Bewertung zu "Mein Name ist Estela" von Alia Trabucco Zerán
Das Mädchen ist tot, die Haushälterin wird vernommen. Zum ersten Mal hören alle Estela zu. Szene um Szene offenbart sie ein schwindelerregendes Kammerspiel unüberbrückbarer Klassenunterschiede.
Sieben Jahre hat Estela im Haus der fremden Familie gelebt, hat tagein, tagaus für sie gesorgt. Die karierte Schürze ist zu einer zweiten Haut geworden, die dünnen Wände ihres Zimmers sind immer näher gerückt. Doch sie ist nicht die einzige Gefangene des Hauses: Im leeren Blick des Mädchens sieht Estela ihre eigene Einsamkeit gespiegelt. Jeder Versuch von Intimität zwischen Angestellter und Kind zerschellt an der ehrgeizigen Mutter und dem autoritären Vater, an der Brutalität der Verhältnisse. Auf engstem Raum ringen vier Menschen ums Überleben und rasen doch unausweichlich auf eine Katastrophe zu.
Dieses Buch hat mich erschüttert und berührt. Die Erzählweise ist ganz anders, als man es erwarten würde. Eigentlich liest man ein Verhörprotokoll, bei dem Estela spricht. Sie berichtet aber nicht nur von dem Todesfall, um den sich die Handlung dreht - er scheint eher eine hintergründige Rolle zu spielen, wenn man nicht genau hinsieht. Bei fokussierter Betrachtung erkennt man jedoch, dass Estela in ihrer Erzählung einen Teppich webt, ein Gesamtbild malt, um den Verhörenden zu zeigen, wie es zu dem Tod kommen konnte. Vielschichtig berichtet sie von einzelnen Situationen, scheinbar unwichtigen Anekdoten, die aber nach und nach als Puzzleteile für einen größeren Zusammenhang fungieren. Sie zeichnet Porträts der Familie, für die sie arbeitet: des Hausherren, der Hausherrin, der Tochter.
"So geht es doch meistens im Leben: ein Tropfen, ein Tropfen, ein Tropfen, ein Tropfen, und dann fragen wir uns erstaunt, warum wir ganz nass sind." (S. 74)
Die Erzählung an ihren Rändern zu beginnen und sich langsam, aber sicher zu ihrem Zentrum vorzuarbeiten, gefällt mir sehr gut. Wie Estela sagt, es ist doch meistens im Leben so, dass die Lage der Dinge nicht eindeutig von der Tat selbst erkennbar ist. Um alles an einer Situation zu verstehen, braucht man Kenntnis - nun, vielleicht nicht jede, aber doch eine übergreifende - von den vorherigen Ereignissen. Auch im Zusammenhang mit dem Cover verdeutlicht das: Estelas Geschichte spielt nur eine hintergründige Rolle für ihre Verhörer und ihre Arbeitgeber. Eine Rolle, in die sie gedrängt wurde, und in der sie sich nun befindet. Das Buch zeigt die Realität der Klassenunterschiede pointiert auf. Estela berichtet zunächst nicht viel von sich selbst, doch an vielen Stellen wird deutlich, dass sie merkt: von ihr wird erwartet, alles unbequeme aufzunehmen. Sie wird nicht als Mensch wahrgenommen, sondern als Ablage, so "nett" ihre Arbeitgeber auch scheinbar zu ihr sein mögen.
Zentrale Themen wiederholen sich immer wieder in Estelas Erzählung, so der Tod. An verschiedenen Stellen wird er aufgegriffen, nachdenklich, verzweifelt, verwirrt beschrieben und doch nicht aufgearbeitet. Auch das "provisorische Leben" so vieler Menschen weltweit, die ihre Situation nicht als erfüllend wahrnehmen, aber auch keine Alternative dazu haben, wird von Estela angesprochen, ohne Vorwurf, einfach als nüchterne Feststellung der Realität.
Ich habe viel aus diesem Buch gelernt: nicht nur über die chilenische Gesellschaft, sondern vor allem, wie wichtig es für die Welt ist, Zusammenhänge und Hintergründe zu erforschen, bevor ein Urteil gefällt wird. Estelas Erzählung ist lang, aber nicht weitschweifig, denn alles, wovon sie berichtet, spielt eine Rolle für die Beantwortung der eigentlichen Frage: Warum ist das Mädchen tot? Das Buch lässt einen sprachlos und erschüttert zurück, aber auch mit geweitetem Horizont. Absolut lesenswert.