Der Erstling von Tessa Duncan ist fesselnd und zeigt einen ganz eigenen, persönlichen Stil. Überraschenderweise ist die gesamte erste Hälfte des Buchs eigentlich kein Krimi, sondern im Grunde eine Erzählung aus dem Leben der Psychotherapeutin Lily Brown und zweier ihrer Klientinnen. Dennoch ist dieser erste Teil sehr spannend geschrieben, unterhaltsam und inhaltlich hochinteressant. Die Probleme und Schicksale der Klientinnen sind sehr ausgeprägt, aber keineswegs exotisch. Da man u. U. ähnliche Fälle kennt oder zumindest davon weiß, verfolgt man die Schilderung, die Therapieansätze und die weitere Entwicklung natürlicherweise mit hohem Interesse. Selbstverständlich hat auch Lily Brown selbst eine Vergangenheit und ihre eigenen emotionalen Konflikte. Fazit zu Teil 1: Im Gegensatz zu vielen anderen Krimis, die ihre Spannung in erster Linie aus dem Kriminalfall und dem Rätselraten um dessen Aufklärung beziehen und deren Rahmenhandlung häufig sehr klischeehaft, konstruiert bzw. wenig glaubhaft wirkt, könnte die Erzählung um Lily Brown und ihre Praxis auch ohne Mord und Tätersuche ihre Leser(innen) finden und fesseln.
Aber mit dem unerwarteten Tod einer der beiden Klientinnen beginnt dann doch die Detektivarbeit. Lily Brown kann nicht glauben, dass es sich um einen Selbstmord handeln soll und will aufklären, was geschehen ist. Dabei hilft ihr, dass sie sowohl die Polizeiarbeit als auch den ein oder anderen Mitarbeiter dort kennt, da sie früher selbst als Psychologin und Profilerin bei der Polizei gearbeitet hat. Näheres will ich hier nicht ausplaudern – das möchte die Leserin/der Leser sicher gerne selbst herausfinden. Ja, ich bin mir sicher, sie/er will! Mir jedenfalls hat das Buch gegen Ende jede Menge Nachtschlaf geraubt.
Das Buch ist nicht vollständig linear erzählt, die Handlungsstränge sind verwoben, teilweise auch in Rückblenden, aber so gekonnt, dass es die Lebendigkeit erhöht, ohne die Leserschaft zu überfordern.
Die Autorin ist erfahren und hat (unter anderem Namen) schon viele Bücher veröffentlicht. Allen ihren Büchern merkt man an, dass sie klinische Psychologin ist und daher Emotionen und persönliche Entwicklungen ihrer Protagonist(inn)en sehr nachvollziehbar und realistisch schildern kann. Mit Lily Brown ist sie nun jedoch mitten in ihrem Element und kann ihr Fachwissen auch ganz konkret in vollem Umfange einbringen. Insofern ist dieser Roman nicht nur spannend und unterhaltsam, sondern auch außerordentlich informativ. Für mich war darüber hinaus sehr interessant zu sehen, wie es der Autorin gelingt, im Vergleich zu ihren anderen Büchern, die sie als Marita Spang bzw. Marie Lacrosse veröffentlicht hat, ihren Schreibstil radikal zu ändern und dem Genre anzupassen.
Ich hoffe, dass Lily Brown noch viele interessante Klient(inn)en haben und in diesem Zusammenhang gelegentlich ihrem Spürsinn folgen wird. Und außerdem möchte ich gerne wissen, ob Jocelyn wirklich schwanger ist…
Sehr lesenswert!