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Buecherschmaus

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Cover des Buches Eine Laune Gottes (ISBN: 9783961611300)

Bewertung zu "Eine Laune Gottes" von Margaret Laurence

Eine Laune Gottes
Buecherschmausvor einem Monat
Cover des Buches Das Versprechen (ISBN: 9783630877075)

Bewertung zu "Das Versprechen" von Damon Galgut

Das Versprechen
Buecherschmausvor 2 Jahren
Cover des Buches Inmitten der Nacht (ISBN: 9783442759286)

Bewertung zu "Inmitten der Nacht" von Rumaan Alam

Inmitten der Nacht
Buecherschmausvor 2 Jahren
Cover des Buches Gebrauchtes Glück (ISBN: 9783351034887)

Bewertung zu "Gebrauchtes Glück" von Gabrielle Roy

Gebrauchtes Glück
Buecherschmausvor 2 Jahren
Cover des Buches Shuggie Bain (ISBN: 9783446271081)

Bewertung zu "Shuggie Bain" von Douglas Stuart

Shuggie Bain
Buecherschmausvor 2 Jahren
Cover des Buches Nastjas Tränen (ISBN: 9783498002602)

Bewertung zu "Nastjas Tränen" von Natascha Wodin

Nastjas Tränen
Buecherschmausvor 2 Jahren
Cover des Buches Wohin ich immer gehe (ISBN: 9783990272565)

Bewertung zu "Wohin ich immer gehe" von Nadine Schneider

Wohin ich immer gehe
Buecherschmausvor 2 Jahren
Wunderschöner Text

2019 bezauberte Nadine Schneider mit ihrem Roman Drei Kilometer nicht nur die Jury des Bloggerpreises für Literatur Das Debüt, sondern sie erhielt auch den Hermann Hesse Förderpreis, den Literaturpreis der Stadt Fulda und den Vera-Doppelfeld-Förderpreis. In Wohin ich immer gehe, das diesen Sommer erschien, zeigt Nadine Schneider, dass ihr auch der oft so schwere zweite Roman ganz wunderbar gelungen ist.

Beide Bücher gleichen sich und sind doch verschieden. Rumänien, das Banat, aus dem die Eltern der 1990 in Nürnberg geborenen Autorin nach dem Fall des Eisernen Vorhangs nach Deutschland emigriert sind, ist auch im neuen Roman Zentrum des Schreibens. Geht es allerdings in Drei Kilometer um eine junge Frau, die kurz vor dem Ende der Ceaușescu-Diktatur zwischen zwei Männern hin und her gerissen ist, zwischen dem Bleiben in der Heimat und der Familie und dem Fortgehen, hat im neuen Roman die Flucht bereits stattgefunden. Und diesmal wählt Nadine Schneider keine Ich-Erzählerin, sondern die personale Perspektive eines jungen Mannes, Johannes.

Der Ort der Handlung ist aber der gleiche: die ländliche rumänische Grenzregion zu Jugoslawien. 1987 durchschwimmt hier Johannes die Donau am Eisernen Tor, wo der Fluss sich auf eine Breite von 200 Meter verengt. Patrouillenboote, Strömungen, steile Ufer gefährden das Unternehmen. Besonders belastet ihn aber die Tatsache, dass die Flucht eigentlich mit seinem Jugendfreund David geplant war. Kurz vorher verschwand dieser aber unerklärlicherweise.

Das Buch beginnt mit dem wiederkehrenden Alptraum, bei dem Johannes auf seiner Flucht im Wasser erschossen wird. Wir begegnen ihm allerdings erst im Jahr 1993. Nach seiner Flucht hat sich Johannes als Hörgeräteakkustiker ausbilden lassen, ein in der Literatur eher exotischer Beruf. Er ist aber symbolträchtig, denn nicht nur der Vater und die Großmutter litten unter früher Schwerhörigkeit, auch Johannes fühlt sich dadurch bedroht. Das Rauschen der Donau in den Ohren, der Schmerz, den er im Ohr hatte, als der Vater ihm recht unsanft das Schwimmen „lehrte“.

Überhaupt der Vater. Er ist Anlass für zahlreiche Rückblenden in die Kindheit und Jugend und für die erste Heimreise nach der Flucht. Denn der Vater ist gestorben, teilt ihm die Mutter in einem knappen Brief mit. Johannes hat nach seiner Flucht alle Brücken hinter sich abgebrochen. Der gewalttätige, nie zufrieden zu stellende Vater, die eigene verheimlichte Homosexualität, die verleugnete Liebe zu seinem Kindheitsfreund David und ein schrecklicher Verdacht begleiteten ihn nach Deutschland. Ganz im Westen angekommen scheint Johannes immer noch nicht zu sein. Auch wenn seine Arbeit und vor allem die Freundschaft zu seiner Arbeitskollegin Giulia ihn zeitweise glücklich zu machen scheinen, spürt man als Leser:in eine große Einsamkeit, eine Melancholie, eine gewisse Gebrochenheit.

"In Familien lebt man eine Weile, fühlt sich aufgehoben oder nicht. Man erträgt Einiges und überhört Vieles, man steht selten einfach auf und geht. Man sagt kaum einmal, was man wirklich denkt, wundert sich über die Menschen, die man, würde man ihnen als Fremde an einem Ort zufällig begegnen, vermutlich kein zweites Mal sehen wollen würde. Man liebt, obwohl man nicht will, und man verachtet noch leidenschaftlicher. In Familien stirbt man.“

Und nun die Heimkehr. Nadine Schneider lässt mit Vergnügen die Banater Verwandtschaft in ihrem Dialekt losschwätzen. Es wird aber nie heimelig, denn da ist auch viel Zwietracht, Neid, Misstrauen zu spüren. Die Mutter des Vaters, die „Stadt-Oma“, war immer eine stramme Parteigängerin Ceaușescus. Der Selbstmord des Bruders, nicht der erste und einzige in der Familie, hängt bedrückend über allem. Und dann ist da noch das merkwürdige Verschwinden Davids. Nadine Schneider lässt Leerstellen in ihrem eher schmalen Roman, erzählt erfreulicherweise nicht alles aus.

„Es gab nichts mehr zu tun hier. Es war nicht nur der Vater gestorben, irgendwie hatte auch alles andere aufgehört, zu leben, vor allen ein Gefühl, von dem Johannes gedacht hatte, er müsse es noch haben.“

Nadine Schneider gelingt in Wohin ich immer gehe wieder eine leicht schwebende Atmosphäre, die trotz aller Schwere der angerissenen Themen nicht erdrückt. Die Sprache ist so schön wie in ihrem Erstling, die Erzählung ruhig fließend, die Stimmung melancholisch. Eine ganz große Leseempfehlung!

Cover des Buches Identitti (ISBN: 9783446269217)

Bewertung zu "Identitti" von Mithu Sanyal

Identitti
Buecherschmausvor 2 Jahren
Transracial?

Race, class, gender – Begriffe, die in der interessierten Öffentlichkeit immer mehr an Bedeutung gewinnen und heftig und kontrovers diskutiert werden. Auch immer zahlreichere Buchveröffentlichungen gibt es zu den Themen, sowohl im Sachbuchsegment als auch im literarischen Bereich. Zu Recht wurde im Frühjahr kritisiert, dass sich keines davon unter den für den Preis der Leipziger Buchmesse nominierten Bücher befand, geschweige denn, dass eine/r der Autor:innen einen anderen Hintergrund hat als: Deutsch, Weiß, Cis und Hetero. Besonders das Fehlen von zwei Romanen, die im Frühjahr für viel Aufsehen sorgten und größtenteils positive bis begeisterte Kritiken und viel Publikumszuspruch erhielten, wurde beklagt: Sharon Dodua Otoos Adas Raum und Identitti von Mithu Sanyal. Zumindest letzteres befindet sich nun auf der deutlich diverseren Longlist zum Deutschen Buchpreis 2021. Zu meiner großen Freude ist Identitti zudem mein Patenbuch, das ich (hoffentlich) bis zur Bekanntgabe der Gewinner:in am 18. Oktober als offizielle Buchpreisbloggerin medial begleiten darf.

Die 1971 in Düsseldorf geborene Mithu Sanyal ist promovierte Kulturwissenschaftlerin, Journalistin und Autorin von Sachbüchern (Vulva, Vergewaltigung). Wie sie auf ihrem Blog schreibt:

„Meine Artikel und Feature, Kommentare und Kritiken sind mein Versuch, zu verstehen, warum wir interagieren, wie wir interagieren, und unsere Interaktionsmöglichkeiten zu erweitern: Fragen Sie Dr. Gender. Doch nicht alles ist auf Geschlecht zurückzuführen, also beschäftige ich mich ebenso mit Identität und Politik, Kapitalismus und Alltags-Mithulogie – oh, und natürlich mit Sex(ualitäten).“

Auch die Protagonistin Nivedita Anand ihres Debütromans Identitti beschäftigt sich mit diesen Themen. Sie tut das als Studentin im Zweig Intercultural Studies/Postkoloniale Theorie der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf und auf ihrem Blog „Identitti“. Wie ihre Autorin hat die Mittzwanzigerin eine polnische Mutter (Birgit) und einen indischen Vater (Jagdish) und lebt in Düsseldorf-Oberbilk. Rassismuserfahrungen hat Nivedita bisher nur am Rande gemacht, denn Inder:in in Deutschland zu sein ist „der Joker unter den Migrationskarten“ – was ihr ihre Schwarze Freundin Oluchi immer wieder vorhält.

Nivedita leidet eher unter ihrer so empfundenen nicht eindeutigen Identität. Auf ihrem Blog ist sie unterwegs als „mixed race wonder woman“. Aber insgeheim leidet sie darunter, im Dazwischen gefangen zu sein. Wieviel einfacher hat es doch ihre selbstsichere Cousine Priti, die „Vollinderin“ ist und in ihrer Heimatstadt Birmingham eine richtige indische Community erleben durfte. Im Hintergrund immer das Urteil:

„Du bist nicht echt, das wie ein Stempel auf Niveditas Leben gedrückt wurde.“

 Aber nicht nur in Bezug auf „race“ ist Nivedita unsicher und bisweilen geradezu naiv, auch ihre Beziehung zu Simon ist toxisch. Vordergründig so emanzipiert, lässt sie sich dessen unmögliche Launen widerspruchslos gefallen. Auch die Eltern taugen trotz ihrer Liberalität nur sehr bedingt als Rollenvorbilder. Besonders der angepasste, so gar nicht wütende Vater nervt seine antirassistisch und feministisch engagierte Tochter. Geeigneter erscheint ihr da Kali, die indische Göttin des Todes und der Zerstörung, aber auch der Erneuerung. Ihre blauhäutige, wilde Gestalt ziert das Cover von Identitti. Einer ihrer vier Arme hält erhoben einen blutigen Säbel, die andere einen abgeschlagenen Männerkopf. Abgetrennte Arme bilden ihren Rock, sie tanzt auf einem leblos am Boden liegenden Männerkörper. Anarchisch ist diese Kali, grausam, wild, aber in der indischen Tradition eine für uns mitteleuropäische Leser verblüffend positiv besetzte Gottheit. Stark, energiegeladen, eigensinnig oder alles andere als eine unterwürfige Frau – so erscheint sie auch Nivedita als imaginäre Freundin, die ihr Gesprächspartnerin, Ratgeberin und Halt ist.

Ein anderes Vorbild für Nivedita ist ihre Professorin Saraswati, die sie fast wie die Namensgeberin, eine indische Göttin der Weisheit und Gelehrsamkeit, anbetet. Welch ein Schock ist es, als zu Beginn des Romans enthüllt wird, dass diese Saraswati, internationale Koryphäe für postkoloniale Diskurse, für „race“ und Identitätspolitik und in dieser Funktion auf allen Bühnen der Welt zuhause, eigentlich Sarah Vera Thielmann heißt und nicht wie behauptet eine POC, sondern urdeutsch ist.

„Was hier passiert, erschüttert nicht nur mein Verhältnis zu Saraswati, es erschüttert meine Verhältnis zu mir; meinen Zugang zu Wissen und Geschichten und Verstehen: In einer Welt, in der Saraswati weiß ist, verstehe ich mich selbst nicht mehr.“

So Nivedita auf ihrem Blog.

Ein eindeutiger Fall von kultureller Aneignung, ein Tabubruch!? Ein internationaler Shitstorm, vor allem in den Sozialen Medien, bricht los. Sehr schön ist, wie Mithu Sanyal hier in Identitti die Mechanismen der öffentlichen Empörung, wie sie in jüngerer Zeit fast automatisiert losbrechen, darstellt. Sie hat etliche Freund:innen und Prominente, die in diesen Medien unterwegs sind, um Stellungnahmen zum von ihr konstruierten Fall gebeten, der sich aber an den realen Fall der Kulturwissenschaftlerin Rachel Dolezal, die 2015 in den USA „geoutet“ wurde, anlehnt. So entstanden „authentische“ Tweets und Beiträge von Leuten wie Hilal Sezgin, Ijoma Mangold, Lars Weisbrod, Fatma Aydemir und vielen anderen.

Einen wirklichen Plot gibt es nun nicht mehr. Auch die eigene Community wendet sich vehement gegen Saraswati, spricht von Verrat, fordert, das einstige Idol zu canceln. Was besonders schmerzt. Die politische Gegenseite jubiliert. Nivedita, die der Shitstorm auch erwischt, da sie trotz ihrer persönlichen Enttäuschung versucht, Saraswati zu verteidigen, verschanzt sich mit ihrer Professorin und deren Lebensgefährtin in der Wohnung in Oberbilk. Später kommt auch noch Cousine Priti hinzu. Mittelpunkt des Romans ist nun die intellektuelle Auseinandersetzung zwischen den Beteiligten. Nivedita versucht, zu verstehen, warum Saraswati sich diese fremde Identität angeeignet hat. Die Dialoge werden etwas theorielastig, was Mithu Sanyal aber durch eine ordentliche Portion Humor und Selbstironie aufwiegt. Hier spürt man eine Nähe zur britischen Comedy, auf die sich die Autorin ausdrücklich beruft, denn genau besehen, sei doch nichts so absurd wie Rassismus.

„Identität bestimmt nicht die Dinge, die wir tun, sehr wohl aber die Dinge, die andere Menschen uns antun.“

Saraswati beruft sich auf die Fluidität von Identitäten. Wenn eine solche für Gender besteht, warum dann nicht auch für Race. „Transrace“ - müsste nicht auch hier wie beim Geschlecht Wahlfreiheit bestehen? Sind wir nicht in jeder Beziehung widersprüchliche Wesen? Und darf man nicht gerade als Weiße:r, was mittlerweile fast synonym für Rassist:in und Kolonisator:in steht, eine Wahl gegen diese Ausgrenzungen treffen dürfen?

„Weiße sind nicht der Feind, sie besetzen nur eine andere Position in dem Netz von Macht und Entmachtung, das wir Rassismus nennen. Auch sie können nicht einfach menschlich sein, wenn sie weiß sein müssen.“

Mithu Sanyal gibt mit Identitti keine eindeutigen Antworten auf die angerissenen Fragen. Vielleicht gibt es die auch gar nicht. Für Saraswatis Utopie benötigt man vielleicht zunächst andere gesellschaftliche Strukturen.

„Race ist ein Konstrukt, aber mit realen Auswirkungen.“

Diese realen Auswirkungen bekommen Saraswati und Nivedita im Roman, und bekam Mithu Sanyal im wirklichen Leben zu spüren. Während des Schreibprozesses geschah der rassistische Anschlag von Hanau, der neun Menschen das Leben kostete. Er fand Niederschlag im Buch.

Trotz der Diskurshaftigkeit, trotz der vielen angesprochenen Theorien, des dazu passenden Vokabulars, ist Identitti leicht zu lesen, unterhaltsam, erfrischend und ganz schön schräg. Es ist ein sehr zeitgemäßes Buch. Ein bisschen Pop, viel Internet, literarische Bezüge von Baldwin bis Zadie Smith  und viele kluge Gedanken, die aber sehr spielerisch und ausgelassen eingearbeitet werden. Vielleicht bleiben die Figuren ein wenig flach. Aber man taucht klüger aus dem Buch auf und es macht einfach Spaß. 

Cover des Buches Das Jahr, in dem wir verschwanden (ISBN: 9783716028025)

Bewertung zu "Das Jahr, in dem wir verschwanden" von Tayari Jones

Das Jahr, in dem wir verschwanden
Buecherschmausvor 2 Jahren
Das schreckliche Jahr

Zwischen Juli 1979 und Mai 1981 verschwanden in Atlanta im US-Bundesstaat Georgia zahlreiche, vorwiegend afroamerikanische Kinder und Jugendliche. Die überwiegende Mehrzahl waren Jungen im Alter von 8 bis 15. Die amerikanische Autorin Tayari Jones lebte zu der Zeit im gleichen Alter in Atlanta und blickt in ihrem Debütroman Das Jahr in dem wir verschwanden auf diese Ereignisse zurück. Nach dem großen Erfolg ihrer Romane In guten wie in schlechten Tagen und Das zweitbeste Leben veröffentlicht der Arche Verlag nun diesen Erstling in der Übersetzung von Britt Somann-Jung.

Die Mordserie von Atlanta, der insgesamt dreißig Opfer zugeordnet wurden, hielt die afroamerikanische Bevölkerung Georgias in Atem. Auch als der Schwarze Wayne Bertram Williams für zwei der Morde an bereits erwachsenen Männern verurteilt wurde und ihm daraufhin mit sehr dürftigen „Beweismitteln“ sämtliche Tötungen angelastet wurden (es erfolgte allerdings dafür nie eine Anklage oder Verurteilung), blieben starke Zweifel an den Ermittlungen und der tatsächlichen Schuld von Williams. Und liest man Berichte über diese Mordserie, gruselt es einen tatsächlich vor der damit verbundenen Polizeiarbeit. Unterschiedliche Tötungsarten, zwei kleine Mädchen, die gar nicht ins Opferschema passten, Morde, die auch nach der Verhaftung Williams nach ähnlichem Muster verübt wurden – all das lässt doch erhebliche Zweifel aufkommen. Außerdem wurden Hinweise, dass es sich um einen Weißen Täter handeln könnte, völlig ignoriert. Williams betonte stets seine Unschuld, 2019 wurden die Ermittlungen in seinem Fall wieder aufgenommen.

Tayari Jones erzählt von diesen Vorgängen in Das Jahr in dem wir verschwanden in drei Kapiteln aus der Sicht der Kinder. Jeder Abschnitt ist einem Kind gewidmet und in einer ganz bestimmten Perspektive verfasst.

Es beginnt mit LaTasha Baxter, einer Fünftklässlerin, die gerade die Turbulenzen der Vorpubertät durchlebt. Ihre Geschichte ist in der 3. Person geschrieben. Spannungen mit den Eltern und der kleinen Schwester, Jungs, Konkurrenz mit den anderen Mädchen, das eigene Aussehen, die Frage, wie komme ich bei den anderen an, wie gehe ich mit meinem sich verändernden Körper um, beschäftigen sie wie alle Heranwachsenden in diesem Alter. In diese Zeit der Unsicherheit platzen die Morde. Die Eltern fürchten sich, die Kinder haben Angst, dürfen nicht mehr allein auf die Straße. Gut, dass Tasha in einer behüteten, liebevollen Familie aufwächst. Ihr Leben geht trotz der fürchterlichen Ereignisse um sie herum weiter, ihre Kindersorgen bleiben die gleichen. Ihr Leben wird nur kurz stärker erschüttert, als ihr Klassenkamerad Jashante verschwindet.

Ganz anders ergeht es dem gleichaltrigen Rodney Green. Sein Vater sorgt zwar für die Familie, geht aber besonders mit Rodney unerbittlich streng um. Einmal züchtigt er seinen Sohn vor der gesamten Klasse wegen schlechter Noten. Rodney fühlt sich unglücklich, allein gelassen. Seine Geschichte wird in der Du-Perspektive erzählt.

Das dritte Kapitel gehört der Ich-Erzählerin Octavia Fuller. Sie kommt aus prekären Familienverhältnissen, wächst ohne Vater auf, die Mutter arbeitet rund um die Uhr, hat kaum Zeit. Von den Schulkameraden wird sie wegen ihrer dunklen Hautfarbe gehänselt, „Watussi“ genannt, gemieden, verlacht. Dennoch erscheint sie von den Dreien als die Stärkste, Selbstbewussteste.

Die Perspektiven verflechten sich, die drei Kinder kommen jeweils auch in den Geschichten der anderen vor. Auch eine Mitschülerin namens Tayari Jones taucht auf.

Die Autorin schildert nicht nur diese ganz besondere Zeit sehr anschaulich und mitreißend, sondern es gelingt ihr auch sehr gut, die Einsamkeit der Heranwachsenden, ihr Dazwischensein, ihre Unsicherheit zu fassen, den Figuren, auch den unsympathischen, ihre Ambivalenzen zu lassen. Rassismus und Klassismus, auch der in der eigenen Community, schwingen dabei immer mit, überlagern aber nicht die Coming-of-age-Geschichte. Gut, dass auch dieses gelungene Debüt von Tayari Jones nun auf Deutsch erschienen ist.

Cover des Buches Ein erhabenes Königreich (ISBN: 9783832181321)

Bewertung zu "Ein erhabenes Königreich" von Yaa Gyasi

Ein erhabenes Königreich
Buecherschmausvor 2 Jahren
Transzendenz

Die ghanaisch-amerikanische Autorin Yaa Gyasi begeisterte bereits mit ihrem Debütroman Heimkehren, einem klug konstruierten, Generationen und Jahrhunderte umspannenden Familienroman. Nun hat Yaa Gyasi ihren zweiten Roman, übersetzt von Anette Grube, unter dem Titel Ein erhabenes Königreich auch auf Deutsch veröffentlicht.

Ich-Erzählerin ist die jungen Neurowissenschaftlerin Gifty. Sie arbeitet an einer Studie zur Erforschung von Suchtverhalten mit Labormäusen. Diese versorgt sie mit einem Energydrink, Ensure, der ein Anabolikum enthält und die Mäuse süchtig macht. Die Nager können sich mit einem Hebel selbst damit versorgen. Nach einer Weile, wenn das Suchtverhalten bereits ausgeprägt ist, wird ihnen bei Betätigung des Hebels ein kleiner Stromstoß versetzt. Einige der Mäuse hören sofort auf, den Hebel zu betätigen, andere erst nach einigen unangenehmen Versuchen, andere bleiben dabei, auch wenn die Stromstärke erhöht wird. Bei diesen Tieren untersucht Gifty daraufhin die Hirntätigkeit. Ziel ihrer Forschungen ist, nicht nur das Suchtverhalten zu untersuchen, sondern Möglichkeiten einer Hirnstimulation, die es unterdrücken könnten, zu finden.

In Rückblenden auf Giftys Kindheit erfahren die Leser:innen, welches Erlebnis sie zu diesem ehrgeizigen Forschungsprojekt geführt hat. Giftys älterer Bruder Nana, ein hoffnungsvoller und talentierter Basketballspieler, entwickelte als Jugendlicher eine Opioid-Sucht, nachdem er diese gegen verletzungsbedingte Schmerzen verordnet bekommen hatte.

In den USA wurden seit der Jahrtausendwende infolge aggressiver Werbemaßnahmen und intensiver Lobbyarbeit das Opioid Oxycodon, später auch Fentanyl, die in Deutschland beide unter das Betäubungsmittelgesetz fallen, sehr häufig und breit verordnet. Viele der Patienten entwickelten während der Therapie eine Abhängigkeit, stiegen später auf billigere Drogen wie Heroin um. Die Zahl der Drogentoten stieg dramatisch. Die Opioid-Krise dauert in den USA an.

Nana starb an einer Überdosis Heroin, als Gifty elf Jahre alt war. Die Mutter, die eine so starke, ja manchmal sogar harte Frau war, die die Emigration aus Ghana initiierte, die Rückkehr des Vaters ins Heimatland wegsteckte und ihre Kinder mit etlichen Jobs allein großzog, brach daraufhin zusammen und entwickelte eine manifeste Depression.

Gifty konnte sich nur mit großer Anstrengung aus dieser traurigen Kindheit in Alabama an die Stanford University in Kalifornien flüchten. Flüchten vor der Depression und der erzkonservativen evangelikalen Kirche der First Assembly of God, der sich die tiefreligiöse Mutter angeschlossen hat, ohne deren Rassismus wahrzunehmen. Hilfe bot ihr nach dem Tod des Sohnes niemand an. Im Gegenteil:

„Diese Leute scheinen eine Vorliebe für Drogen zu haben.“

raunte man in der Gemeinde in altbewährter weißer Selbstgerechtigkeit.

Gifty verlor den Glauben, aber nicht ihre Sehnsucht nach jenem erhabenem Königreich, nach dem Yaa Gyasi ihren Roman benannt hat. Die Sehnsucht nach etwas Übergeordnetem, nach Transzendenz ist dem Mensch eigen, glaubt Gifty. Sie findet es in der Wissenschaft.

"Ich hatte die Pfingstbewegung meiner Kindheit gegen diese neue Religion ausgetauscht, diese neue Suche, wohlwissend, dass ich nie alles wissen würde."

In dieses von der Wissenschaft beherrschte Leben, das Gifty wenig Privatleben bietet, platzt zu Beginn die Mutter mit einer neuen Depression. Gifty nimmt sie bei sich auf, was Anlass für die vielen Rückblenden des Romans ist.

Sucht, Depression, Verlust des Vaters, Tod des Bruders, wissenschaftliche Forschung, fundamentaler evangelikaler Glauben, der Dualismus von Wissenschaft und Glauben -

"Ich wuchs auf unter Menschen, die der Wissenschaft misstrauten, die sie für einen hinterlistigen Trick hielten, der ihnen den Glauben rauben sollte, und ich wurde ausgebildet von Wissenschaftlern und Laien, die von Religion sprachen, als wäre es eine wärmende Decke für die Dummen und Schwachen. Aber dieses Spannungsverhältnis, die Vorstellung, dass man sich zwangsläufig zwischen Wissenschaft und Religion entscheiden muss, ist falsch."

Große Themen, schwere Themen, die sich Yaa Gyasi für Ein erhabenes Königreich vorgenommen hat. Im Hintergrund von allem lauert aber der omnipräsente Rassismus. Der persönliche – etwa in der evangelikalen Gemeinde – als auch der strukturelle, den Giftys Vater nicht mehr ertragen hatte, weswegen er zurück nach Ghana ging und dort eine neue Familie gründete.

"Wenn sie mit meinem Vater unterwegs war, sah sie, wie sich Amerika beim Anblick großer schwarzer Männer veränderte. Sie sah, wie er zu schrumpfen versuchte, den langen stolzen Rücken krümmte, wenn er mit meiner Mutter durch den Walmart ging, wo er in vier Monaten dreimal des Diebstahls bezichtigt wurde."

Yaa Gyasi erzählt, besonders in den wissenschaftlichen Passagen recht nüchtern und distanziert. Das passt sehr gut zur analytischen Wissenschaftlerin Gifty. Sie kann in den zahlreichen Passagen, die dem Glauben und der Religion gewidmet sind, aber auch „erhaben“ werden. Ein erhabenes Königreich ist vielleicht etwas sperriger als ihr Debütroman, Yaa Gyasi versteht es aber auch damit, nachhaltig zu beeindrucken.

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