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Ernst_Rachudl

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Cover des Buches Oberflächenmensch (ISBN: 9783990263006)

Bewertung zu "Oberflächenmensch" von Michael Wyhnal

Oberflächenmensch
Ernst_Rachudlvor 12 Jahren
Rezension zu "Oberflächenmensch" von Michael Wyhnal

„Dann schlief ich ein“ endet das vorletzte Kapitel von Michael Wyhnals Debütwerk „Der Oberflächenmensch“. Was danach kommt, unterscheidet sich in innerer und äußerer Handlung sowie in der Erzählform so stark vom restlichen Buch, dass eine Interpretation des letzten Abschnitts als Traum nicht zu weit hergeholt erscheint. Das Ende der Erzählung vom Erwachsenwerden bleibt also offen und dieser Aspekt ist nicht der einzige, der Erinnerungen an Grass‘ Novelle „Katz und Maus“ hervorruft. Im zweiten Teil der Danziger Trilogie berichtet der Nobelpreisträger (damals noch nicht mit „letzter Tinte“) von einem jugendlichen Außenseiter, der von zu Hause auszieht um sich endlich Anerkennung zu erwerben. Er scheitert schließlich grandios – an der Welt, vor allem aber an sich selbst.

Was bei Grass das Ritterkreuz, ist bei Wyhnal die akademische Leistung. Nach Jugendjahren als Außenseiter erhofft sich die namenlose Hauptfigur nach dem Umzug aus der Provinz in eine Großstadt einen Neuanfang. Insbesondere die von ihm konstatierte Oberflächlichkeit seiner Mitmenschen stört den Protagonisten und erhofft sich, wahre Tiefe zu finden. Früh wird jedoch klar, dass die Innensicht des lyrischen Ich nur teilweise mit der Realität übereinstimmt. Zwar erkennt die Hauptfigur tatsächlich viele Beispiele für Oberflächlichkeiten und Sprach-Losigkeit in der postmodernen Gesellschaft, klar wird aber auch, dass der Protagonist selbst keineswegs frei von einer entsprechenden Geisteshaltung ist. Er begegnet vielen Menschen mit großen Vorurteilen sowie mit ungerechtfertigter Arroganz und Überheblichkeit, er ist meist nicht bereit, sich auf andere Sichtweisen, Argumente und Haltungen einzulassen. Symbolische Schlüsselszene ist in diesem Zusammenhang der Spaziergang auf einem zugefrorenen See: für das lyrische Ich ist die Eisfläche ein Symbol für glatte Oberflächlichkeit und mangelnde Tiefe, der Leser jedoch kann die Eisschicht jedoch auch als durchsichtige Trennwand interpretieren, durch die die Hauptfigur das Leben zwar beobachten kann, eine Teilnahme bleibt ihr jedoch verwehrt – das Eis ist hier also Symbol für die Hemmungen und die psychische Konstitution des Protagonisten.

Großartig gelungen in Wyhnals Werk ist die gewählte Innenperspektive des Außenseiters. Die „Ansichten eines Nerds“ erlauben einerseits einen Blick von außen auf die Mehrheitsgesellschaft, zum anderen lassen sich von diesem Standpunkt aus in spannender Weise die Versuche des Protagonisten beobachten, Beziehungen zu seinen Mitmenschen aufzubauen. Da der Leser tief in die Gedankenwelt des lyrischen Ich eintaucht, überrascht mit der Zeit das völlige Fehlen sexueller Wünsche und Überlegungen. Für einen männlichen 20-jährigen ist dies sicherlich mehr als ungewöhnlich und untypisch ist dieser Aspekt auch im Vergleich zu anderen Erzählungen vom Erwachsenwerden – „Katz und Maus“ ist hier ein perfektes Beispiel, da dort das sexuelle Motiv von erheblicher Bedeutung ist. Die Hauptfigur im „Oberflächenmensch“ unterdrückt also offensichtlich ihre Sexualität und dies trägt im Verlauf des Textes zu ihrem Scheitern auf allen Ebenen bei.

Ausbaufähig aus meiner Sicht ist die Charakterisierung der weiteren Personen, diese bleibt oft holzschnittartig. Manche Aspekte der äußeren Handlung scheinen mir auch etwas weit hergeholt, beispielsweise der Personenkult um den Fußballstar Robert, der aufgrund seiner Leistungen in der Unimannschaft verehrt wird…an meiner Universität lag die Wahrnehmung der Fußball-Unimannschaft nahe 0 und das dürfte in den meisten anderen Städten ähnlich sein.

Die Sprache ist zunächst etwas gewöhnungsbedürftig, da entsprechend des Charakters der Hauptfigur recht gestelzt, nach kurzem Einlesen passt die sprachliche Darstellung jedoch sehr gut in das Gesamtkonzept. Einige sprachliche Perlen findet der Leser ebenfalls, an erster Stelle steht dabei das erstklassige: “...schneller aus den Federn gelockt hatte, als es einem Huhn in der Tierverwertung geschehen konnte“

Das konsequente Vermeiden der Nennung von Name und Studienfach der Hauptfigur sowie Ort der Handlung trägt zwar zur Allgemeingültigkeit des Werkes bei, ermüdet jedoch auf die Dauer etwas.

Was Erkenntnisse und Denkanstöße über das Leben im allgemeinen und die moderne Gesellschaft im besonderen angeht, gibt es durchaus einige interessante Ansätze, das Potential, das die Figurenkonstellation bietet, wird jedoch aus meiner Sicht nicht voll ausgeschöpft.

Alles in allem halte ich den „Oberflächenmensch“ für ein vielversprechendes Debütwerk mit vielen Stärken, das durchaus vergnüglich zu lesen ist. Bis zur großen Literatur sind jedoch noch ein paar Schritte zu gehen, deshalb von mir 3 Sterne

Cover des Buches Becks letzter Sommer (ISBN: 9783257066760)

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Ernst_Rachudlvor 12 Jahren
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Ernst_Rachudlvor 12 Jahren

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