Federfee
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Federfees Bücher
Zur BibliothekRezensionen und Bewertungen
Selten hat mich ein Buch so gelangweilt, selten empfand ich ein Buch als so nichtssagend wie dieses. Und daran ist nicht die karge Handlung Schuld, die schnell erzählt ist:
Der aus Israel stammende Vater der Ich-Erzählerin Rosa ist nach schwerer Krankheit gestorben. Die Tochter muss sich um Begräbnis und Wohnungsauflösung alleine kümmern, obwohl es noch eine Schwester gibt, die Rosa später besucht.
Was ist es dann, das mich das Buch so negativ sehen lässt? Während Rosa sich nach dem Tod des einsamen unglücklichen Vaters um einige Formalitäten kümmert – die Mutter scheint in Thailand ums Leben gekommen zu sein - gehen ihr '1000 Gedanken' durch den Kopf und der Leser erfährt - verstreut in den Text, in ihrem Gedankenfluss - einiges über sie und ihre Familie, 'den kleinen, grotesken Familienkosmos, der psychologischer Studien würdig wäre' (14).
Der Vater leidet möglicherweise an einem Kriegstrauma (Jom-Kippur-Krieg) und an der Tatsache, dass er als ausgebildeter Chemiker lediglich im Labor Arbeit findet; die Mutter hat zwar ihr Studium nach Schwierigkeiten doch noch beendet, sich dann aber der Erziehung der beiden Töchter gewidmet und ist damit überaus unzufrieden. Rosa beschreibt ihre Mutter als 'giftig, melancholisch' und 'in einer einer traurigen Gedankenwelt' lebend. Die ältere Schwester Nadja verlässt die Familie mit 18 Jahren, zwei Monate später geht auch die Mutter. Bis dahin haben sich die Eltern täglich gestritten und der Leser fragt sich, warum sie überhaupt geheiratet haben. Es sind Bösartigkeiten, die sie sich gegenseitig an den Kopf werfen, z.b. der Vater: Rosa habe 'von der Mutter die Dummheit geerbt' (60), die Mutter: Vater sei 'emotional verkrüppelt' (71). Aber auch die beiden Schwestern haben kein gutes Verhältnis zueinander und Rosa bricht den Kontakt mehrfach ab.
Es ist sehr schwierig, im Wirrwarr dieser familiären Erinnerungen und Banalitäten nachzuvollziehen, warum Personen so und nicht anders handeln oder beschrieben werden. Für mich als Leser ergeben sich keine einleuchtenden Erklärungen. So ist überhaupt nicht klar, warum Rosa ihre Großmutter in Israel so negativ darstellt (Brüste wie Kürbisse, etc.) und vieles andere wird auch nicht geklärt. Es gibt inhaltliche Unstimmigkeiten und Klischeesätze und -vorstellungen: 'Vom Tod aus betrachtet, ist das Leben eine Aneinanderreihung letzter Male' (99) oder die reichen Senioren mit Alfa Romeos (139). Bei einigen Kapiteln ist die Funktion völlig unklar, z.B. eines über Trumpeldor oder das Ende.
Fazit
Wie man unschwer erkennen kann, hat mir das Buch überhaupt nicht zugesagt. Daran ist noch nicht mal der Gedankenstrom mit seinen Erinnerungsfetzen und Gedankensprüngen Schuld. Ich kann keine Aussage erkennen, nichts, was das Buch mir gegeben hätte, keine Anregungen zum Nachdenken, keine Sprache, die mir gefällt, einfach nichts, nur endlose Berichte von Streitereien und Banalitäten. Gelesen und schon wieder alles vergessen, ohne einen Eindruck hinterlassen zu haben außer Ärger und Widerwillen. Ein Satz hat mir gefallen und der passt zum Buch:
'Zsazsas Erinnerung bestand aus braunen, roten und weißen Steinchen, die man in neuen Formationen sortieren konnte, die aber letztlich nie einen Sinn ergaben.' (176)
Für mich ergibt das ganze Buch keinen Sinn und ich kann es leider nicht weiter empfehlen.
Bewertung zu "Ein Garten offenbart sich" von Katrin de Vries
Katrin de Vries und ihre Familie ziehen in ein altes Haus in Nordseenähe mit einem riesigen Garten. Was macht man damit? Bäume, Sträucher, Rasen, Gemüse?? Die Autorin lässt uns an der Entwicklung ihres Gartens zu einem naturnahen Biotop teilhaben und flicht Kindheitserinnerungen an ein einfaches, primitives Leben ein, als man noch eine andere Einstellung zum Garten und zur Natur hatte. Dabei bleibt es nicht aus, dass kritische und nahezu philosophische Gedanken aufkommen.
Was hat ein früheres Leben mit dem Garten zu tun? So dachte ich zuerst, aber mir wurde schnell klar, dass alles ein großes Ganzes ist und einander bedingt. Lebensumwelt des Menschen und Natur hängen eng zusammen, auch wenn die meisten Menschen das heutzutage nicht mehr sehen.
Die Autorin übt eine Menge Kritik, manches nur kurz angerissen, anderes ziemlich ausführlich, vor allem die am allgegenwärtigen Rasen, den fast alle haben, dessen Mähen aber nicht alle lieben. Ihre Söhne (die manchmal etwas allzu belehrend herüberkommen ;-) schlagen ihr vor, die Gräser einfach wachsen zu lassen und nur Wege zu mähen. Natürlich ist dies ganz auf ihren riesigen Garten bezogen. In den kleinen Gärtchen von heutzutage würden sich die Nachbarn schnell beschweren, wenn Unkrautsamen in ihren Garten fliegen. UNKRÄUTER? Es heißt natürlich Wildkräuter und de Vries versucht, uns ihre Schönheit und Bedeutung nahezubringen. Überhaupt kann man alle ihre Ideen nicht 1:1 umsetzen, sondern jeder muss seine eigene Vorgehensweise finden. So könnte man z.B. eine kleine runde Grasinsel ungemäht lassen und gucken, was sich entwickelt.
Sie prangert auch die Überheblichkeit des Menschen an, zu bestimmen, was wachsen darf und was 'weg muss', die Ordnungs- und Kontrollsucht, die im Rasen kein Kräutlein duldet und die Industrie, die Kaufgelüste weckt und den Garten als lukrative Absatzmöglichkeit entdeckt hat (Gartengeräte, Mähroboter, etc. - Ich ergänze noch die Lämpchenseuche, die gerade grassiert).
Dies ist nur ein kleiner Ausschnitt aus den vielen Beobachtungen und Gedanken der Autorin. Mich hat das Buch sehr zum Nachdenken gebracht und mir auch viele Anregungen gegeben, nicht unbedingt gartentechnischer Art – dafür gibt es passendere Bücher – sondern es hat mich angeregt, die Natur mit ihrem Repräsentanten 'Garten' mit neuen Augen zu sehen und wieder aufmerksamer umherzugehen.
Nicht zuletzt will ich das wunderschöne, ein wenig altmodische anmutende Cover erwähnen, das hoffentlich viele Blicke auf sich zieht. Ich jedenfalls spreche ein große Lese-Empfehlung aus und wünsche diesem Buch viele Leser.
Da es bei ihr zum Schluss auch um die Thema Altern, Verblühen, Schönheit, Tod geht, füge ich das Bild einer verblühten Pfingstrose an.
Bewertung zu "Bartleby, der Schreiber" von Herman Melville
Eigentlich interessiert mich Jagd nicht, Großwildjagd schon gar nicht und mein Interesse an Afrika hält sich auch in Grenzen. Dennoch habe ich dieses Buch zur Hand genommen, weil mich die Ankündigungen dazu neugierig gemacht haben. Und ich habe es nicht nur nicht bereut, sondern bin begeistert von diesem Buch, obwohl es 'harter Tobak' ist. Ich kann jetzt schon sagen, dass es zu meinen Lesehighlights gehört und will versuchen zu erklären, was an diesem Buch so faszinierend ist, was es in meinen Augen zu einem Meisterwerk macht.
Der reiche Amerikaner Hunter White, der tatsächlich so heißt (ein sprechender Name), ist wieder mal in Afrika, um die Big Five voll zu machen. Nur das Spitzmaulnashorn fehlt ihm noch in seiner Trophäensammlung. Das ganze Jahr hält er sich fit, der Mann, der sonst in Finanz- und Immobiliengeschäften unterwegs ist. Die Jagd ist seine große Leidenschaft, von Kindheit an – das alleine schockierend. Sein Großvater hat ihn schon als Siebenjährigen mit auf die Jagd genommen und streng trainiert, was wir nach und nach aus den Erinnerungen erfahren, die Hunter immer wieder bedrängen und beschäftigen.
Einfach ist es nicht, ein Nashorn jagen zu dürfen. Man muss eine Lizenz beantragen, aber Hunter hat seine Beziehungen und in Afrika den Veranstalter Van Heeren, der sein Freund geworden ist und in dessen Lodge er residiert. Obwohl... residiert ist das falsche Wort, denn Hunter ist kein üblicher Jagdtourist. Er liebt es natürlich und einfach, er hat Respekt vor den Tieren und ganz viel Erfahrung. Das macht ihn vorerst leicht sympathisch, auch wenn man die Jagd ablehnt. Zudem scheint er ein Naturfreund zu sein; er 'sammelt Natur', das heißt, er kauft unberührte Gebiete, um sie vor Bebauung zu schützen. Na, ist das kein toller Mann, der 'die Welt vor der Zivilisation schützen möchte'?
Fast fällt man als Leser darauf herein, aber nach und nach wird in immer wieder geäußerten Gedanken seine ganze Überheblichkeit gegenüber der Jagd, den Tieren deutlich: ER, Hunter, der Jäger, der den Kick des Risikos liebt, beruflich wie bei der Jagd. ER, der Gute, der alleine das Recht hat, das Nashorn zu töten. Er und sein Freund Van Heeren wollen glauben machen, dass Trophäenjagd die einzige funktionierende Form des Naturschutzes und die einzige Überlebenschance für Spezies wie das aussterbende Spitzmaulnashorn ist. Ist die Jagd wirklich ein 'artgerechter, ehrenhafter Sport'? Beim Leser regen sich immer mehr Zweifel.
Leider geht die Jagd durch die Schuld anderer schief und Hunter ist am Boden zerstört. Was tun? Zurück in die USA und seiner Frau, die die Jagd nicht interessiert, die aber Trophäen liebt, ohne eine solche unter die Augen treten? Da hat Van Heeren eine Idee, die er Hunter so geschickt schmackhaft macht, dass dieser anbeißt und nachher nicht mehr zurück kann. Das Unheil nimmt seinen Lauf...
Das alles schildert die flämische Autorin Gaea Schoeters in überbordend bildhafter Sprache: die Natur, die Jagd, den Stamm der 'Bushmen' mit ihrer alten Kultur, was noch eine wichtige Rolle spielen wird, die vielfältigen Erinnerungen aus der Kindheit und Jugend, die Hunter zu dem geformt haben, was er heute ist: ein besessener, von sich allzu überzeugter Jäger. Hat man anfangs noch einen Hauch von Sympathie und überlegt, ob seine und Van Heerens Argumente bezüglich Naturschutz und Entwicklungshilfe stimmen könnten, verliert man mehr und mehr den letzten Funken von Verständnis für diese von einer unglaublichen Hybris getriebenen Männer. Sie merken noch nicht einmal, wie zynisch und menschenverachtend ihre Ansichten sind.
Dawid, ein intelligenter junger Stammesangehöriger, der Englisch spricht und in den USA studieren möchte, bringt es auf den Punkt: 'Für uns ist das Jagen eine Frage des Überlebens. Nicht des Egos. Oder der Trophäen.' Das sieht Hunter nicht so; sein von Überheblichkeit und Egozentrik geprägtes Weltbild gerät erst ins Wanken, als es zu spät ist...
Die Geschehnisse zum Schluss sind anstrengend zu lesen; sie sind geradezu grotesk und fordern dem Leser einiges ab. Aber – wie Denis Scheck sagt: Man muss auch mal in die dunklen Ecken gucken - sich schockieren lassen, um die moralischen und ethischen Dilemmata und die Verschiebung von Werten zu erkennen und sich mit dieser Problematik zu beschäftigen. Von daher ist das Buch ein großer Gewinn. Mir hat es vor allem die Erkenntnis gebracht, wie Menschen Argumente benutzen, um ihre aberwitzigen Ideen zu rechtfertigen und für ihre Zwecke zurechtzubiegen. Da braucht man sich nur mal umzusehen...
Fazit
Ein großartiges Buch, schockierend und wortgewaltig, ein Highlight für mich und eine unbedingte Lese-Empfehlung.
Bewertung zu "Die vierzig Tage des Musa Dagh" von Franz Werfel
Es ist schon etliche Tage her, dass ich das Buch zugeklappt habe, aber es beschäftigt mich immer noch. Es ist einer der besten Klassiker, den ich je gelesen habe: basierend auf Tatsachen, spannend, mit tiefgehenden Personencharakterisierungen, von immerwährender Aktualität wegen der beschriebenen gesellschaftlichen Probleme und Themen und nicht zuletzt Informationen über den Völkermord an den Armeniern.
Wie kam es überhaupt zu diesem Buch?
Franz Werfel und seine Frau Alma fielen beim Besuch einer Teppichweberei in Damaskus ausgehungert aussehende Kinder mit großen Augen auf und sie erfuhren auf Nachfrage, dass es Überlebende des Genozids der Türken an den Armeniern waren. Als Werfel zudem noch von Widerstandskämpfern hörte, die sich 53 Tage auf dem Musa Dagh (Mosesberg) verschanzt hatten, bevor sie von alliierten Schiffen gerettet wurden, ließ ihn das nicht mehr los und er begann umfangreiche Recherchearbeiten. Sein Ziel: 'das unfassbare Schicksal des armenischen Volkes dem Totenreich alles Geschehenen zu entreißen'. Und das ist ihm bestens gelungen, auch wenn sein Roman der Bücherverbrennung der Nazis zum Opfer fiel. Die Parallelen sind unübersehbar: 'Unterdrückung, Vernichtung von Minoritäten durch den Nationalismus …', schreib Werfel an seine Eltern.
Zum Roman
Es fängt idyllisch an: Gabriel Bagradian, ein Geistesmensch, seit 23 Jahren in Frankreich lebend und mit der Pariserin Juliette verheiratet, ein Sohn, besucht wegen des Todes seines älteren Bruders sein Heimatdorf Yoghonoluk, eines von sieben Dörfern auf der meerabgewandten Seite eines Gebirgszuges. Es ist eine wunderschöne Landschaft, der französischen Riviera ähnlich; die von Handwerkern bewohnten Armenierdörfer sind schmuck und sauber. Man muss wissen, dass die christlichen Armenier schon immer dort lebten; früher gehörte die Gegend teilweise zu Syrien, heute zur Türkei. Es ist ratsam, sich eine Karte neben das Buch zu legen, um alles verorten zu können.
Doch dann beginnt das Unglück: der Erste Weltkrieg ist in vollem Gange und 1915 verbündet sich das Osmanische Reich mit den beiden Mittelmächten gegen die Triple Entente (Vereinigtes Königreich, Frankreich, Russland). Den Armeniern werden von den Türken die Pässe entzogen, auch Gabriel Bagradian, so dass er mit seiner Familie nicht mehr weg kann. In Istanbul werden alle armenischen Intellektuellen und Geschäftsleute verhaftet, was als Beginn der Armenierverfolgung gilt. Es folgen Deportationen mit dem Ziel der völligen Vernichtung. Bagradian hatte inzwischen wegen seiner Beobachtungen und düsteren Vorahnungen begonnen, sich ein Bild von der Bevölkerung und der Ausstattung mit Waffen zu verschaffen und den Musa Dagh zu kartieren. Als es Ernst wird, beschließt der Großteil der Dorfbevölkerung in einer großen Versammlung, sich auf dem Berg zu verschanzen und Widerstand zu leisten.
Mir hat es sehr imponiert, wie das alles organisiert wurde: Anführer wählen, heimlich Vorbereitungen treffen, alles hochschaffen und schließlich dem Deportationsbefehl zuvorkommen. Oben zeigt sich dann, wie schwierig es ist, eine Gemeinschaft aufzubauen, für was alles gesorgt werden muss und welche Schwierigkeiten auftreten, nicht zuletzt solche zwischen den reicheren und ärmeren Dorfbewohnern. Es gibt Neid, Streit und Unzufriedenheit und bei einigen den Wunsch, alles für sich zu behalten. Bagradian, der einmal türkischer Reserveoffizier war, organisiert den militärischen Widerstand.
Es passieren unglaublich viele Dinge: Angriffe der Türken, erfolgreicher Widerstand, Versuche, den Armeniern zu helfen, Hunger und Krankheit, Liebe und Hass. Wir bekommen Einsicht in die politische Lage: die Verwicklungen des Deutschen Reiches und seine Mitschuld, die hier allerdings nur gestreift wird. 'Das Narkotikum des Nationalismus', schreibt Werfel an seine Eltern. In Wirklichkeit sind den Politikern und Militärs des Deutschen Reiches die Armenier völlig egal und es stehen nur die Interessen der Mittelmächte gegen die Entente und Wirtschaftliches im Vordergrund: die Bagdadbahn, die Ölfelder in Mossul, Baumwolle.
Aber die Ausgrenzung von Fremden ist ein Phänomen, das selbst auf dem Musa Dagh eine Rolle spielt. So bleibt Juliette immer eine nicht anerkannte Fremde und selbst gegen Bagradian gibt es trotz aller Verdienste Vorbehalte. Sie bleiben 'die Zugereisten, Überheblichen und Unrechten.'
Dieses Buch ist so reichhaltig, dass meine Rezension ihm leider nicht gerecht werden kann. Ich staune über Werfels Vielseitigkeit, wie er Landschaftsschilderungen, Politisches, Militärisches, Personencharakterisierungen unter einen Hut bringt und wie es nie langweilig wird.
Es ist ein leidenschaftliches Plädoyer gegen die Verfolgung und Vernichtung von Minderheiten, das allerdings seiner Entstehungszeit entsprechend an manchen stellen ein wenig zu pathetisch klingt. Das mindert aber in meinen Augen keineswegs seinen Wert, so dass ich gerne eine volle Lese-Empfehlung ausspreche.
Bewertung zu "Das Philosophenschiff" von Michael Köhlmeier
100 Jahre ist sie alt, die ehemalige Star-Architektin Anouk Perleman-Jacob. Sie hört und sieht schlecht, ist aber geistig 'voll auf der Höhe'. Zwei Biografien gibt es über sie und ihr interessantes Leben, denn sie ist in St. Petersburg geboren und bis zum 14. Lebensjahr dort aufgewachsen, wurde aber auf Befehl Lenins mit ihren Eltern ausgewiesen.
Sie hat längst nicht alles erzählt und das will sie jetzt am Ende ihres Lebens nachholen. Besonders eine bestimmte Episode aus ihrem Leben möchte sie veröffentlicht haben. Dazu wählt sie einen bekannten Autor aus – es ist wohl Köhlmeier selbst – der im Ruf steht, dass er Erfundenes als wahr wiedergibt und dass man ihm deshalb Wahres oft nicht glaubt.
Hier spielt die alte Dame und mit ihr der Autor mit dem Phänomen Wahrheit, Erfindung, Erinnerung, ein geschickter erzählerischer Kniff von Köhlmeier, weil ich mich jetzt als Leserin ständig frage, ob etwas wahr ist oder nicht. Die Hauptperson Anouk ist erfunden, während die Anderen reale Personen der russisch-sowjetischen Geschichte sind.
Das ist also die Rahmen- bzw. Binnenerzählung; die eigentliche Geschichte wird von Anouk erzählt und vom Autor per Handy aufgenommen. So klingt es dann auch stilistisch: mündliche Sprache, geprägt von Wiederholungen, kurze Sätze, oft nur ein Wort und vor allem Gedankensprünge, wie das bei Erinnerungen so ist.
Anouk berichtet, wie sie und ihre Eltern (Intellektuelle, also der Intelligenzija zugehörend) deportiert werden, zum Glück nicht nach Sibirien, wie es das Schicksal vieler ist, sondern auf ein Schiff, das sie über die Ostsee bringen wird.
Dabei erfahren wir allerdings in erinnerten Rückblicken einiges über die Zustände in St. Petersburg/Petrograd: Wohnungsnot, Hunger, viele Tote in den Straßen und abgestumpfte Gleichgültigkeit, weil man es wahrscheinlich anders nicht ertragen kann. Ebenfalls schockierend die Paranoia, die sichtbar wird, das Verdächtigen um hundert Ecken herum, was immer wieder thematisiert wird. Da kommt leicht der Gedanke auf, dass Köhlmeier ein Buch über die aktuelle Situation schreiben wollte und das geschickt in eine Geschichte von früher verpackt hat. Denn wen haben wir z.B. vor Augen, wenn vom langen Tisch des Zaren Pavel berichtet wird? Ich sehe in vielem die heutige Situation gespiegelt.
Die später so genannten Philosophenschiffe hat es tatsächlich gegeben. Mit ihnen wurden auf Befehl Lenins im Jahre 1922 viele Intellektuelle, Künstler u.a. aus der Sowjetunion deportiert. Dieses erzählte Schiff ist jedoch erfunden und auch das, was darauf passiert sein soll. Es war ein großes Luxusschiff mit nur wenigen Passagieren an Bord, was ebenso verdächtig erschien wie der plötzliche Halt und das tagelange Herumdümpeln auf See. Da wird auch wieder die schon erwähnte 'russische Paranoia' sichtbar. Die Passagiere reden nicht miteinander, misstrauen einander, fragen sich, wer ein Spion ist und was wohl Schlimmes passieren mag.
Vielleicht wurde jemand abgeholt oder gebracht? Genau das ist es, was Anouk erzählen will. Bei ihren heimlichen nächtlichen Streifzügen trifft sie auf einen einsamen Mann im Rollstuhl und – es darf ruhig verraten werden, weil es im Klappentext steht – es ist Lenin, der für die Erschießungen und Deportationen verantwortlich ist. Doch jetzt ist er ein kranker Mann, abgeschoben von einem Mächtigeren, der ihn nach einem erneuten Stopp des Schiffes nachts heimlich aufsucht und ihm 'eine Rede hält', vielmehr abliest. Die halte ich für das Kernstück des Romans, eine Art philosophische Abhandlung über das Wesen der Macht. Schon in Gesprächen der jungen Anouk mit Lenin wurde über Gründe und Motive gesprochen. Also tatsächlich ein Philosophenschiff?!
Das klingt alles gut und dann 'nur' 4 Sterne? Es hätte tatsächlich ein 5-Sterne-Buch werden können: aktuelles Thema, kreative Idee. Aber ich finde, dass Köhlmeier die Chance vertan hat, das Buch so zu schreiben, dass es mehr Leser erreicht anstatt einige am Ende ratlos zurückzulassen. Bei einigen Episoden fragt man nach ihrer Funktion, z.B. ein Telefongespräch mit einem ehemaligen Freund; anderes ist langweilig, wie der trockene Exkurs in die russisch-sowjetische Geschichte. Die kargen, teils einsilbigen Dialoge stehen in krassem Gegensatz zum philosophisch anmutenden Vortrag, den sich Lenin anhören muss. Ganz klar ist am Ende nicht, was Köhlmeier mit diesem Buch sagen will.
Fazit
Eins aber muss ich dem Buch zugute halten: es hat mich zum Nachdenken gebracht und dazu, einige Stellen mehrfach zu lesen, weil sie allgemeingültige bzw. aktuelle Gedanken enthalten, die auch nach dem Lesen noch nachwirken.