sprachlich ist der Stil dieser Ich-Erzählerin einzigartig. Eleanor liebt Kreuzworträtsel und sie redet wie eines. Sie benutzt Worte und eine Grammatik, wie wir sie von einer siebzigjährigen Professorin erwarten würden, und zeigt allein durch ihre Ausdrucksweise, wie absurd anders sie ist, wie distanziert und weltfremd. Doch die Sprache enthüllt ebenfalls, welch Humor, Intelligenz und Ironie in Eleanor schlummern. Die Art, wie sie die Welt kommentiert, lässt uns lachen, selbst wenn die dahinter steckende Einsamkeit unsäglich traurig ist.
Ich habe den Roman auf Englisch gelesen und hoffe, dass die deutsche Übersetzung die Sprache Eleanors, mit der sie uns ihre Geschichte erzählt, einfängt in all ihrem Witz, ihrer Wortgewandtheit, Distanz, Sehnsucht und Tragik. Denn ist die Sprache, die diesen Roman zu einem Meisterwerk macht.
Eleanor Oliphant ist kein Roman der bombastischen Wendepunkte und knalligen Konflikte. Am deutlichsten wird das gegen Ende, ab dem Wechsel vom zweiten zum dritten Akt.
Der große Knall bleibt aus – entgegen dem, was man als Leser vielleicht an Schlimmem bzw. an sensationellen Peinlichkeiten erwartet. Eleanor hat „bloß“ eine Erkenntnis, woraufhin sie handelt, wie wir es die ganze Zeit befürchtet haben. Der Tiefpunkt ist erreicht – und wird auf wenig überraschende Art überwunden.
Der letzte Akt setzt sich erstmals ohne großen End-Konflikt oder Überraschung fort. Wenn sich Eleanor endlich ihrer Vergangenheit stellt, strömen die Erkenntnisse sanft und schrittweise.
Erst auf den letzten Seiten überrascht Honeyman uns dann doch noch einmal, wenn wir es nicht schon geahnt haben. Unaufgeregt, konsequent enthüllt das Monster sein wahres Versteck. Aber da ist es schon besiegt.
Absolute Leseempfehlung für Happy-End freudige Leser, die berührt werden wollen und dafür gerne auf knallige Konflikte und Wendepunkte verzichten.
Ein wenig ausführlicher gehe ich auf manche Story-Prinzipien in dem Roman noch in meinem Blog ein, auf:
https://birgitjaeckel.com/eleanor-oliphant/