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FrankRudkoffsky

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Rezensionen und Bewertungen

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Cover des Buches Weiter als der Himmel (ISBN: 9783938803653)

Bewertung zu "Weiter als der Himmel" von Pippa Goldschmidt

Weiter als der Himmel
FrankRudkoffskyvor 8 Jahren
Kurzmeinung: Ein tieftrauriger, stellenweise amüsanter Roman - und darüber hinaus ein faszinierender Einblick in die Welt der Astronomie.
Die Stille nach dem Urknall

Eigentlich läuft alles bestens für Jeanette. Als frisch promovierte Astronomin hat sie die Weichen für ihre Zukunft gestellt und kann endlich entkommen: „Dem Zuhause, der Depression des Sofas, dem radioaktiven Leuchten des Fernsehers, dem außerirdischen Vakuum im Haus und der Zigarettenasche, die auf alles niederrieselt wie Erde auf einen Sarg.“ Trotzdem lässt sie die Vergangenheit nicht los. Ein tragischer Unfall aus ihrer Kindheit wirft einen Schatten, aus dem Jeanette noch immer nicht heraustreten kann: „Im Sommer, in dem Jeanette zehn Jahre alt ist, explodiert ihr Zuhause. Ein heftiger Blitz fegt durch alle Räume, entzieht ihnen Luft und Geräusche und Farben, macht alles blendend weiß, makellos still.“

Seit dem Ertrinken ihrer großen Schwester Kate, als Schwimmwunderkind der ganze Stolz ihrer Eltern, driftet die traumatisierte Familie auseinander wie nach einem Urknall. Es entsteht ein kaltes neues Universum mit scheinbar unumstößlichen Naturgesetzen: ein expandierendes Weltall ohne Schall, in dem niemand mehr über Kate spricht und sich alle immer weiter voneinander entfernen. Das jahrelange Schweigen fordert seinen Tribut: Die Schwerkraft der unterdrückten Trauer lässt Jeanettes Mutter in eine Depression versinken, während ihr Vater nach einem selbstverursachten Brandunfall aus der familieneigenen Umlaufbahn geschleudert wird und heimlich seinen Seelenfrieden in den Armen einer anderen Frau sucht. Jeanette hadert hingegen mit ihrem Minderwertigkeitsgefühl gegenüber der von allen bewunderten Schwester, die selbst im Tod, selbst im Schweigen noch immer im Mittelpunkt der Familie steht.

Auch als promovierte Astronomin muss Jeanette um Wahrnehmung kämpfen. Als eine der wenigen Frauen des Wissenschaftsbetriebs ist sie einem harten Konkurrenzkampf und herablassendem Sexismus ausgesetzt. Umso größer ist die Aufregung über ihre Entdeckung zweier Galaxien, die – entgegen der Gesetze der Standard-Urknalltheorie – miteinander verbunden zu sein scheinen. Weil Jeanettes Daten eindeutig sind, hält sie allen Widerständen zum Trotz an ihnen fest. Ein Affront: Ihre Entdeckung stellt schließlich nicht nur die gängige Lehrmeinung in Frage, sondern auch ein System, das von alten Männern und speichelleckenden Karrieristen verteidigt wird. Aufgrund ihrer Entdeckung erlebt Jeanette beruflich eine Berg- und Talfahrt, die sich auch im Privaten spiegelt. Zu Beginn des Romans herrscht in Jeanettes Leben noch gähnende Leere; von ihren Eltern entfremdet, wahrt sie auch zu ihren Mitmenschen zumeist Distanz und versteckt sich hinter nüchternem Sarkasmus. Dann lässt Jeanette jedoch erstmals seit Jahren Nähe zu und verliebt sich trotz Bindungsangst in ihre langjährige Freundin Paula – wohlwissend um das Risiko einer amour fou, die sie noch weiter aus der Bahn werfen könnte.

Jeanette will nicht weiter alleine durchs All trudeln, ist auf der Suche nach Verbundenheit und Nähe. Vor allem ist es aber die Verbindung zu ihrer Schwester, die sie verzweifelt zu halten versucht. Außer verblassenden Erinnerungen ist ihr nichts von Kate geblieben; als sie das Haus ihrer Eltern nach Gründen für Kates rätselhaftes Ertrinken durchsucht, entdeckt sie zum ersten Mal seit Jahren ein Foto von ihr – und stiehlt es kurzerhand. Selbst wenn sie in Sternwarten den Nachthimmel nach Beweisen für ihre Entdeckung absucht, ist sie in Gedanken stets bei Kate. Der Blick auf die Sterne ist schließlich immer auch ein Blick in die Vergangenheit. Für diejenigen, die sie von der Erde aus beobachten, leuchten sie weiter, selbst Jahrtausende nach ihrem Verglühen. Mit der Zeit richtet Jeanette ihren Fokus jedoch immer stärker auf die Dunkelheit: An ihrem Tiefpunkt kartografiert sie bloß noch die Leerstellen des Universums, sogenannte Voids, in denen das schiere Nichts zu herrschen scheint. Um ihren Frieden mit Vergangenheit und Gegenwart zu schließen, muss Jeanette das zentrale Postulat der familiären Urknalltheorie widerlegen: dass alle immer weiter auseinanderdriften müssen, bis es keine Verbindung mehr zwischen ihnen gibt.

„Weiter als der Himmel“ besticht vor allem durch Pippa Goldschmidts klare, bildhafte Prosa, die sich oft an Motiven aus der Astronomie bedient. Die häufigen Verweise auf das gemeinsame Forschungsgebiet von Autorin und Protagonistin – Pippa Goldschmidt ist selbst promovierte Astronomin – wirken dabei nie erzwungen, sondern spiegeln glaubwürdig Jeanettes Gedankenwelt und werden nicht selten durch Sprachwitz gebrochen. Trotz der melancholischen Grundstimmung nimmt der weibliche Blick auf den männerdominierten Wissenschaftsbetrieb stellenweise beinahe satirische Züge an. Auch die vielen wissenschaftlichen Fakten wirken wie selbstverständlich: Goldschmidt macht nicht den Fehler, ihre Figur alles erklären zu lassen – als Leser versteht man lediglich so viel wie nötig.

Einen Kritikpunkt habe ich allerdings: Die Verwendung der alten Rechtschreibung hat – passend zum Thema – ebenfalls etwas vom Festhalten an Vergangenem. Ich bin weißgott kein Freund der Rechtschreibreform, die in manchen Punkten eher zur Verwirrung als zur Erleichterung geführt hat. Dennoch hält diese Verwirrung – insbesondere für junge Leser – weiter an, wenn Verlage ihre Bücher nach uneinheitlichen Regeln publizieren. In Grammatiktests war ich als Schüler eine Niete – weil ich viel las, machte ich in Diktaten und Aufsätzen trotzdem fast nie Fehler. Nach dem Chaos der Reform droht heute das Gegenteil.

Natürlich trübt dies nicht den positiven Eindruck von Pippa Goldschmidts Romandebüt. „Weiter als der Himmel“ ist ein tieftrauriger, stellenweise amüsanter Roman und erlaubt darüber hinaus einen faszinierenden Einblick in die Welt der Astronomie – und das, ohne den Nachthimmel zu entmystifizieren. Eigentlich ganz schön zu wissen: Beim Blick in die Sterne werden selbst Astronomen zuweilen melancholisch.

Cover des Buches Kim und Struppi: Ferien in Nordkorea (ISBN: 9783843707022)

Bewertung zu "Kim und Struppi: Ferien in Nordkorea" von Christian Eisert

Kim und Struppi: Ferien in Nordkorea
FrankRudkoffskyvor 9 Jahren
Kurzmeinung: Trotz reißerischer Aufmachung ein interessantes, ehrliches und menschliches Buch über ein zutiefst unmenschliches Regime.
Die Welt zu Gast bei Feinden: ein „embedded Roadtrip” durch Kim Jong-uns Nordkorea

Was in Vegas passiert, bleibt in Vegas – die berühmte Aussage über die hellste Stadt der Welt ließe sich ebenso gut auf die vielleicht dunkelste Stadt der Welt übertragen: Pjöngjang. Nordkorea ist nicht nur auf nächtlichen Satellitenbildern ein schwarzer Fleck – aus der abgeschotteten Militärdiktatur dringen nur wenige gesicherte Informationen nach außen, entsprechend groß ist die Neugierde auf das gleichermaßen skurrile wie grausame Regime und sein indoktriniertes, verarmtes Volk. Trotzdem wagen es nur wenige tausend Menschen im Jahr, nach Ostasien zu reisen und sich im (strengen!) Rahmen einer geführten Tour selbst ein Bild vom vielleicht letzten wirklich kommunistischen Land der Erde zu machen. Einer von von ihnen ist Christian Eisert, TV-Autor und ehemaliger Gagschreiber von Harald Schmidt; gemeinsam mit Fotoreporterin Thanh reist Eisert, weil Journalisten die Einreise strikt untersagt ist, unter falscher Flagge durch ein Land, das nicht nur scheinbar aus der Zeit gefallen ist. Frei bewegen können sie sich nicht: Auf ihrem embedded Roadtrip bleiben sie immer in Begleitung ihrer Reiseführer und Aufpasser Rym und Chung, die stets bemüht sind, Nordkorea ins beste Licht zu rücken.

Dass ich auf „Kim & Struppi. Ferien in Nordkorea“ aufmerksam geworden bin, habe ich einem Zufall zu verdanken. Normalerweise lese ich keine Bücher von Comedy-Autoren, selbst, wenn ich deren eigentliche Arbeit zuweilen zu schätzen weiß; es macht nun mal einen großen Unterschied, ob etwa ein David Foster Wallace über eine Kreuzfahrt schreibt oder jemand wie Christoph Maria Herbst. Zu viele Prominente – ganz gleich, ob aus der A-Riege oder den hinteren Teilen des Alphabets – füllen inzwischen die Regale der Buchhandlungen und verstellen den Blick auf anspruchsvollere Titel. Keine Frage: Die inflationären Promi-Biografien sind das literarische Äquivalent zu Katzenvideos auf Youtube. Vermutlich hätte ich Christian Eiserts launigen Reisebericht nie gelesen: Der Buchtitel, das grelle Cover und der reißerische „Waschzettel“ schreien geradezu nach der platten Skurrilitätensammlung, die man von einem Comedy-Autor erwarten würde. Ich hätte etwas verpasst. 

Als kürzlich jedoch eine Lesereihe in meiner unmittelbaren Nachbarschaft Christian Eisert einlud, war meine Neugierde auf Kim Jong-uns bizzares Regime zu groß, um zu Hause zu bleiben. Ich hoffte auf einen interessanten und witzigen Abend, bei dem einem das Lachen manchmal im Halse stecken bleibt, und wurde nicht enttäuscht: Ganz Medienprofi, wusste Christian Eisert glänzend zu unterhalten. Erwartungsgemäß standen bei der Lesung die absurden Anekdoten im Vordergrund, mit denen in einem weltfremden und von Propaganda geprägten Land wie Nordkorea zu rechnen war. Meine Neugierde weckten jedoch vor allem jene Passagen, in denen das Zwischenmenschliche zum Vorschein kam: Wie entwickelte sich das Verhältnis zwischen den Reisenden und ihren Aufpassern während der einwöchigen Reise? Entstand in dieser Zwangsgemeinschaft Sympathie, gar Freundschaft – oder angesichts der kulturellen und politischen Gegensätze eher das Gegenteil? Während eines kurzen Gesprächs nach der Lesung versicherte mir Eisert, dass die persönliche Ebene im Buch weit mehr Raum einnehme als auf seiner Lesung.

Bizarre Details und absurde Beobachtungen gibt es in „Kim & Struppi“ natürlich zuhauf – aber eben auch sehr viel mehr. Das Buch ist zwar durchaus amüsant, allerdings – zum Glück! – bei Weitem nicht so lustig wie angekündigt. Trotz aller Ironie nimmt Christian Eisert die Menschen und Probleme des Landes ernst. Feinfühliger und differenzierter, als ich es erwartet hätte, macht er immer wieder deutlich, zu welchen Grausamkeiten die Kim-Dynastie imstande ist und was für Entbehrungen ihr Volk seit Jahrzehnten ertragen muss. In gut recherchierten Exkursen erfährt man als Leser eine Menge über die Zustände in Nordkorea und seine Geschichte.

Die Zwangsgemeinschaft mit Rym und Chung, ihren zwei nicht unsympathischen Aufpassern, zeigt die ganze Ambivalenz eines Urlaubs in Nordkorea. Christian Eisert und Thanh müssen sich ständig mit der Frage auseinandersetzen, ob sie auf der geführten Propagandatour wider besseren Wissens gute Miene zum bösen Spiel machen oder die Farce in Frage stellen sollen. Während sich Eisert in Ironie flüchtet und manchmal nur knapp am Stockholmsyndrom vorbeischrammt, fällt es Thanh deutlich schwerer, sich zurückzuhalten. Durchaus ein moralisches Dilemma: Im Zweifelsfall müssen nämlich ihre nordkoreanischen Guides für das Fehlverhalten ihrer Schützlinge gerade stehen. Auch psychisch stellt die Reise Eisert und Thanh auf eine harte Probe. Nordkorea ist – zumal für Journalisten – eines der gefährlichsten Länder der Welt. Das Wissen um permanente Geheimdienstüberwachung ruft Paranoia und Beklemmung hervor, die mangelnde Bewegungsfreiheit und zwischenmenschliche Enge immer öfter Lagerkoller. Umso befreiender wirken die wenigen Momente, in denen die Reisenden und ihre Guides entspannt miteinander umgehen können und sich manchmal sogar zu Albernheiten hinreißen lassen.

Trotz mancher – meist unnötiger – Cliffhanger kommt in „Kim & Struppi“ nur selten Spannung auf. Hier wäre genau wie beim Titel und der Umschlaggestaltung ein wenig mehr understatement angebracht gewesen. Denn eigentlich hat das Buch keinerlei Effekthascherei nötig: Wer selbst gerne reist, bleibt alleine aus Neugierde am Ball. Dank Christian Eisert dürfen wir einen sehr ehrlichen und zutiefst menschlichen Blick auf ein Land werfen, das wir vermutlich nie mit unseren eigenen Augen sehen werden. Und das ist – so viel wird nach der Lektüre dieses Buches deutlich – mehr als schade.

Cover des Buches Lebensgroßer Newsticker: Szenen aus der Erinnerung (ISBN: 9783944543215)

Bewertung zu "Lebensgroßer Newsticker: Szenen aus der Erinnerung" von Aboud Saeed

Lebensgroßer Newsticker: Szenen aus der Erinnerung
FrankRudkoffskyvor 9 Jahren
Leben. Trotz. Krieg.

Wenn Aboud Saeed nicht gerade versucht, einem Esel den Penis abzureißen, ist er eigentlich ein ganz normaler junger Mann. Er denkt zu oft an Frauen, treibt sich zu lange auf Facebook herum, gibt zu viel Geld für Alkohol und Zigaretten aus. Man könnte glatt mit ihm befreundet sein oder ihn aus der Nachbarschaft kennen. Aboud Saeed ist aber nicht der Junge von Nebenan, sondern in einer syrischen Kleinstadt nahe Aleppo aufgewachsen. In einem Land, in dem Bürgerkrieg und Armut, Assad und ISIS nicht die Nachrichten, sondern den Alltag prägen, träumt man als Heranwachsender nicht nur von Mädchen und wilden Nächten, sondern eben auch von einem Leben, „wo die Tochter meiner Schwester ihren gekauten Kaugummi nicht auf den Fernseher klebt, damit sie ihn am Tag darauf weiterkauen kann.“ Oder davon, dass der Bruder nur kurz hätte innehalten müssen, um sich seine Zigarette anzuzünden: „Dann hätte ihn die Bombe knapp verpasst.“

„Lebensgroßer Newsletter“ erzählt nicht vom Krieg, sondern von einem Land, in dem der Krieg längst zur Normalität geworden ist. In kurzen Anekdoten, poetischen Gedankenspielen und Alltagsskizzen zeigt Saeed, wie sehr dieser die Menschen verändert, die trotz Armut und Leid weitermachen, weiter funktionieren müssen.

In den manchmal bitteren, oft aber auch leichtfüßigen und amüsanten Anekdoten liest man von lebenshungrigem Trotz und jugendlicher Großmäuligkeit. Man liest von Saeeds Unsicherheit gegenüber Mädchen und seiner Frustration, in Armut zu leben. Liest vom Versuch, einem Esel den Pimmel auzureißen und davon, was es heißt, nicht genügend Töpfe für die undichten Stellen im Dach zu haben. Liest manchmal Albernes, fast Belangloses – und dann wieder diesen einen Satz, der einem ohne Vorwarnung das Herz bricht.

Aboud Saeeds einfache und oft launige Prosa erinnert manchmal an die Texte von Poetry Slams, wäre da nicht der Kern harter, grausamer Realität, der ihnen Gewicht verleiht. Dabei kommt Saeed oft ganz ohne Pathos aus: Der Schrecken des Krieges ist fast beiläufig, weil die kleinen, privaten Tragödien inzwischen Alltag in der großen Tragödie Syriens sind. Sie sind kaum noch etwas Besonderes – und das ist die eigentliche Tragödie. Am Beispiel seiner Mutter zeigt Saeed, wie sehr der Krieg die Menschen abstumpfen lässt: Als sein Vater starb, ließ sie ein ganzes Jahr lang den Fernseher, das Radio, den Kassettenrekorder verschwinden. Beim Tod seines Bruders tat sie nichts dergleichen; sie hatte sich an das Verlieren geliebter Menschen gewöhnt.

Nach den 38 kurzen Texten, in denen man mit und über Aboud Saeed gelacht hat, ihn vor seinem inneren Auge leiden, trotzen und leben sah, glaubt man tatsächlich, ihn zu kennen wie einen guten Freund. Vielleicht ist Aboud als Mensch ganz anders und bloß ein guter Geschichtenerzähler – aber das ist am Ende vollkommen egal. Sein Buch zeigt das Leben hinter den Nachrichtenbildern und bringt uns Menschen nahe, die der alltäglichen Tragödie in Syrien einen Rest an Normalität abzutrotzen versuchen. Aboud Saeed schenkt diesen Menschen eine Stimme, die weit mehr berührt als Nachrichten über verwüstete Städte und Tote, denen mit zunehmender Dauer des Krieges immer abgestumpfter, empathieloser begegnet wird. Denn: Um wen bangen wir bitte mehr als um einen guten Freund?

Cover des Buches Eure Väter, wo sind sie? Und die Propheten, leben sie ewig? (ISBN: 9783462047721)

Bewertung zu "Eure Väter, wo sind sie? Und die Propheten, leben sie ewig?" von Dave Eggers

Eure Väter, wo sind sie? Und die Propheten, leben sie ewig?
FrankRudkoffskyvor 9 Jahren
Wutbürger im Brachland

Manche Menschen finden erst spät zu ihrer Bestimmung. So auch Thomas: Um seinem Leben endlich Bedeutung zu verleihen, musste der arbeitslose Amerikaner erst 34 werden – und sieben mit Chloroform betäubte Menschen in einen verfallenen Militärstützpunkt verschleppen. Thomas nimmt nicht nur seine eigene Mutter, sondern unter Anderem auch einen ehemaligen Kongressabgeordneten und einen Astronauten als Geisel, weil er Antworten sucht. Denn eigentlich will Thomas bloß reden: über die Gründe für seine gescheiterte Biografie und den sinnlosen Tod seines Freundes Don. Und über ein Amerika, dem er an beidem die Schuld gibt.

Nach „The Circle“ ist „Eure Väter, wo sind sie? Und die Propheten, leben sie ewig?“ abermals ein programmatisches, politisches Buch geworden, das sich nicht vor klaren, für manche vielleicht plakativen Botschaften scheut; dennoch stellt es ein Novum in Eggers’ Schaffen dar. Seine zuletzt bereits reduzierte, fast karge Prosa – ein häufiger Kritikpunkt an seinem letzten Roman – beschränkt sich diesmal ausschließlich auf die Dialoge aus Thomas’ Verhören. Doch obwohl Eggers als Erzähler komplett in den Hintergrund rückt, werden seine politischen Ansichten so deutlich wie nie.

Sein Protagonist Thomas ist einer jener Zukurzgekommenen, die den Grund für ihr persönliches Scheitern stets bei Anderen suchen; er fühlt sich ohnmächtig und bedeutungslos angesichts einer immer komplexeren Welt, die keinen Platz für einen wie ihn zu haben scheint. Obwohl es schon immer einfacher war, den Finger auf Andere zu richten, als sich selbst zu hinterfragen, sind Menschen wie Thomas ein typisches Phänomen unserer Zeit: Ob Tea Party oder Pegida – den Wutbürger findet man derzeit sowohl diesseits als auch jenseits des Atlantiks. Auch die Eskalation von Blockupy in Frankfurt, Pauschalurteile über die sogenannte Lügenpresse oder das Erstarken rechtspopulistischer Parteien in halb Europa sind symptomatisch für den Vertrauensverlust der Politik und eine fehlende Identifikation mit ihren Akteuren.

Wie so viele macht Thomas vor allem Andere, insbesondere die da oben für seine Misere verantwortlich. Zwischen ihm und etwa den wütenden Verlierern von Pegida gibt es allerdings einen erheblichen Unterschied: Thomas ist zwar in der Wahl seiner Mittel radikal, nicht jedoch in seinen Ansichten. Im Gegensatz zu einem Lutz Bachmann würde er wissen, dass der Zweifingerbart nicht zur Ironisierung taugt und er nicht der Mops unter den Bärten, sondern der Rottweiler unter den Gesten ist. Trotz seines im Laufe des Romans immer offensichtlicheren Wahns steht Thomas eigentlich auf der richtigen Seite und stellt die richtigen Fragen, zieht manchmal sogar die richtigen Schlüsse. Während seines Tribunals legt er den Finger in die offenen Wunden eines zerrissenen und kranken Landes, das in vielem dem verfallenen Militärstützpunkt gleicht, in dem sich Thomas mit seinen Geiseln versteckt. Für das gewaltige Grundstück, das von einstiger Größe und Bedeutung zeugt, hat niemand mehr Verwendung, geschweige denn eine Idee. Thomas will wissen, wie der Nation das Geld für Bildung und Schulen fehlen kann, wenn sie doch Jahr für Jahr mehr ins Militär und ungewünschte Kriege steckt; will wissen, wie es möglich ist, dass ein verwirrter junger Vietnamese im eigenen Garten von Polizisten geradezu durchsiebt wird, ohne dass es zu einer Untersuchung kommt. Er sehnt sich nach einem Amerika, das inspiriert anstatt zu beschämen, wünscht sich für seine Generation eine Aufgabe, einen Plan. Doch obwohl Thomas in vielem Recht hat, stilisiert er sich als ein Opfer, das er nicht ist: Durch seine Mutter erfahren wir, dass er bereits als Kind wütend und unselbstständig war, er später weder eine Beziehung führen noch einen Job halten konnte. Sein Zorn macht Thomas unberechenbar und gefährlich.

Man spürt, wie viel von Eggers in Thomas steckt; die Frustration über den Zustand der USA ist echt, aber umso schärfer, polemischer, indem er sie einem Geisteskranken in den Mund legt. Einmal mehr zeigt Eggers in seinen Büchern Haltung. Das werden manche – besonders im deutschen Feuilleton – besserwisserisch und belehrend finden, vielleicht sogar platt. Und sie hätten womöglich Recht, richtete sich Eggers primär an deutsche Leser mit eurozentrischem Weltbild. Angesichts der politischen Kultur der USA – gerade in den vergangenen Jahren – ist das, was hier gerne als plakativ und allzu moralisch abgestempelt wird, dort allerdings eine wichtige Stimme der Vernunft in einer zutiefst gespaltenen Gesellschaft, in der Eggers’ Positionen eben kein Meinungsmainstream sind. Als deutschem Autor würde ich ihm wahrscheinlich viel weniger durchgehen lassen, mir von einem Roman wie diesem mehr Ambivalenz, mehr Zweifel wünschen. Aber in einem Land, in dem Kompromiss und Liberalität als Schimpfworte gelten, während tendenziöse Medienanstalten wie Fox News die politische Kultur vergiften, einem Land, in dem die Waffenlobby als unantastbar gilt, aber ausgerechnet eine Krankenversicherung die Gemüter erhitzt, darf und muss man als Autor Haltung zeigen können.

Der vorhersehbare (und durchaus zynische) Gutmensch-Reflex mancher Rezensenten lässt vollkommen außer Acht, wo und für wen Dave Eggers als Schriftsteller hauptsächlich wirkt. „The Circle“ hat sich nirgends in der Welt so gut verkauft wie in Deutschland; das ist im Land der digitalen Bedenkenträger, das dank der Verpixelung ganzer Straßenzüge bei Google Street View womöglich schlechter repräsentiert ist als Nordkorea, allerdings auch keine Überraschung. Dennoch hat Eggers seinen neuen Roman nicht für uns geschrieben. In „Eure Väter, wo sind sie? Und die Propheten, leben sie ewig?“ geht es nicht um ein globales Phänomenen, sondern allein um die USA und deren Missstände. Will man dieses Buch begreifen, muss man die politische Kultur der Vereinigten Staaten und das Selbstverständnis ihrer Bürger, den american way of life, berücksichtigen. Die Identifikation mit der eigenen Nation – als auserwähltes Volk! – ist das, was die US-Bürger trotz all ihrer Unterschiede eint. In Dave Eggers’ Roman ist die Figur des Thomas stellvertretend für die vielleicht schwerste Identitätskrise der USA seit ihrem Bestehen. Immer weniger Bürger fühlen sich von Washington repräsentiert; nach zwei Amtszeiten unter Bush und Cheney folgte mit Obama ein Präsident, der viele großen Hoffnungen enttäuschte und dank der unerbittlichen Spaltung zwischen Demokraten und Republikanern kaum noch handlungsfähig ist. Thomas hat den Glauben an den amerikanischen Traum verloren, den Glauben daran, dass jeder seine Chance bekommt, wenn er nur hart genug dafür arbeitet. Wie soll er sich mit einem Land identifizieren, das seine Bürger nicht mehr stolz, sondern ratlos macht, sie mitunter sogar beschämt?

Thomas ist enttäuscht. Von einem Land, das das Versprechen seines Traumes schon lange nicht mehr einlöst. Und von einer Mutter, die ihm nie beigebracht hat, für seinen zu kämpfen. Also nimmt Thomas sein Schicksal nun endlich in die eigene Hand – koste es, was es wolle…

Cover des Buches Der Planet Trillaphon im Verhältnis zur Üblen Sache (ISBN: 9783462047493)

Bewertung zu "Der Planet Trillaphon im Verhältnis zur Üblen Sache" von David Foster Wallace

Der Planet Trillaphon im Verhältnis zur Üblen Sache
FrankRudkoffskyvor 9 Jahren
118 Gramm Schwermut

Keine Frage, David Foster Wallace ist alles andere als ein literarisches Leichtgewicht. Auch buchstäblich nicht: Sein Mammutroman „Unendlicher Spaß“ bringt in der Hardcover-Version ganze 1,48 kg auf die Waage und ist damit nicht nur inhaltlich alles andere als leichte Lektüre. „Der Planet Trillaphon im Verhältnis zur Üblen Sache“, Wallaces erste publizierte Kurzgeschichte aus dem Jahr 1984, bringt es dagegen gerade einmal auf magere 118 Gramm und wirft damit die Frage auf, ob der geringe Textumfang eine Veröffentlichung als eigenständiges Buch rechtfertigt.

Anstatt seine bislang in Deutschland unveröffentlichten Texte zu einem letzten Band zusammenzufassen, der die Vielfalt seines Wirkens und Könnens unter Beweis stellt, hat Kiepenheuer & Witsch ähnlich wie bei „Am Beispiel des Hummers“ oder „Das hier ist Wasser“ einen relativ kurzen Text mit kinderbuchgerechtem Schriftbild und einer nur für wenige Leser interessanten Englischfassung unverhältnismäßig aufgeblasen, um auch noch die letzten Krümel von Wallace als Kuchen zu verkaufen. Brauchte man für die unzähligen Fußnoten seines wichtigsten Romans beinahe eine Lupe, ließe sich dieses Büchlein auch mit ausgestrecktem Arm noch gut lesen. Von meiner Oma. Einzelgeschichten oder Essays wie eine Single zu veröffentlichen, ist nur dann eine gute Idee, wenn Inhalt und Preis in einem fairen Verhältnis zueinander stehen. Sechs Euro für eine bestenfalls zwanzigminütige Lektüre stehen jedoch weder in Relation zu den 17,99 € für 1552 Seiten unendlichen Spaßes noch zur Preisentwicklung auf dem E-Book-Markt; die digitale Variante der Kurzgeschichte ist großzügigerweise um einen ganzen Eurocent günstiger und damit fast ein Schnäppchen – zumindest für diejenigen, die ihre Kugelschreiber gerne im Ein-Euro-Shop kaufen. Einzeln, versteht sich.

Diese Veröffentlichung ist leider symptomatisch für vieles, das derzeit bei den etablierten Verlagshäusern falsch läuft. Dass ich mich trotzdem für dumm verkaufen ließ, hat drei Gründe. Zum einen hat mich David Foster Wallace in „Unendlicher Spaß“ so stark beeindruckt wie kein Autor zuvor; er hat die Messlatte für mich nicht einfach bloß höher gehängt, sondern geradezu die Skala gesprengt. Zum anderen freue ich mich, wenn die herausragende Arbeit seines sympathischen Übersetzers Ulrich Blumenbach gewürdigt wird.

Und lesenswert ist die Kurzgeschichte allemal: Im Ringen um Worte für das Unaussprechliche versucht Wallace, seine Depressionen mit offenem Visier zu bekämpfen. Schon in seinem opus magnum hat David Foster Wallace das Wesen seelischer Krankheiten so schmerzhaft präzise auf den Punkt gebracht wie kaum ein anderer. Nirgends schrieb Wallace so offen über seine persönlichen Abgründe wie in „Unendlicher Spaß“ – außer eben in jener ersten Kurzgeschichte, die er mit 22 im „The Amherst Review“ veröffentlichte und die kaum chiffriert seine eigene Krankengeschichte beschreibt. In „Der Planet Trillaphon im Verhältnis zur Üblen Sache“ begegnen wir Wallace als jungem Autor, der seinen einzigartigen Stil noch lange nicht gefunden hat. Dennoch ist in dieser frühen Kurzgeschichte bereits viel von dem zu finden, was Wallace knapp zehn Jahre später zu einem der brillantesten Schriftsteller seine Generation machte: Man bekommt eine erste Ahnung von der Präzision und dem tieftraurigen Humor, mit denen er seinen Schmerz zu sezieren versucht, wenn auch noch nicht mit derselben Meisterschaft wie in „Unendlicher Spaß“.

Gerade jetzt, wo Depressionen nach dem Absturz der Gemanwings-Maschine dank aufgepeitschter Medienberichterstattung wieder zum gesellschaftlichen Stigma zu werden drohen, ist diese Kurzgeschichte eigentlich eine lohnenswerte Lektüre. Wenn ich jedoch anfinge, hier aus dem Text zu zitieren, stünde vermutlich bald das halbe Büchlein in diesem Eintrag. Schade eigentlich: Eine treffendere Beschreibung dieser Krankheit habe ich bislang nicht gelesen.

Cover des Buches Mein Akku ist gleich leer: Ein Chat von der Flucht (ISBN: 9783944543222)

Bewertung zu "Mein Akku ist gleich leer: Ein Chat von der Flucht" von Julia Tieke

Mein Akku ist gleich leer: Ein Chat von der Flucht
FrankRudkoffskyvor 9 Jahren
Odyssee durch Südosteuropa

Das Chatprotokoll zwischen der deutschen Studentin Julia Tieke und dem syrischen Flüchtling Faiz dokumentiert eine monatelange Odyssee durch Südosteuropa, die vom Mut der Verzweiflung geprägt ist. Weil Faiz aufgrund seines zivilgesellschaftlichen Engagements die Enthauptung durch den IS droht, versucht er sich gemeinsam mit anderen Syrern nach Deutschland durchzuschlagen. Ihre Flucht führt sie in die Türkei und von dort nach Griechenland, droht jedoch in Mazedonien und Serbien immer wieder aufs Neue zu scheitern. Gleich mehrfach werden sie verhaftet, geschlagen und zurückverfrachtet; vierzig Kilometer lange Fußmärsche mit ungewissem Ausgang sind keine Seltenheit, klamme Nächte in Wäldern voller Moskitos die Regel. In seinen Chats mit Julia schreibt Faiz, dessen Sarkasmus zunehmend offener Verzweiflung weicht, lakonisch über die Demütigungen, die ihm und seinen Mitstreitern beinahe täglich widerfahren, und dokumentiert ihren entbehrungsreichen Alltag mit Fotos von seiner Handykamera. Immer öfter muss Julia ihm Mut zusprechen; umso beklemmender wirkt die Funkstille, wenn Faiz wieder einmal aufgegriffen und tagelang in Gefängnissen mit unmenschlichen Zuständen festgehalten wird. 


Man sollte "Mein Akku ist gleich leer" nicht als Text mit literarischem Anspruch verstehen, sondern vielmehr als ein Dokument der Hilflosigkeit von Menschen, die sich von der Internationalen Gemeinschaft zurecht im Stich gelassen fühlen. Darüber hinaus ist diese Veröffentlichung ein gutes Beispiel für die Aktualität und die Textsorten, die mit digitaler Literatur möglich sind. Vor allem kann sie Menschen, die ansonsten vielleicht ungehört blieben, eine Stimme geben – so zum Beispiel auch dem syrischen Flüchtling Aboud Saeed, dessen Texte ebenfalls bei Mikrotext erschienen sind.

Cover des Buches Ihr Pixelherz: Eine Love Story (ISBN: 9783944543239)

Bewertung zu "Ihr Pixelherz: Eine Love Story" von Jan Fischer

Ihr Pixelherz: Eine Love Story
FrankRudkoffskyvor 9 Jahren
Digitale Verwahrlosung

In seiner Erzählung "Ihr Pixelherz" schreibt Jan Fischer über eine amour fou in der virtuellen Welt des second life, die schon bald die Oberhand über das echte Leben gewinnt. „Ich sah sie zum ersten Mal zwischen Grafikfehlern an einem Nacktbadestrand. Die Palmen neigten sich in kalkulierten Winkeln Richtung Wasser und schwankten in Zufallssequenzen, als gäbe es Wind, die Sonne ging nie unter, sie hing starr immer an derselben Stelle im Hintergrund.“ Nach dieser ersten Begegnung mit der geheimnisvollen Fremden schlägt sich der Erzähler die Nächte um die Ohren, um mit ihr die künstlichen Welten der Online-Community zu erkunden. Er zieht sich immer weiter zurück und setzt damit nicht nur die Beziehung zu Freundin Anna, sondern auch seinen Job aufs Spiel. In einer geradezu paranoiden Verschränkung verschwimmen jedoch zusehends die Grenzen zwischen echter und virtueller Realität; sie lösen sich genauso auf wie die Bindungen des Erzählers, der – soviel sei verraten – schließlich in beiden Welten alleine ist. 


"Ihr Pixelherz" ist ein digitaler Text über digitale Verwahrlosung, der genauso gut Teil eines klassischen Erzählbandes sein könnte. Es ist fast ein bisschen schade, dass angesichts der Thematik die Möglichkeiten digitalen Erzählens nicht noch weiter ausgelotet wurden – besonders visuell wäre hier einiges möglich gewesen. Auch Jan Fischers Essay über die digitalen Ruinen des second life hätte sich gut als „Bonusmaterial“ geeignet. Andererseits hat seine gelungene Erzählung etwaige Spielereien eigentlich nicht nötig: Sie trägt sich nämlich auch ganz altmodisch selbst.

Cover des Buches Was aus uns wird (ISBN: 9783847905653)

Bewertung zu "Was aus uns wird" von David Gilbert

Was aus uns wird
FrankRudkoffskyvor 9 Jahren
Kurzmeinung: Gilbert ist ein sehr unterhaltsamer, doppelbödiger Roman gelungen, der vor allem dank seiner offenen Fragen an Vielschichtigkeit gewinnt.
So weit, so Franzen.

In David Gilberts Roman „Was aus uns wird“ dreht sich alles um einen gealterten Schriftsteller, der sich vor Jahrzehnten gleich mit seinem Debüt, einem gefeierten Coming-of-age-Roman, in den Literaturkanon Amerikas schrieb und später zur Legende wurde, weil er sich aus der Öffentlichkeit zurückzog und als Autor verstummte. Die Parallelen sind kein Zufall, dennoch ist A.N. Dyer keine fiktionalisierte Version J.D. Salingers, sein Roman „Ampersand“ kein Chiffre für den „Fänger im Roggen“: Salinger ist lediglich der Maßstab für A.N. Dyers Status als Autor.

Doch Andrew Dyers Erfolge als Schriftsteller liegen lange zurück – inzwischen ist er nicht nur alt und gebrechlich, sondern hat auch längst seine Stimme verloren: Seit seiner letzten Veröffentlichung sind Jahrzehnte vergangen. Selbst die Grabrede für seinen besten Freund, Charlie Topping, traut sich Andrew nicht mehr zu und lädt sich stattdessen einen seelenlosen Standardtext aus dem Netz. Das Begräbnis seines Kindheitsfreundes veranlasst ihn jedoch dazu, seine entfremdeten Kinder für ein womöglich letztes gemeinsames Familientreffen nach New York einzubestellen. Andrew Dyer will aber nicht nur seine Angelegenheiten regeln, sondern vor allem ein lange gehütetes Geheimnis lüften.

Die Anlage von David Gilberts Roman erinnert zunächst stark an Jonathan Franzens „Die Korrekturen“: Im Vordergrund stehen die gescheiterten Biografien der Kinder, die zu einer letzten Familienzusammenkunft gedrängt werden, während eine übergeordnete Handlung – hier: die New Yorker Literaturszene und der lange Schatten des Jahrhundertromans „Ampersand“ – die Erzählstränge beisammenhält. Wie so häufig ist der Nachwuchs im Schatten eines großen Mannes verkümmert. Andrew Dyer war kein besonders guter Vater, entsprechend schlecht ist das Verhältnis zu seinen erwachsenen Söhnen Richard und Jamie, die bislang nur wenig im Leben erreicht haben. Ex-Junkie Richard, inzwischen Familienvater und Drogenberater, hofft auf den großen Durchbruch als Drehbuchautor, wird aber nur deshalb von einem Hollywood-Star hofiert, weil dieser auf die Filmrechte von „Ampersand“ schielt. Jamie reist dagegen mit seiner Kamera als Elendstourist durch die Welt und dokumentiert in Kurzfilmen das reale Grauen, ohne etwas dabei zu empfinden. Ihr Stiefbruder Andy – zumindest offiziell das Ergebnis eines Seitensprungs, der die Ehe der Dyers zerstörte – ist den beiden fremd. Der erst siebzehnjährige Andy lebt alleine bei seinem immer anhänglicheren Vater und will eigentlich nur eines: endlich seine Jungfräulichkeit verlieren.

So weit, so Franzen – wäre da nicht noch Philip Topping, Sohn des verstorbenen Charly und Erzähler des Romans. Philip ist nicht bloß ein großer Bewunderer A.N. Dyers, sondern sehnte sich schon immer danach, Teil von dessen Familie zu sein. In Sachen Scheitern steht Philip seinen Wunschbrüdern in nichts nach: Er ist als Lehrer suspendiert, hat nach einer Affäre seine Familie verloren und wird vermutlich nie über den Status eines Möchtegern-Schriftstellers hinauskommen. Viel stärker nagt an ihm jedoch die Ablehnung, die er bereits als Kind durch Richard und Jamie erfahren hat; sie haben Philip nie als ihresgleichen akzeptiert, sondern bloßgestellt und gehänselt, wann immer sich ihnen die Gelegenheit bot. Dass ausgerechnet ihr Opfer Philip, seit Kindheitstagen gequält von unerwiderter Zuneigung, über ihr Leben schreibt, macht ihn zu einem höchst unzuverlässigen Erzähler, dem man als Leser (und als Dyer!) nicht trauen sollte. Philip bleibt zwar immer in der Nähe der Figuren – teils, weil er nach dem Rauswurf seiner Ehefrau und dem Tod seines Vaters einige Tage bei Andrew wohnen darf, teils, weil er den Dyers wie ein Stalker nachspürt -, ist aber nur an den wenigsten Szenen des Romans unmittelbar beteiligt. Die Frage, ob Philips Ausführungen wahr, bloß ein wenig ausgeschmückt oder schlichtweg erfunden sind, muss jeder Leser für sich selbst beantworten. Das gilt ganz besonders für das aberwitzige Geheimnis, das Andrew Dyer seinen beiden Söhnen anvertraut.

Der Clou des Romans – sein unzuverlässiger Erzähler – unterscheidet ihn von den vergleichbaren Werken Franzens und seiner Epigonen; es bleibt nicht nur unklar, inwieweit das Erzählte glaubwürdig ist, sondern auch, ob wir es nicht bloß mit einem Roman im Roman, einer fiktionalen Abrechnung des Autors Topping mit A.N. Dyer und seinem „Ampersand“ zu tun haben. Das Besondere von „Was aus uns wird“ ist jedoch zugleich sein größtes Manko: Während etwa Jonathan Franzen Figuren schafft, die glaubwürdig und echt wirken, müssen wir diejenigen in Gilberts Roman ständig in Frage stellen, sie immer wieder aufs Neue bewerten. Empathie ist so nur schwer möglich. Dennoch ist Gilbert mit „Was aus uns wird“ – der englische Titel „& sons“ ist übrigens weitaus passender – ein sehr unterhaltsamer, doppelbödiger Roman gelungen, der vor allem dank seiner offenen Fragen an Vielschichtigkeit gewinnt.

Cover des Buches Asche (ISBN: 9783945426081)

Bewertung zu "Asche" von Sven Heuchert

Asche
FrankRudkoffskyvor 9 Jahren
Kurzmeinung: In karger, lakonischer Prosa schreibt Heuchert von Männern, die die nicht aus ihrer Haut, ihrem Viertel, ihrem Leben können.
Keine Erlösung, nirgends.

In den positiven Rezensionen diverser Literaturblogs - unter anderem Buchrevier und Literaturen - wurden mir typische Männergeschichten vom Rand der Gesellschaft versprochen. Geschichten von Ex-Knackis, Säufern, Malochern. Von Männern mit Kacheltischen im Wohnzimmer und unbezahlten Deckeln in der Stammkneipe. Vergleiche mit Bukowski oder Irvine Welsh liegen da nahe, greifen aber zu kurz: Während ich nach der ersten Geschichte noch befürchtete, alles in „Asche“ sei auf krass gebürstet und ziele lediglich auf ermüdende Schockmomente ab, wurde ich schnell eines Besseren belehrt. Sven Heucherts Erzählungen erinnern an Tom Waits-Songs. Trotz ihrer Härte, ihrer Schroffheit sind es im Kern sentimentale Geschichten. In den lauten, polternden Stories schwingt stets Melancholie mit, die leiseren sind dagegen immer noch so rau und kantig, dass man sich als Leser an ihnen reibt.

In karger, lakonischer Prosa schreibt Heuchert von Männern, die ihre besten Tage lange hinter sich haben – und selbst die waren miserabel. Männern, die nicht aus ihrer Haut, ihrem Viertel, ihrem Leben können. Seine oft stillen Verliererballaden kommen meist ohne Effekthascherei, Säuferromantik oder gar Pointe aus; vielmehr sind es ganz alltägliche Geschichten – Ausschnitte aus dem Leben seiner Protagonisten, die von Hoffnungslosigkeit und Ernüchterung zeugen. Die Figur aus der Erzählung „Sonnenscheinkind“ bringt (ausgerechnet in einer Passage über das Fingern einer Frau) hervorragend auf den Punkt, wie enttäuscht diese Männer von einem Leben sind, das so viel verspricht, wenn man jung ist – und später dann so wenig davon hält. „Damals war das noch ein Geheimnis. Man steckte seinen Finger da rein und hoffte, dass irgendetwas passieren würde. Später steckte man dann seinen Schwanz rein und hoffte auf so etwas wie Erlösung.“ Für die desillusionierten Menschen in „Asche“ ist keine Erlösung in Sicht, nirgends.

Manche von ihnen versuchen auszubrechen. So wie Ingo, der von der Freiheit schwärmt, in seinem heruntergekommenen Auto zu leben – dessen Phantasie aber gerade einmal bis zum nächsten Kaff reicht. Oder dem Erzähler der letzten Geschichte, der Hähnchenwagen putzt, um sich mit dem gesparten Geld nach Spanien abzusetzen. Man ahnt, dass aus seinen Plänen nichts wird, ahnt, dass er an sich und seinem Umfeld scheitern wird wie so viele andere in diesem Band.

Dennoch sind Sven Heucherts Stories nicht bloß eine verbitterte Abrechnung mit dem Leben. Es gibt in ihnen durchaus seltene, kurze Momente von Nähe und echtem Verständnis, wenn auch zumeist bloß in Andeutungen. Genau wie diese bleibt in „Asche“ vieles offen und unausgesprochen, wird vieles einfach in den Raum geworfen. Gerade weil Heuchert seine Figuren nicht auserklärt, wirken sie umso echter. Man spürt, dass sie eine Geschichte haben, ohne sie zwingend kennen zu müssen. Es ließe sich kritisieren, dass die Stories trotz der wechselnden Protagonisten oft ähnlich klingen; andererseits stammen alle Figuren aus demselben Milieu. Diese Männer sind keine Freunde großer Worte – ihnen reicht ein wissender Blick, eine vertraute Geste, ein Zunicken am Tresen, um zu erkennen, dass sie alle im selben Boot sitzen. „Asche“ hat diesen Sound hervorragend eingefangen.

Mit seinem Erzählband hat Sven Heuchert einen gelungenen Erstling vorgelegt, dem eine große Resonanz zu wünschen ist. Denn: Nur weil ein Autor über Underdogs schreibt, muss er selbst noch lange keiner bleiben!

Cover des Buches Der größere Teil der Welt (ISBN: 9783895612244)

Bewertung zu "Der größere Teil der Welt" von Jennifer Egan

Der größere Teil der Welt
FrankRudkoffskyvor 9 Jahren

Über mich

Ich bin 1980 in Nordenham geboren und lebe in Stuttgart als Autor, Journalist, Blogger und Mitherausgeber der Literaturzeitschrift ]trash[pool. 2015 erschien beim Verlag duotincta mein Debütroman "Dezemberfieber", im selben Jahr war ich auch Mitherausgeber der Anthologie "Willkommen! Blogger schreiben für Flüchtlinge" bei Mikrotext. Im September 2019 erscheint mein Roman "Fake" bei Voland & Quist, der aktuell für die Hotlist nominiert ist.

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