Bewertung zu "Die halbe Stadt, die es nicht mehr gibt" von Ulrike Sterblich
Der sehnsüchtige Rückblick auf die eigene Kindheit und Jugend packt wohl jeden ab einem bestimmten Alter. Mehr oder weniger erfolgreiche Buchreihen wie „Wir vom Jahrgang 19xx etc.“ - derzeit zu finden an den Kassen der großen Buchhandelsketten - zeugen davon.
„Die halbe Stadt, die es nicht mehr gibt. Eine Kindheit in Berlin (West)“ von Ulrike Sterblich folgt der Tradition, nostalgische Leser auf eine Reise in die eigene Vergangenheit mit zu nehmen. Die Autorin, Jahrgang 1970, beschreibt ihre Kindheit und Jugend in den Randbezirken von West-Berlin, wobei sich die meisten Erinnerungen auf ihre Teenagerzeit in den 80er Jahren beziehen.
Die Handlung ist eigentlich recht banal und wohl schon tausend Male in Büchern umgesetzt worden: Ein Teenager wird erwachsen, durchläuft die typischen Auf und Abs dieser Lebensphase, stellt sich Sinnfragen, lacht und streitet mit den besten Freundinnen, verliebt sich, und zieht immer weitere Kreise durch seine Stadt auf der Suche nach Neuem und Aufregendem. Die Geschichte beginnt mit den ersten Erinnerungen eines Grundschulkindes in den 70er Jahren und endet mit einem Ausflug in die andere Hälfte der Stadt nach dem Fall der Mauer.
Hinter der Handlung stehen jedoch die Orte West-Berlins, an denen die Dinge ihren Lauf nehmen. Und über die Beschreibung dieser Orte - Straßenzüge, Geschäfte, Clubs, Tanzschulen, etc. - vermittelt Ulrike Sterblich das Lebensgefühl einer ganzen Generation. Der Generation, die für das wilde Berlin der 70er Jahre von David Bowie, Iggy Pop, und den dazugehörigen Szeneclubs wie dem Dschungel einfach zu jung war. Und sich über eigene Orte, Vorlieben und eine andere Lebensart selber finden musste. Jedes Kapitel ist einem anderen Ort gewidmet und nimmt den Leser dahin mit, wo sich im damaligen West-Berlin das alltägliche Leben abspielte. Am Ende eines jeden Kapitels folgt ein kleiner Absatz, der in aller Kürze die wichtigsten Hintergrundinformationen zum beschriebenen Ort liefert, so dass sich auch der Nicht-Berliner Leser gut zurechtfindet.
Obwohl ich eigentlich um derartige Nostalgie-Literatur einen großen Bogen mache: Dieses Buch hat mich absolut gefesselt. Es hatte für mich – ebenfalls Jahrgang 1970 und in West-Berlin aufgewachsen – absoluten Wiedererkennungseffekt. Wer denkt heute noch daran, dass man für eine Monatskarte des öffentlichen Nahverkehrs am ersten eines jeden Monats einen halben Tag auf dem U-Bahnhof anstehen musste? Oder dass man für 23 Pfennig stundenlang mit der besten Freundin telefonieren konnte? Wer diese Dinge einst miterlebt hat, ist auf seltsame Weise davon berührt.
Aber das Buch ist auch für Nicht-Berliner absolut lesenswert. Man erfährt viel über das Leben zu Mauerzeiten in der Stadt, mit allen Kuriositäten, die der Sonderstatus West-Berlins mit sich brachte. Auch die Geschichte der jungen Ulrike Sterblich, die in den 80er Jahren ihren Weg ins Erwachsenenleben antritt, ist durchaus lesenswert und spannend. Gefallen hat mir auch der Schreibstil der Autorin: Kurzweilig, unterhaltsam und gepaart mit einer großzügigen Portion an Witz und Komik.
Ich denke, es ist ein Buch, das man auf verschiedene Arten lesen kann. Die älteren Semester der West-Berliner werden an vielen Stellen herzlich lachen oder berührt sein, andere Leser werden viel Neues und Wissenswertes über das Leben im damaligen West-Berlin erfahren. Sicher ist, dass sich beide Lesergruppen sehr gut unterhalten fühlen werden.