Inhalt:
Jakob Kemper trachtete sein gesamtes bisheriges Leben nach Ruhm und Anerkennung, zunächst als Musiker, dann als Dirigent und Komponist und zuletzt als Musikforscher.
Zermürbt von fortwährendem Scheitern fristet der Sonderling ein einsames Dasein und hält sich als Organist und Musiklehrer über Wasser. Dann macht er, versteckt im Gehäuse der Orgel der Naumburger Stadtkirche St. Wenzel, einen spektakulären Jahrhundertfund: eine verschollene Partitur von Johann Sebastian Bach! Anders als erwartet, stellt die Entdeckung sein Leben auf den Kopf.
Robert Schneider webt ein faszinierend dichtes Geflecht aus verdrängten Erinnerungen, einer schwierigen Vater-Sohn-Beziehung und einem irritierenden Jahrhundertfund der Musikforschung. Die gefangenen Akteure drohen, sich zunehmend zu verstricken und zerrissen zu werden. Am Ende ist der Ausweg ein ganz anderer.
Protagonist:
Jakob Kemper möchte ich mit folgender Textpassage charakterisieren, die jedoch nicht alles von ihm zeigt:
"Oh, wie begehrte er, einer der ihren zu sein! Wie gern hätte er dazugehört! Ein Rad im Getriebe der weltweiten Bachforschung! Ein Rädchen, seinetwegen auch nur eine winzige Sprungfeder! Aber dabei sein! Wie sehnte er sich danach, mitzudenken, mitzureden, mitzuforschen und an dem Mysterium Bach fort und fort zu schreiben! Wie lechzte er nach Anerkennung! Ja, auch er wollte umgeben sein und hofiert von der Öffentlichkeit! Er wollte auch fotografiert werden und sein Bild in der Zeitung sehen (...), es mit stummem Stolz betrachten und die eigenen Worte wieder und wieder lesen! Er wollte gefragt sein, gesucht, umringt von Journalisten, berühmt! Sieht mich denn niemand? Ich bin auf der Welt! Verdammt, ich lebe! Ich habe etwas … dths … zu sagen!"
Doch er hat auch eine stille Seite, in welcher viel Kraft, Ausgeglichenheit und Zuneigung zu anderen liegen. Seine Vergangenheit allerdings hat ihn geprägt und nur einen halben Menschen aus ihm gemacht.
Schreibstil:
Für mich ist Robert Schneider ein klassischer Autor mit einer modern gefärbten Sprache. Mit seiner Mischung aus präzisen und metaphorischen Worten, vermag er dem Leser eine Vorstellung von einem verschollenen Hauptwerk Bachs zu vermitteln. Dies kann ihm umso besser gelingen, je mehr Kenntnis der Leser von musiktheoretischen Begriffen hat.
Ein Beispiel:
"Das Solo mit einer kleinen Non zu eröffnen, die in eine verminderte Quart hinabstürzte, eine so unvermittelte, scharf tönende Intervallfolge für den Auftakt eines Oratoriums zu wählen, das hatte es in der ganzen Barockmusik nicht gegeben. Aber nicht genug. Je weiter sich die Linie ausbreitete, desto mehr häuften sich Dissonanzen und unübliche melodische Fortschreitungen. Kemper meinte, er höre eine Art Zwölftonmusik, eine Klangsprache, die erst zweihundert Jahre nach Bach entwickelt worden war. Das Solo war gegen alle Regeln und Prinzipien der damaligen Melodieführung komponiert, hatte etwas Beängstigendes, ja Beklemmendes und ergab doch ein unerklärliches, architektonisches Ganzes. Er konnte nicht glauben, dass so viel Misstöne und scheinbar fehlerhafte Dissonanzbehandlungen eine so wohlklingende und doch unwirkliche Musik ergaben."
Meinung:
Mich freute besonders, dass wieder Schneiders Thema aus 'Schlafes Bruder' abgewandelt mitschwingt: Das verborgene Geniale, der unentdeckte weltbewegende Schatz und die Ignoranz der Mitmenschen und Fachleute. Außerdem finden sich auch in diesem Buch wieder übernatürliche und sogar gruselige Begebenheiten. So erscheint Jakob Kemper immer wieder etwas wage Umrissenes, eine unfassbare Gestalt, die in seinem Unterbewusstsein wühlt und vor ein persönliches Jüngstes Gericht stellt.
Ich schätze auch den Humor von Robert Schneider sehr.
Ein Beispiel:
"»Auf der aufgeschlagenen Partitur – das muss sich einer vorstellen! – stand eine Flasche Rotwein. Und zwar an der Stelle, wo es unseren Heiland am Kreuz dürstet. Château irgendwas. Aber vom Feinsten! Unsere Restaurateure waren eine Woche lang damit befasst, den Rotweinrand zu entfernen. Mich hat das fast den Kopf gekostet!« Während sich der Abteilungsleiter so in Rage redete, starrte er mit zutiefst verächtlichem Gesichtsausdruck auf Kempers Hemd mit dem Rotweinfleck."
Alles in Allem würde ich fünf von fünf Sternen geben, wenn ich mich besser mit Jakob Kemper hätte identifizieren können. Die Gesichte ist genial, bleibt aber seine und wird auch im Buch nicht zu meiner. 4 Sterne
Interpretation:
Darum geht es: Das kleine Leben, nicht das große als Ziel.
Oder mit den Worten des Autors:
"Das war es doch gewesen, wofür ihm die unbekannte Musik von Johann Sebastian Bach die Augen geöffnet hatte: Endlich das Alte vergessen, den Unmut, die Kränkungen, das Versagen. Sich versöhnen mit seinem Leben. Sich verzeihen lernen. Sich selber eine Umarmung zu schenken bewirkt mehr, als aller Ruhm dieser Welt, der genau einen Atemzug lang anhält."