Bewertung zu "Flüchtlingswege 1945-2015" von Mareile Seeber-Tegethoff
Die Autorin lässt acht Menschen völlig verschiedenen Alters und Herkunft selbst zu Wort kommen. Etwa 30 Seiten, zwei Fotos und eine Landkarte stehen für jede Lebensgeschichte nebeneinander. Dabei werden nicht nur die persönlichen Erlebnisse eines jeden mit all‘ ihren Höhen und Tiefen lebendig, sondern auch historische sowie politische Zusammenhänge und der jeweilige Zeitgeist. Ich hatte beim Lesen das Gefühl, jede/r Einzelne säße direkt vor mir.
Wie erwartet erkannte ich - Jahrgang 1956 - in den Worten der 97-Jährigen so manche Fluchtgeschichte, mit der ich aufgewachsen bin, wieder. Überrascht war ich allerdings, dass die Körpersprache der 1957 aus der DDR geflüchteten Frau mich an meine Schwiegermutter erinnert. Obwohl Letztere zehn Jahre älter als die Erzählerin ist, ihre Lebensumstände völlig andere sind und waren, habe ich doch Parallelen erkannt. Kindheit und Jugend wurden von zwei totalitären Systemen geprägt. Durch die Flucht von Ost- nach West-Berlin im Jahr 1957, mit späterem Umzug nach Rheinland-Pfalz, wurde auch sie entwurzelt. Dieses Buch hat mir die Lebensgeschichte meiner Schwiegermutter (und meiner eigenen darin verwobenen) unter einem neuen Blickwinkel gezeigt.
Exemplarisch ausgewählte Schicksale lassen trotz ähnlicher Not als Ursache die Verschiedenartigkeit der Fluchtwege erkennen. So kommen z. B. die heutigen Bootsflüchtlinge unter ungleich schwereren Bedingungen in Deutschland an als die vietnamesischen Boat-People in den 70er/80ger Jahren. Obwohl jede/r etwas anderes braucht, um in der neuen Heimat Fuß zu fassen, wird doch an mehreren Beispielen klar, wie wichtig der Kontakt zur einheimischen Bevölkerung ist. Die erste Hürde zur Integration ist für die einen das Erlernen der Sprache und das Kennenlernen von Land und Leuten, für die anderen das Hören von Lebensgeschichten der Neuankömmlinge. Dazu kann dieses Buch einen wichtigen Beitrag leisten. Vielleicht bewirkt es auch bei anderen Lesern wie bei mir, einen Schritt auf Geflüchtete zuzugehen und sich einem Helferkreis anzuschließen.