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DrWarthrop

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Cover des Buches Die Farbe von Milch (ISBN: 9783453422544)

Bewertung zu "Die Farbe von Milch" von Nell Leyshon

Die Farbe von Milch
DrWarthropvor 4 Jahren
Markantes Kontrastspiel


Mary lebt mit ihren drei Schwestern, Eltern, sowie ihrem geliebten Großvater auf einem kleinen Bauernhof. Die Arbeit ist hart, die Tage sind lang - 1830 gab es halt noch viel zu tun. Neben dem beackern der Felder, melken der Kühe, buttern der Butter und Prügel beziehen vom gewalttätigen Vater muss Mary mit den Strapazen eines Hinkebeins leben, was sie jedoch (im Gegensatz zu allem anderen) kaum beeinträchtigt. Ihren weißen Haaren zum Trotz ist Mary die frechste und zugleich jüngste Tochter auf dem Hof, weshalb, als der örtliche Pfarrer vorbeikommt und nach einer Haushaltshilfe für seine schwer kranke Frau bittet die Wahl auch auf sie fällt. Schwer betrübt, aber wenig vermisst macht sich Mary auf in ihr neues Leben, das fortan weniger physische Anstrengung benötigt, jedoch auf psychischer Ebene eine neue Herausforderung darstellt. Denn zwei Dinge weiß Mary trotz ihrer vielen Talente und aufgeweckten Art nicht: wie man die Füße stillhält und wie man Freundlichkeiten nicht als vorgeschobene Gehässigkeit deutet.

Frei und ungehemmt erzählt das Werk eine ruhig-samtige Geschichte, die gerade in Einklang vorherrschender Tyrannei und hoffnungslosen Lebensentwürfen den letzten Tropfen Öl menschlicher Würde zu entflammen vermag. Dabei entsteht durch fein gegliederte Diktion, sowie einhergehender visuell-pittoresker Präsenz ein wunderschönes Schauspiel dramaturgischer Finesse. Mit einfühlsamer Charakterzeichnung verleitet das Werk schnell zu Sym- bzw Antipathie, zeichnet dabei ein facettenreiches, organisches Wimmelbild im Dickicht verrottender Moralkonzepte. 
Gewalt, Hoffnung, Unwahrheiten als auch Geborgenheit finden lautlosen Widerhall in dieses träumerische Puzzle und fügen sich zu einem Drama ungewohnt klaren Ausmaßes zusammen. Die Autorin verzichtet dabei gänzlich auf jedwede literarische Abschweifung, wie Retrospektiven oder luzidem Geschwülst, sondern fokussiert sich auf die faszinierende Entwicklung ihrer narrativen Stränge. 
Die weiße Fahne, die Marys Schopf nach sich zieht steht dabei im starken Kontrast zu ihrer vorlauten, brutal-ehrlichen Persönlichkeit und macht sie gerade deshalb so verdammt liebenswert. Die vier Jahreszeiten markieren jeweils einen markanten Punkt und genau wie das Wetter spiegelt auch die Geschichte in natureller Form diese klimatischen Veränderungen dramaturgisch perfekt wider; lässt Wärme und Sonne, aber auch Schnee und Sturm hinein. Erst im Sublimen lässt sich die glanzvolle Poetik und volle Schönheit dieses Werks erfassen, drängt sich doch unnachgiebig auf und fordert ihren gerechten Platz vehement ein. 

In ungelöster Manier teilt die Autorin eine leichte und doch tragisch zu lesende Geschichte über ein junges Mädchen, das nur versucht zu überleben und selbst bei diesem kleinen Wunsch immer wieder aneckt. Frei fließen einnehmende Erzählung, offene Sprache und lebhafte Charaktere in einander über - ergeben ein malerisches Erlebnis einmaliger Anmut. Trotz voriger Bedenken und gerade mal 200 Seiten ist mir dieses Werk rekordverdächtig schnell ans Herz gewachsen.


Cover des Buches Cherry (ISBN: 9783453271975)

Bewertung zu "Cherry" von Nico Walker

Cherry
DrWarthropvor 4 Jahren
Ungeschminkter Einblick


Nach dem Highschool-Abschluss fragt sich fast jeder: was fange ich mit meinem Leben an? So auch der namenlose Protagonist dieser vielseitigen Erzählung, der sich aus Mangel an anderen Ideen bei einer örtlichen Uni einschreibt, diese jedoch nie wirklich ernst nimmt. Das lässt sich zum einen an seiner ständigen Abwesenheit, als auch gut an dem alltäglichen Drogenkonsum festmachen, weshalb er nach nicht einmal zwei Semestern wieder vor dem selben Problem steht. Trotz der dringlichen Bitten seiner großen Liebe Emily schreibt sich Mr. Namenlos beim Militär ein, um für ein Jahr in den Irak zu gehen. Beim Einstellungstests und den folgenden Monaten Grundausbildung ist er, trotz einiger Zweifel an den irrationalen Zuständen der Army recht zuversichtlich und freut sich darauf seinem Land zu dienen. Dort angekommen erblickt er jedoch bittere Realität, die vor allem aus langweiligen Patroullien, noch langweiligereren Hausdurchsuchungen und schnarch öden Gesprächen besteht. Die einzige 'Action' beinhaltet immer den Tod oder die schlimme Verstümmelung eines seiner Kameraden durch tückische Bodenbomben, ohne den Angreifer ausmachen zu können. Durch die ständige Angst und zugleich nihilistische Einstellung stumpft unser Protagonist immer weiter ab, bis ihn nur noch Drogen und Sex von der Sinnhaftigkeit des Lebens überzeugen.

Ein namenloser Protagonist, Irak-Krieg und Drogen - was auf den ersten Blick vielleicht billig oder abgedroschen klingt verfeinert durch melodramatische und ungeschönte Eleganz ein abgründiges Traumspiel im Verfall humaner Gelüste. In dreckig reeller Manier leitet der Autor durch den eklatanten Abstieg seines Alter-Egos nach den wirren des Krieges und im Zweitracht der Drogensucht. Verzweifelt vollzieht das Werk, gestützt durch persönliche, rohe Diktion einen bitteren Abriss schwelender Ängste und Traumas moderner Parallelgesellschaften im Hinblick auf fehlende Sozialnetze, sowie dem unerbittlichem Egoismus der diesen vorrottenden Wurzeln entwächst. Ungeschminkt und ehrlich entblößt sich die wahre Natur humaner Einfältigkeit nach dem kleinen Funken 'Guten' in der Welt zu suche, nur um festzustellen einem Traumgebilde nachzulaufen, verdonnert dazu das herzlose Leben eines Plagiats zu führen - ohne Blick für das Schöne im Sein. 
Einfühlsam vermittelt das Werk die fulminante Tragik im luziden Dickicht überbordender Fehlentscheidungen verloren zu gehen, um getrieben von Selbstzweifeln immer weiter auf den nahstehenden Abgrund zuzulaufen. Die bekannten, autobiografischen Elemente entfalten durch reale Präsenz einen immersiven, lebendigen Charakter, dem ein kritischer Blick durch dauerhafte Verarbeitung wenig anhaben kann, jedoch auch wenig zur Sympathie des Protagonisten beiträgt. Ein starker Fokus auf die Geschehnisse und Auswirkungen lässt die Handlung dramaturgisch wenig kontrastieren, festigt jedoch im Gegenzug eine organische und feinfühlige Charakterentwicklung, die diesem Werk einen einzigartigen Charme verleiht. Im Einklang mit emotionalen Feinheiten entfaltet das Werk ein sinister-pittoreskes Bühnenbild greller Städte, als auch karger Wüstenlandschaften, das immer weiter in den dunklen, nimmersatten Drogenexkursen gänzlich zu verschwinden droht. Eingekapselt zwischen toxischer Beziehung, asozialen Dealern und einem ziellosen Leben erhöht sich der Druck bis zum wortwörtlichen Limit, um dann zwangsläufig überzukochen.

Einmalig vermag der Autor die angeborene Irrationalität zu kompostieren und sie im bitteren Sud fehlender Sozialstruktur und ungeheilter Traumatas gären zu lassen. Ein auffallend herbes Werk, das sich nicht davor scheut die ekelerregenden Tiefen menschlicher Verzweiflung zu erforschen, ohne dabei Rücksicht auf eigene Egozentrik oder fehlendes Verständnis zu nehmen. Gerade diese brutale Präsenz vereitelt vereinzelte Sympathiepunkte, birgt jedoch vielfältige Wahrheiten, die sonst im lauten Dickicht alltäglichen Schwachsinns ungehört verhallt wäre.
Eine absolute Empfehlung für jeden Freund etwas derberer Natur, als auch für die, die es noch werden wollen.


Cover des Buches Das flüssige Land (ISBN: 9783608964363)

Bewertung zu "Das flüssige Land" von Raphaela Edelbauer

Das flüssige Land
DrWarthropvor 5 Jahren
Märchenhaftes Meisterwerk

Es ist der 21.09.2007, als Ruth Schwarz den Anruf bekommt, vor dem sich jedes Kind fürchtet: ihre Eltern sind bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Ruth, die seit Jahren an ihrer Habilitation schreibt (inklusive steigendem Medikamentenmissbrauch) fühlt sich durch diesen Umstand eher gestört, als emotional betroffen. Um dem letzten Wunsch der Eltern Genüge zu tun, in ihrem Heimatdorf beerdigt zu werden macht Ruth sich auf den Weg das auf keiner Karte verzeichnete Provinznest „Groß-Einland“ aufzusuchen. Nach mehr als einer Woche intensiver und ereignisloser Suche findet sie mit dem letzten Röcheln ihres Wagens den Ort und darf nur aus Kulanz eine Nacht im Gasthof übernachten; Fremde sind nicht gern gesehen. Geleitet wird diese verschworene Gemeinschaft von einer ominösen Person, die alle nur „die Gräfin“ nennen und die die volle finanzielle und politische Alleinherrschaft genießt - samt eigentümlicher Geheimniskrämerei. Schon bei der Ankunft bemerkt Ruth verzogene Gebäude, kaputte Fenster und einen alles andere als lotrechten Kirchturm. Der Eindruck täuscht nicht, denn die Groß-Einländer haben ein gigantisches Problem direkt unter ihren Schlafstätten: ein kolossales, durch illegalen Bergbau hervorgerufenes Loch das die ganze Stadt langsam, aber sicher, Stück für Stück in den Abgrund zieht...

Gekonnt hüllt das Werk seine Narrative in eine traumhafte, undurchdringliche Membran, dessen trügerische Geborgenheit faszinierende Wahrheiten hervorbringt, sowie charakterliche Feinheiten nuanciert zu präsentieren vermag. In flamboyanter Manier werden die Figuren farbenfroh-pittoresk im Kaleidoskop eines literarischen Schnappschusses gebannt und als kleine Fragmente in Fleißarbeit puzzleartig zusammengesetzt. Ruth agiert zumeist ergeben, lässt sich vom ominösen Treiben mitschwemmen, verliert dabei den festen Boden unter den Füßen und verirrt sich zusehends in den wirren Gefilden, Bräuchen und non-realen Devisen luzider Illusionslogiken, dessen Grenzen zur Realität gänzlich zu verschmelzen drohen. Zusehends entfaltet die Geschichte eine sublime Metaphorik exponentieller Dringlichkeit, die sich bodenlos durch jede Ebene frisst und dabei tiefe, blutende Wunden ins eigene Moralkorsett reißt: keine Gnade durch Verherrlichung.

Geprägt durch nüchterne, statische Diktion leitet die Autorin durch das märchenhafte, träumerische Gewand ihrer zeitlosen Erzählung und entfaltet dabei ein grandioses Schauspiel menschlicher Egozentrik im Angesicht unausweichlicher Eruption. Gekonnt werden die Grenzen sicherer, wohliger Logiken aufgebrochen - flimmern im Dickicht sinistren Panorama menschlichen Versagens. Einträglich vereint das Werk die stille Verbindung zwischen Leben und Materie, im modernen Nihilismus-Pyjama. Selten Unterbrochen durch reale Begebenheiten verliert auch der Leser schnell jedes Verhältnis zu Zeit, Raum und der eigenen Psyche. Die Autorin leitet mit kafkaesker Erzählstruktur brillant durch die feingemahlenen Gebilde menschlicher Arroganz und dem letzten verzweifelten Aufbäumen vor dem unausweichlichen Ende. In flammendem Kontrast stehen dabei Narrative und Diktion - das eine märchenhaft und pittoresk, das andere kalt und grau, wodurch konventionelle Konturen verschwimmen, ohne jemals komplett in die Irrationalität abzuschweifen. Zudem injiziert das Werk eine nahezu unbedingte, wehmütige Begierde in dieser Welt aus kleinen, schiefen Häusern zu verschwinden - sich wie Ruth in den Problemen eines verzerrten Panoptikums zu verlieren, um vielleicht nie wieder zurückzukehren.

Eine mitreißende, lyrische und geniale Geschichte, die auf verspielte Art den ambivalenten Kern der aktuellen Zeit perfekt einfängt und damit herrlich parodiert. Gekonnt zeichnet Raphaela Edelbauer ein märchenhaftes, farbenfrohes Bild einer lächelnd untergehenden Gesellschaft, von bitteren Vorgeschichten und der aufgestauten Last, die alles zu verschlingen droht, was jahrelang unter der Oberfläche vor sich hin geköchelt hat.Zurecht einer der Shortlist-Kandidaten für den deutschen Buchpreis 2019 und jetzt schon eins meiner Jahreshighlights: uneingeschränkte Empfehlung.

Cover des Buches Mobbing Dick (ISBN: 9783906195834)

Bewertung zu "Mobbing Dick" von Tom Zürcher

Mobbing Dick
DrWarthropvor 5 Jahren
fragiles Lügengeflecht

Ach der Dick - der Dick ist ein armer Wicht. Muss sein angefangenes Jurastudium auf Grund auto-aggressiver Verhaltensmuster (beißt sich selbst in den Arm) nach anraten eines Arztes abbrechen und wohnt noch bei seinen Eltern im unfreiwillig zöllibertären Jugendzimmer. Um dem Stress zu entkommen und gleichzeitig den hohen Erwartungen seiner Erzeuger zu entsprechen bewirbt sich Dick im Schweizer Bankinstitut und wird dort trotz fehlender Kenntnisse und geringer Belastbarkeit sofort eingestellt - zur eigenen Überraschung. Bachmann, Dicks neuer Vorgesetzter ist ein freundlicher, aber dauerbeschäftigter, junger Mann, der wenig Zeit dafür aufbringen kann Dick in die Feinheiten seines neuen Arbeitsfeldes einzuarbeiten - so sitzt Dick die meiste Zeit des Tages rum und versucht beschäftigt auszusehen. Kurz darauf ist Bachmann krank und während Dick die kleine Abteilung kommissarisch leiten muss begegnet er Leonhart: einem der fantastic five; den unangefochtenen Platzhirschen des Ladens. Dieser findet Dick direkt sympatisch und macht keinen Hehl daraus, dass er Bachmann schnellst möglich aus der Firma haben möchte, um Dick zu dessen Nachfolger zu machen. Gesagt, getan. Ab dieser Sekunde beginnt eine blümerante, finale Abwärtsspirale menschlicher Psyche, die letztendlich zur Geburt "Mobbing Dick"s führt - dem Mr. Hyde unseres Provinzprotagonisten, der noch einige Tricks auf Lager hat.....

Zürcher leitet in diesem Antimärchen durch eine luzide, paranoide Geschichte, gefüllt mit spleenigen Charakteren und eklatanten Folgen. Die dabei gesetzte Kritik an der fehlenden emphatischen Reaktion seines Umfelds auf seine Situation im Einklang mit den erbitterten, harten Machtkämpfen, in die er sich nun verstrickt sieht entwickelt sich zu einem interessanten Kontrastprogramm. Dabei kann schnell der Eindruck simplifizierter Kapitalismuskritik entstehen, die weder haltbaren Boden besitzt, noch beim Leser Spuren zu hinterlassen vermag, jedoch vom Autor lediglich als umfassende, erdrückende Kulisse genutzt wurde, die dem Leser erst nach und nach präsentiert wird. Die Akteure befinden sich dabei in einem ständigen, irrationalen Kampf der Anerkennung, des Ruhms und nicht zuletzt dem letzten Rest übrig gebliebener Menschenwürde, ohne dabei auf so etwas wie Pietät oder Moral zu achten. Schnell mutiert die Bankanstalt zu einer Irrenanstalt, aus der Dick versucht zu fliehen - desto stärker er sich wehrt, desto mehr versinkt er langsam im Morast der Lügen. Kein Entkommen möglich, nur das unausweichliche Verschlingen abwartend versucht er sich ein letztes Mal durch sein Alter-Ego zu retten und driftet dabei in einer fast romantischen Manier völlig gen Abgrund.

Der Roman beschreibt durch simplifizierte, paranoide Diktion den Abstieg eines unschuldigen Jungen in eine brutale, kalte und verlogene Welt. Gerade die konturlose Aneinanderreihung von direkter Rede, visuellen Beschreibungen und Realität vermischen sich zu einem expressiven Gemälde, das die fragile Wand zwischen "rational" und "irrational" kurz erschüttern lässt. Dabei nimmt die visuelle Ebene immer weniger Raum ein und lässt Platz für den kognitiven, emotionalen und moralischen Verfall des Protagonisten, der durch Alkohol und Einsamkeit in rasender Geschwindigkeit seinen inneren Dämonen verfällt. Zudem vereint der Autor die Irrationalität des Bankinstituts, inklusive völlig verwirrenden Vorgänge und neurotisch-aggressiver Kollegen mit dem alltäglich stattfindenden Wahnsinn, der sich von Zeit zu Zeit aufdrängt. Leider bleibt trotz der vielen metaphorischen Eigenheiten kaum ein nennenswert prägnanter Punkt hängen, verschwindet in luziden Verschrobenheiten.

Tom Zürcher trägt durch seinen Roman eine eigene, charmante literarische Ader, die bis auf wenige Ausnahmen konsequent vorhanden ist, meist den gewollten Ton zu treffen vermag, jedoch in der finalen Aussage kaum hörbar verklingt. Mit den spleenigen Charakteren, der unkonventionellen Sprache und den metaphorischen Besonderheiten entsteht hier eine neurotische, kontrastreiche Geschichte eigentümlicher Fulminanz, die harte Kritiker des Feuilletons nicht überzeugen wird, jedoch für "den Leser von nebenan" durchaus einen Blick wert ist.

Cover des Buches Vater unser (ISBN: 9783446262591)

Bewertung zu "Vater unser" von Angela Lehner

Vater unser
DrWarthropvor 5 Jahren
Ei genialer Schmarrn

Sapperlot! Da hams ma wieder so ei komisches Bucherl, wos net ganz klar is, ob i jez ein anna Waffel hab oder die Eva. Wir schaun ma rein.
Eva Gruber ist neuste Insassin der Nervenheilklinik OWS im malerischen Wien aus noch ungeklärten Gründen. Ihrem Naturell entsprechend erzählt sie dem Psychiater Korb, sie habe eine Kindergartengruppe mit einer Pistole erschossen, was gerade in Anbetracht extrem lockerer Sicherheitsvorkehrungen ziemlicher Schmarrn ist...das merkt sogar der Korb. Ihre wahren Gründe sind familiärer Herkunft, denn auch ihr Bruder befindet sich zur Kur im OWS, mit dem sie noch so einiges vor hat.
Und wo eine Eva, da ein Wille! So versucht sie ihren Magersüchtigen Bruder Bernhard aus dem Pantoffelpalast zu exhumieren, ganz uneigennützig natürlich (zwinkersmiley).

In lakonisch, verspielt Manier erzählt Angela Lehner in ihrem fulminanten Debüt von einer notorischen Lügnerin und ihren oftmals humorvollen, aber extrem perfiden Methoden Mitmenschen zu beeinflussen. Getragen wird dieses tragikomische Schauspiel durch die luziden, narzisstischen Gedanken Evas, die mal flamboyant einzelne Details der Umgebung einfangen, mal die idiotischen Details menschliche Natur beleuchten, mal sämtlichen Anwesenden kognitive Watschen verpassen. Vereint wird das ganze zu einem bitterbösen Schattenspiel im Dickicht persönlicher Ängste, traumatischer Vergangenheiten und den im Unwissen liegenden Dämonen die damit einhergehen. Zudem entwickelt sich eine steile, fast fühlbare Abwärtskurve geistiger Gesundheit, die mehr als nur einmal die Frage nach den wirklichen „Verrückten“ der Gesellschaft stellt. Gekonnt spielt Lehner mit den Erwartungen des Lesers, um dann doch immer wieder zu überraschen.

Einmalig präsent und bitter ironisch verpackt Angela Lehner ein tragische Familiendrama und dessen eklatanten Folgen in einer verspielten Leichtigkeit, die an Genialität kaum zu überbieten ist. Die rebellische Ader der Protagonistin fördert den brennenden Wunsch zu Tage genug eigenes Selbstbewusstsein zu entwickeln, um die Fratze der gesellschaftlichen Nettigkeitshehlerei herunter zu reißen. Für mich persönlich jetzt schon ein Highlight des Jahres und eine absolute Empfehlung!

Cover des Buches Die Zeuginnen (ISBN: 9783827014047)

Bewertung zu "Die Zeuginnen" von Margaret Atwood

Die Zeuginnen
DrWarthropvor 5 Jahren
Der Fall Gileads

Was ist eigentlich nach dem Ende von 'der Report der Magd' mit Desfred passiert? Wie und vor allem warum ist Gilead gefallen? Diesen und weiteren offen gebliebenen Fragen geht Margaret Atwood etwa 25 Jahre nach Erscheinen des ersten Teils mit 'die Zeuginnen' endlich nach. Die Geschichte wird aus drei Perspektiven erzählt, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Zum einen erfährt der Leser durch Agnes die Sicht eines jungen, privilegierten Mädchens in den repressiven Gefilden Gileads auf dem Weg eine 'ehrbare' Ehefrau zu werden. Zum anderen beleuchtet Atwood auch die Perspektive Außerhalb durch die Augen von Daisy, die mit ihren Eltern in Toronto lebt. Diese betreiben ein kleines Second-Hand-Geschäft, in dem immer wieder merkwürdige Gestalten auftauchen. Zu guter Letzt ist die fingierte Autorin des Werkes, Tante Lydia zu erwähnen, die bereits dem aufmerksamen Leser (zu denen ich nicht gehöre) aus Teil 1 bekannt sein sollte. Sie beschreibt die Arbeit als 'Obertante': konspirative Absprachen, perfide Gesprächstaktiken und Reduzieren der vom Staat verursachten Schäden. Fulminant spinnt Atwood über die Länge von etwa 600 Seiten ein spannendes Beziehungsgeflecht, das sich stark festigt, über die Zeit immer engmaschiger wird, um schlussendlich zum Grande Finale zu fusionieren.

Atwood bedient sich, wie bei eigentlich all ihren Werken einer einfühlsamen Sprache, als auch organischen Figuren, die bereits zu Beginn begeistern. Gerade durch die schicksalhafte Verknüpfung des Lesers mit dem fingierten Schriftstück, als auch den Geschehnissen entfaltet sich eine persönliche Ebene, die vergleichbaren Werken fehlt. Im Kontrast zu 'der Report der Magd' schlägt der Roman durch die häufigen Wechsel eine weitaus spannenderen Bogen und vermittelt zudem wunderbar die unterschiedlichen Aspekte der einzelnen Personen im Bezug auf den Staat. Zudem werden harte Themen, wie Missbrauch oder drohender Tod im Einklang mit den herrschenden Oppressionen fast heimlich, rebellisch verarbeitet, sind jedoch in der Aussage umso aggressiver. Noch durch die Seiten wird der schmerzliche, brutale Schrei der Unterdrückung laut und hämmert sich nachdrücklich ins Gehör. Weiterhin sei anzumerken, dass sowohl durch die Zeuginnen selbst, als auch durch verschiedene Einflüsse didaktische Änderungen vollzogen werden, durch die grandios expressive Feinheiten präsentiert werden. Die fragmentartige Erzählung der Protagonistinnen ergänzt sich brillant mit der von Atwood geebneten Narrative und ergibt so ein imposantes Feuerwerk der Emotionen, das stellenweise etwas zu überleuchtet erscheint.

Meine zuerst noch zögerliche Reaktion auf das so lang angekündigte Werk haben sich, zum Glück nicht bestätigt. Im Spiegellabyrinth moralischer Konflikte eingeengt erlebt man hier eine langersehnte und nötige Sprengung aus herrschenden Systemen, die trotz der fiktiven Adaption mehr als nur einen wahren Kern trifft. Abgerückt von dystopischer Narrative entfaltet sich eine spannende, emotionale und mitreißende Geschichte einmaliger Präsenz, die zu überzeugen weiß, jedoch auch gerne etwas übers Ziel hinaus schießt. Fans vom ersten Teil greifen zu, der Rest liest Probe.

Cover des Buches Ich bin ein Schicksal (ISBN: 9783498035808)

Bewertung zu "Ich bin ein Schicksal" von Rachel Kushner

Ich bin ein Schicksal
DrWarthropvor 5 Jahren
Ungeschminkte Wahrheit

Romy Leslie Hall oder auch 'Insassin W314159' sitzt nicht nur eine, sondern direkt zwei lebenslange Haftstrafen in einem staatlichen Frauengefängnis der USA ab, in das sie zu Anfang gebracht wird. Von den unhaltbaren Zuständen auf der Fahrt geht es direkt in den Vollzug, der in etwa so reglementiert ist wie ein Zoo: die Insassinnen werden sich selbst überlassen, das Recht der Starken obsiegt. Lediglich für Arbeiten unterhalb jeglicher preislicher Morallinie und unter obligatorischen Zwängen "dürfen" die Insassinnen die bekannten und gefürchteten Räumlichkeiten verlassen.
Jedwede Art der Würde oder Humanisierung wird vom herrschenden System und in dem Fall den ausführenden (zu Sadismus neigenden) Wärtern sofort eingezogen und archiviert. Selbst kleine Freuden des Alltags, wie Duschgel oder Haarbürsten werden zum Luxusartikel, da diese streng verboten sind.
Romy hat, wie viele Insassinnen zusätzlich das Problem, dass ihr Sohn nun in der Obhut der Großmutter ist und außerhalb ihrer mütterlichen Fürsorge und Liebe. Schlimmer kommt es dann, als Romy mitgeteilt bekommt, dass ihre Mutter bei einem Unfall gestorben ist und ihr Sohn ins Waisenhaus verfrachtet wurde, ohne die Chance auf weitere Auskünfte.

Hinter diesem etwas ungriffigen Titel versteckt sich eine einmalig brillante, einfühlsame und charmante Geschichte, die gerade in Hinblick auf Grausamkeiten und Ungerechtigkeiten innerhalb des Rechtsystems Amerikas immer präsent bleibt, als auch deutliche Spuren beim Leser zu hinterlassen vermag. Das liegt zum einen an der verspielten und etwas obszönen Diktion der Protagonistin, die gerade im stressigen und aggressiven Umfeld des Gefängnisses ihre Wirkung durch ruhige und gefasste Erzählung ausladend entfaltet und zum anderen an den spleenigen Leuten, die das neues Umfeld ausmachen. Diese zusammengewürfelte Gemeinschaft verschiedenster Charaktere vermittelt ein ambivalentes und zugleich verständnisvolles Bild persönlicher Schicksale, als auch der Frage nach Schuld und Sühne. Unterstützt durch luzide Ausbrüche in die Retrospektive, als auch mögliche Zukunftsszenarien bricht Romy wieder und wieder aus dem physischen Gefängnis aus, um wenigstens kognitiv Frieden zu suchen. Dabei treten sowohl mitreißend traurige, sowie humoristische Elemente auf, wodurch die Schwere der Thematik teilweise torpediert wird.

Ungeschminkt präsentiert Rachel Kuschner die brutale, klebrige und ekelige Wahrheit des fragilen Menschen in der erdrückenden Umarmung moderner Gesellschaften, sowie deren Auswirkungen auf die, die dem Druck nicht standhalten konnten. Eine fragile Trennwand, die sonst "normal" und "böse" von einander trennt existiert hier erst gar nicht, wodurch etablierte Vorurteile keinen Spielraum haben, um Wurzeln zu schlagen und somit den Leser direkt angehen. Sonst im Schatten liegende Aspekte, wie die geistigen Labilität in einem so unterrückenden System oder der Umgang mit der eigenen Schuld werden grell ausgeleuchtet. Dabei setzt Kuschner jedoch zu keiner Zeit auf eine schulmeisterliche Weise den Leser zurecht zu weisen, sondern entfaltet in der absoluten Aussage der Narrative seine flamboyante, passende Wirkung.
Zudem vermittelt 'Ich bin ein Schicksal' wie kein zweites Werk die Schwierigkeit in einer Welt, die einen ständig nur spukt, tritt und schlägt lebensfroh zu bleiben und den Widrigkeiten zu trotzen.

Luzide Sprachgewalt, gepaart mit einer direkten, einträglichen Narrative und spleenigen Charakteren., sowie einer grandiosen Darstellung inhumaner Gerechtigkeitsformen, sowie deren niederschmetternden Effekten. Für Freunde etwas dunklerer Natur durchaus geeignet; alle anderen lesen lieber was anderes.

Cover des Buches Dort dort (ISBN: 9783446264137)

Bewertung zu "Dort dort" von Tommy Orange

Dort dort
DrWarthropvor 5 Jahren
Fremde im eigenen Land

Was ist eigentlich ein Indianer? Wir alle kennen die unterdrückende und mordende Geschichte des Landes, doch was macht diese jahrhunderte währende Oppression mit den Menschen? Mit ihrem Glauben, ihrer Kultur, ihrem Erbe?

Tommy Orange geht diesem literarisch weitestgehend unbekannten Terrain durch die Perspektiven von insgesamt einem Dutzend Personen nach und zeichnet dabei ein bitteres und trauriges Bild der aktuellen Situation. Darunter zum Beispiel Tony, der (der Alkoholsucht seiner Mutter geschuldet) ein fetales Alkoholsyndrom hat, dass er nur 'das Drom' nennt und seine gesamte äußerliche Persönlichkeit davon abhängig macht. Oder Dene, der das Erbe seines an Krebs verstorbenen Onkels weitertragen möchte, in dem er verschiedene Natives nach ihren Lebensgeschichten befragt, diese aufnimmt und damit seine Passion gefunden hat. Im Gegensatz zu Edward, der nach seinem erfolgreichen Abschluss in Literaturwissenschaft den Faden zur Realität verloren hat und sich nun in den tiefen Gefilden des Internets zu verlieren droht. Eines haben aber alle gemeinsam: ein anstehendes Powwow, dass alle Protagonisten schlussendlich fulminant zusammenführt.

Wir haben keine Zeit, Junge, die Zeit hat uns. Sie hält uns im Schnabel wie die Eule die Feldmaus. Wir zittern. Wir winden uns, um freizukommen, und dann frisst sie unsere Augen und Eingeweide, und wir sterben den Tod der Feldmäuse. (S.42)


In gelassen melancholischer Diktion vermag es der Autor die brutale, erniedrigende Präsenz aktuell herrschender Traumatas der Ureinwohner generationsübergreifend wiederzugeben und durch persönliche Schicksale zu manifestieren. Fast geisterhaft legen sich bekannte historischen Verbrechen wie ein Schleier undurchdringbarer, systematischer Ablehnung, ohne dass diese jemals hinterfragt oder bereut werden. Der Roman spiegelt in abgrundtiefer Ehrlichkeit den schweren Kampf um kulturelle Anerkennung und Entfaltung in einer Gesellschaft wieder, die ignorant auf dem blutigen Boden ihrer eigenen Geschichte wandelt.
Die peotische Manifestation des alltäglichen, die der Autor des öfteren einfließen lässt unterstreicht einen schon fast rebellischen Unterton, der die Individualität des Augenblicks und des eigenen Schicksals einmalig ergreifend einfängt.

Ambivalente Aktionen der Protagonisten fördern über den Verlauf der Narrative ein kognitives Schattenspiel persönlicher Zweifel zu Tage, das in seiner finalen Aussage einträglich absolut, zynisch und trotzdem verdammt ehrlich wirkt. Dabei setzt Orange nicht auf Exposition, sondern entfaltet in der Sublimen eine über alle Maßen hinaus faszinierende Fulminanz demoralisierender Persönlichkeitsentwicklung und ihrer eskalativen Folgen. Trotz der vielen handelnden Personen schafft es der Autor durch passend gesetzte Perspektivechsel diesen Leben einzuhauchen, sowie durch Retrospektiven und kleine Sujets abzurunden.
Die zu Anfang noch eher durch kleine Dramen aufgefrischte Narrative entfaltet crescendoartig im Lauf der Geschichte eine deutlich stärkere Präsenz, um schlussendlich in tragischer Eskalation zu explodieren. Alleine dafür lohnt sich das Lesen schon!

Wir haben alle viel durchgemacht, was wir nicht verstehen, in dieser Welt, die uns entweder zerbricht oder uns so hart macht, dass wir selbst dann nicht mehr zerbrechen, wenn es drigend notwendig wäre. (S. 114)


Was Tommy Orange in seinem Debüt zaubert gelingt vielen Autoren ihr gesamtes Leben nicht: ein Werk zu schaffen, dass von Dauer sein wird. Peotische, etwas bittere Diktion gemischt mit schrägen, aber liebenswerten Charakteren und einer tragisch-eskalativen Geschichte. Abgerundet durch ein Feuerwerk der Emotionen, die beispiellose Manifestation jahrhunderte währender Unterdrückung im Angesicht des Wandels und dem kämpferischen Geist, der dem entgegensteht. Absolute, unbedingte, sofortige Empfehlung!

Cover des Buches Der Metropolist (ISBN: 9783453320147)

Bewertung zu "Der Metropolist" von Seth Fried

Der Metropolist
DrWarthropvor 5 Jahren
Übers Ziel hinaus

Ja ja, überall diese grauenhaften, nihilistischen Dystopien, wo man nur hinschaut. Mörderische KIs, zusammenbrechende Systeme, moderne Sklaverei...ihr wisst schon.

Seelenheil kündigte sich jedoch in Form einer Mail an, die mir „Der Metropolist“ anbot. Reißerisch wird das Werk von Seth Fried mit den Worten ‚Pulp Fiction meets Science-Fiction‘ beworben, was nicht nur in Hinblick auf den neusten Geniestreich Tarantinos interessant wirkte, sondern auch ein breites Grinsen in mein hart antrainiertes Kellerkindgesicht zu zaubern vermochte.
Aber kommen wir mal zu der Geschichte, oder wie die Experten sagen würden „Narrative“. Schauplatz ist die Stadt Metropolis, die durch ausgefeilte Verkehrstechnik (kein Scherz) schnell zum finanziellen Aufsteiger der USA avanciert. Einer der erbittertstes, pedantischsten und eigenwilligsten Angestellten des Verkehrsamts ist Henry Thompson, der durch den tragischen Verlust seiner Eltern alles mögliche in seiner Macht stehende tut, um weitere Unfälle zu verhindern. Dabei behilflich ist die KI OWEN, die dafür sorgt, dass die Pläne eingehalten werden.
Eines nicht so schönen Tages erhalten sämtliche Angestellte eine Handynachricht mit seltsamen Symbolen. Zeitgleich fällt der Strom aus und um die Katastrophe abzurunden explodieren im nächsten Moment sämtliche Handys und richten damit schweren Schaden bei ihren Besitzern an.
Nachdem sich der Staub gelegt hat wird klar: das war einer dieser superbösen Hacker aus den N24-Dokus! On top wird dann auch noch die Tochter des Bürgermeisters und Publikumsliebling der Stadt auf mysteriöse Weise entführt.
Long story short: der pedantische, regelkonforme Henry muss aus etwas dubiosen Gründen zusammen mit dem beschädigten und dadurch Streit- und trinksüchtigen OWEN investigative Recherchen zum Verbleib der jungen Frau anstellen und sie heile wieder zurückbringen. Sherlock-Holmes/Dr Watson Style...im wahrsten Sinne.

Seth Fried leitet mit fokussierter, spannungsgeladener Diktion durch die unwirschen Gefilde seiner eigenen Welt. Diese ist dabei selten wirklich organisch und fungiert größtenteils nur als schönes Hintergrundbild, wird jedoch kaum als Schauplatz (bis auf wenige Ausnahmen) ausgenutzt. Dafür entfaltet sich ab der Hälfte eine rasante und zugleich charmante Action/Buddy Geschichte, die zwar in bildender Hinsicht nicht zu überzeugen weiß, dafür jedoch den Unterhaltungsfaktor zu 100% bespielt. Belletristik pur! Die vielen klassischen narrativen Elemente vereinen sich, trotz oder gerade wegen der teilweisen überlappung mehrerer Genres wunderbar einzigartig und erzeugen so eine ganz eigene, moderne Klassik.

Charaktere sind dabei Genretypisch spleenig und schräg, wodurch ein flamboyantes Personen-Kaleidoskop verschiedenster Einflüsse entsteht. Konsequente Entwicklung sucht man hier zwar vergebens, doch gerade diese kreative Basis und eklatante Eigenheiten machen das Buch zu einem Erlebnis.
Die beiden Protagonisten agieren dabei klassisch erst als Rivalen und werden (surprise, surprise) am Ende die dicksten Freunde, was durch zahlreiche Anekdoten, Slapstick Einlagen und Schlagabtausche leicht indiskret gefestigt wird. Die Reibereien der unterschiedlichen Persönlichkeiten und Machtverhältnisse sind in humorvoller, verspielter Art verankert, ohne jemals einen ersten Ton treffen zu wollen.
Kleine Besonderheit: mit der in diesen Genres sonst so klaren Linie zwischen Gut und Böse wird hier kreativ ironisch gespielt, wodurch zumindest das Ende noch einige Überraschungen bereit hält.

Ein tolles, rasantes und über die Maßen hinaus charmantes Buch, dass sich seine reißerische Werbung durchaus verdient hat. Actionreich und forciert erzählt der Roman einen etwas überdrehten Buddy-Movie, der mit schrägen Charakteren und ikonischen Dialogen aufwartet, jedoch nicht an das Genie eines Tarantinos heranreicht.

Cover des Buches Untenrum frei (ISBN: 9783499631863)

Bewertung zu "Untenrum frei" von Margarete Stokowski

Untenrum frei
DrWarthropvor 5 Jahren
Meisterwerk

Feminismus. Ein Wort, viele Bedeutungen. Für die einen gilt es als rotes Tuch der Ungewissheit, dass es möglichst zu umgehen und mit skeptischem Blick zu beobachten gilt. Für die anderen bedeutet der Begriff Selbstbestimmung, Akzeptanz und Freiheit. Aber warum löst so ein kleines Wort so einen Sturm der Empörung bei jeder noch so kleinen Äußerung aus?

Dieser und weiteren wichtigen feministischen Fragen geht Margarete Stokowski in ihrem Debüt auf den Grund. In unverwechselbarer empathischer und offener Diktion leitet das Buch, angereichert mit persönlichen Anekdoten durch den Reifeprozess eines jungen Mädchens immer in Hinblick auf geschlechterspezifische Einflüsse und den jeweiligen Entwicklungen. Dabei zeichnet die Autorin kein anklagendes Bild maskuliner Egozentrik (wie Feministinnen gerne von Kritikern vorgeworfen wird), sondern bietet ein facettenreiches, ambivalentes Spektrum existierender Geschlechterdiskriminierung, deren Ursprung meist kaum noch zu ermitteln, aber weiterhin vehement zu bekämpfen ist.

Gerade die Prägung unserer sexuellen Ideale durch redundante Erotisierung der öffentlichen Medien und Werbung, sowie deren radikal-rückschrittigen Aussagen erzeugen eine tiefe gesellschaftliche Kluft, die brillant präsent von Stokowski eingefangen wird. Trotz oder gerade wegen der komplexen Thematik sind Passagen von Selbstkritik und Zweifel durchzogen, womit die Entwicklung empathischer zu Tage tritt und Kritiker leichter sympathisieren könnten. Diese artet zu keinem Moment in ein „Regret-Festival“ aus und zeigt deutlich, dass die Grenzen oft nicht so leicht zu erkennen sind, wie es den Anschein erweckt.

Belegt werden die vielfältigen Argumente stets durch präzise Quellenangaben (insgesamt über 120 Stück) und unterlegt von wortgenauen Zitaten, wodurch diese wirksam, ehrlich und akkurat wirken und selten den Anschein gewollter Meinungsmache entstehen lassen. Fragwürdige Gegenüberstellungen oder unverhältnismäßige Diffamierung treten verschwindend gering zu Tage, was für ein Sachbuch mit solch ambivalenter Thematik eine Seltenheit ist. Ich möchte der Autorin an dieser Stelle natürlich keine fehlende Prägnanz oder Radikalität vorwerfen, die durchaus vorhanden sind und dem Buch einen ironisch passenden Ton verpassen.

„Untenrum frei“ ist eins der wichtigsten, feministischen Werke unserer Zeit. Es vereint die weiterhin unangenehme Egozentrik einiger Geschlechtsvertreter, die fragwürdigen Aufklärungsmethoden der Jugend und die allgemein herrschende Verklemmung unserer ach-so-offenen Gesellschaft, die zwar die Webadressen jeder Erotikwebsite auswendig kann, aber nicht mit BH-losen Brüsten oder behaarten Frauen-Achseln zurechtkommt. Selten gibt es Bücher, die es schaffen ein komplexes Thema in nicht einmal 250 Seiten in einem fulminanten, persönlichen und investigativen Rahmen zu präsentieren. Dieses hier ist so eins; absolute Empfehlung!

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Informatik-Student, 27 Jahre, Mädchen für alles beim 'Papierstau Podcast'

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Krimis und Thriller, Fantasy, Jugendbücher, Science-Fiction, Literatur, Unterhaltung

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