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Glitteratur

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Cover des Buches Eine Frau bei 1000° (ISBN: 9783608501124)

Bewertung zu "Eine Frau bei 1000°" von Hallgrimur Helgason

Eine Frau bei 1000°
Glitteraturvor 12 Jahren
Rezension zu "Eine Frau bei 1000°" von Hallgrimur Helgason

„Am allermeisten vermisste ich aber mein allerliebstes Volk, diese Sammlung von Verrückten am äußersten Rand des Weltmeers. Ich sehnte mich nach der Grobheit, dem Fehlen von Förmlichkeiten im Umgang, dem energiegeladenen Draufgängertum der Isländer, nach all dieser Jugendlichkeit, die man in diesem unerzogenen Land lebt, das sich nicht besser zu benehmen weiß als seine Bewohner“.
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Ungehobelt, unkonventionell, unberechenbar
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Was Hallgrimur Helgason seine Protagonistin gegen Ende des Romans über ihr Land sagen lässt, trifft auch auf die Figur selbst zu: Noch mit 80 Jahren ist Herbjörg María Björnsson ungehobelt, unkonventionell und unberechenbar. Auch wenn sie sich selbst in einer ausgebauten Garage geparkt hat, ihre Einäscherung plant und dabei mit einer Handgranate aus dem II. Weltkrieg kuschelt, schafft sich die im besten Sinne verrückte Alte dennoch einen Zugang zur Welt: Zum einen surft sie durch die Weiten des Internets und belustigt sich dabei an hinterhältigen Rollenspielchen, indem sie etwa einem simbabwischen Klempner als isländische Miss World von 1988 Hoffnungen macht, oder ihre untreue Schwiegertochter als Bischof von Island zu Gottesdienstbesuchen ermahnt.
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Island und die Welt
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Zum anderen taucht die auf ihre Matratze gefesselte Herbjörg tief in ihre eigenen Erinnerungen ein, die gleichzeitig die Geschichte Islands in ihrem Bezug zur Welt widerspiegeln. Als Tochter einer Bäuerin von einer abgeschiedenen Insel und des Sohns des späteren 1. Präsidenten von Island durchlebt die Protagonistin die Wirren des 20. Jahrhunderts, in dem sie immer wieder die Enge der Insel verlässt – um doch stets wieder zurückzukehren.
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Einer kurzen Kindheit auf dem Bauernhof als uneheliches Kind der Mutter folgen die Aufnahme in die privilegierte Gesellschaftsschicht Islands, der Wegzug der Familie nach Deutschland, von wo aus der für Nationalsozialismus glühende Vater in den II. Weltkrieg zieht, die Trennung von den Eltern, die Flucht durch die kriegszertörten deutschen Städte, Kriegsvergewaltigungen, die Rückkehr nach Island, das sich von Dänemark löst und zum eigenen Staat wird, die Auswanderung nach Argentinien, die Heirat mit einem prügelndem isländischen Seemann, die Geburt von drei Kindern…
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Kein Mangel an Action
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In der Tat ist „Eine Frau bei 1000°“ ein „wilder Ritt durch die Geschichte des 20. Jahrhunderts“, wie es der Klappentext verspricht. Über einen Mangel an Action kann sich der Leser sicherlich nicht beschweren. Zusammengehalten wird dabei die Fülle der Ereignisse durch einen Kunstgriff: Der Text ist in kurze Kapitel gegliedert, mit Jahreszahlen überschrieben und ähnelt so der Form nach Blog-Einträgen, was die Geschichte zusammenhält – auch wenn Helgason teilweise einen geschichtlichen Rundumschlag forciert, der anhand des Lebens einer Person nicht unbedingt realistisch wirkt.
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Realismus ist jedoch nicht die Kategorie, die man an das Buch herantragen sollte. Schließlich scheint der bekannteste Schriftsteller des kleinen skandinavischen Landes mit seinem neuestem Roman mehr zu intendieren: So hat er eine Person erfunden, die Island selbst repräsentiert. Schließlich kann man allein den Titel „Eine Frau bei 1000°“ mit der Vulkaninsel identifizieren: So wie in Island immer wieder die Erdkruste unter Eruptionen aufbricht, drängen auch die Erinnerungen Herbjörgs an die Oberfläche.
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Island als historische Leerstelle
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Zudem deckt Helgason auf, wie das kleine Island in seiner Identität schwankt. So beschreibt der Autor seine Heimat einerseits als die abgeschiedene Insel „am Rande des Weltmeers“, deren eigentümliche Bewohner auf eine eigene – zumeist doch leidvolle – geschichtliche Tradition schlichtweg pfeifen. Andererseits charakterisiert er Island als eine historische Leerstelle, die nur durch die Geschichte Europas und der Welt gefüllt werden kann.
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Trotz dieser doch sehr anspruchsvollen Konstruktion liest sich das Buch kurzweilig und ist frei jeglichen Pathos’, dessen sich deutsche Schriftsteller bei historischen Stoffen oft nicht entziehen können. Es strotzt nur so von Humor, der, so sei als ein Kritikpunkt eingeworfen, manchmal auch etwas auf die Nerven gehen kann.

Cover des Buches Der menschliche Makel (ISBN: 9783446200586)

Bewertung zu "Der menschliche Makel" von Philip Roth

Der menschliche Makel
Glitteraturvor 12 Jahren
Kurzmeinung: Einfach eine wahnsinnig tolle Sprache! Das findet man halt selten. Jeder Satz ist perfekt.
Cover des Buches Schande (ISBN: 9783100108159)

Bewertung zu "Schande" von J.M. Coetzee

Schande
Glitteraturvor 12 Jahren
Kurzmeinung: Hat mich damals echt beeindruckt. Am besten auf Englisch lesen - ist gar nicht so schwer. Aber harter Tobak.
Cover des Buches Die Festung der Einsamkeit (Trojanische Pferde, Bd. 14) (ISBN: 9783608500684)

Bewertung zu "Die Festung der Einsamkeit (Trojanische Pferde, Bd. 14)" von Jonathan Lethem

Die Festung der Einsamkeit (Trojanische Pferde, Bd. 14)
Glitteraturvor 12 Jahren
Rezension zu "Die Festung der Einsamkeit" von Jonathan Lethem

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Abdrücke auf dem Asphalt
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"Dylan ging seine Seite der Dean Street mit gesenktem Kopf auf und ab und prägte sich die Schieferoberfläche ein. Ohne hoch zu schauen konnte er allein anhand des Musters, das sich zu seinen Füßen abzeichnete, sagen, wann er sich vor Henrys oder dem leerstehenden Haus befand: die langen schrägliegenden Platten oder die eine hervorstechende mondartige Form oder die mit Beton ausgebesserte Stelle oder das eingebrochene Schlagloch, das sich immer mit Regenwasser füllte, wenn die Sommergewitter kamen und die schwülen Nachmittage von einem Augenblick zum anderen in dunkle, elektrisierte Stücke schlugen."
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Die Abdrücke sind erfassbar, die Schatten und die Aushöhlungen. Die wirklichen Formen, die Straßen, die Menschen und ihre Gefühle entgleiten Dylan in Gowanus, dem schäbigen Teil Brooklyns, immer wieder. Die Zeit scheint dehnbar, aufgespannt zwischen den bröckelnden Fassaden über dem aufgeweichten Asphalt eines flirrenden Sommers zu liegen. Die Dean Street der 70er und 80er ist ein Mikrokosmos. Alte Puertoricaner sitzen an der Ecke auf Bierkästen, schwarze Jungen spielen Wandball, an beiden Enden der Straße spucken die Sozialbauten zuweilen einen ihrer Bewohner aus, der kleinen Jungen das Fürchten lehrt. "Manhattan ist das Sahnehäubchen, dafür ist Brooklyn ein aufgeklapptes Sandwich, dessen entblößte Stellen, von Tauben und Möwen ausgekundschaftet werden." In diese Szenerie versetzt Jonathan Lethem in "Festung der Einsamkeit" seinen sehr menschlichen Helden Dylan Ebdus.
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Bewegungen auf Celluloid
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Zunächst ist da noch Rachel, die Kette rauchende, fröhliche und unerschrockene Hippie-Mutter, die den einzigen Sohn mit ihren Emotionen "wie eine Weintraube zerquetscht." Sie ist der Grund, weshalb der einzige "Whiteboy" des Viertels hier ist: "Rachel hatte ein Programm, einen Plan. Sie war in den Straßen von Brooklyn aufgewachsen, und das würde Dylan auch." Bald darauf ist sie weg, hinterlässt einen Abdruck, ein Loch, das sich nur über Jahrzehnte füllen wird. Dafür zieht Mingus ins Nebenhaus: er ist der Sohn von Barrett Rude Jr., einem früher bekannten Soulsänger, und ebenfalls mutterlos. "Mutter ist verschwunden, aber der Junge hält alles zusammen", summt der Vater einmal.
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Die Festungen der Einsamkeit. Barrett Rude Jr. veranstaltet im Obergeschoß Kokspartys, die Droge reißt ihn aus dem Fluss der Zeit, der gegen ihn arbeitet. Dylans Vater Abraham Ebdus hat sich in den Dachboden zurückgezogen und malt am längsten animierten Avantgardefilm der Welt. In Zeitlupe bewegen sich die Dinge, auf Celluloid sind sie manipulierbar, dem schmerzhaften Zugriff der Realität entzogen. Auf diese prallen Dylan und Mingus immer wieder. Mingus ist schwarz. Dylan ist weiß. Mingus ist anerkannt im Viertel, Dylans Heimweg von der Schule dagegen ein täglicher Spießrutenlauf: "Warum glotzt du so blöd, Mann? Yo, Mann, bist du ein rassistischer Motherfucker?" Schwarz und Weiß. Manchmal ergibt das braun. Oder grau. Die Grenzen sind abgesteckt und doch verschwommen.
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Jonathan Lethem hat einen Roman geschrieben, der im sonnenaufgeweichten Asphalt von Brooklyn wurzelt, der aber viel Allgemeinmenschliches erzählt. Er handelt von der Festung der Einsamkeit, die das eigene Selbst ist. Von unser aller Urvater Abraham, der sich als Person entzieht. Von der Suche nach Rollen und dem Ablegen von zurechtgezimmerten Identitäten. Von der Angst vor Enttäuschungen, dem übergroßen Gefühl der Erwartungen und der Verantwortung, die auf Kinderschultern lastet. Von Antihelden, die Helden und Supermännern, die Verlierer sind. Von dem Versuch scharfe Konturen zu finden, beim Sprühen auf Wände, beim Zeichnen auf Celluloid, die doch immer wieder verschwimmen müssen.
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Die wirklichen Darsteller des Lebens
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Soul, HipHop und Punk, Graffiti und Breakdance – Lethem verwebt die subkulturellen Strömungen der 70er und 80er Jahre in die Handlung. Vielleicht fünfzig verschiedene Figuren ziehen durchs Buch. Beim Lesen hat man das Gefühl, sie auf der gegenüberliegenden Straßenseite gegrüßt zu haben. Man streift sie, ist ihnen nah, verabscheut sie, vergisst sie wieder. Und vor allem: man muss auch immer wieder einfach lachen.
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In der zweiten Hälfte dagegen schildert Lethem die Entwicklung des erwachsenen Protagonisten durch dessen eigene Perspektive. Wohl mit der Absicht, seinen inneren Wandlungsprozess deutlicher herauszuarbeiten. Dabei durchbricht er die Assoziationsfelder, die er anfangs in den atmosphärisch dichten Beschreibungen der Umgebung Brooklyns und ihrer skurrilen Bewohner entfaltet. Erst gegen Ende entwickelt sich die Spannung wieder, in der die Hauptfigur zwischen Abdrücken und Formen, zwischen Abbildern und wirklichen Personen schwebt. Und dann stellt Dylan fest: "Sehr lange hatte ich gedacht, Abrahams Vermächtnis wäre auch meines: sich auf den Dachboden zurückziehen, ohne singen oder fliegen zu können oder zu wollen, nur um zu ordnen und zu sammeln, um in meiner Festung der Einsamkeit Statuen aus meinen verlorenen Freunden zu machen, den wirklichen Darstellern des Lebens."
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Er muss erst in das Gesicht des Freundes, wie in einen Spiegel schauen, um zu sehen, dass dieser ein anderer ist als er dachte, so wie er selbst. Die Wahrheit erschließt sich nicht im Schwarz-Weiß. Es gibt keine endgültige Wahrheit bei Lethem, aber es gibt das Leben, und ja, die Freundschaft: "Ein Zwischenraum öffnete und schloss sich mit einem einzigen Blick, wenn man blinzelte, verpasste man ihn."

Cover des Buches Strategie (ISBN: 9783100800480)

Bewertung zu "Strategie" von Adam Thirlwell

Strategie
Glitteraturvor 12 Jahren
Rezension zu "Strategie" von Adam Thirlwell

Voll im Saft
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Wer zum Erröten neigt, sollte „Strategie“ nicht aufschlagen. Adam Thirwells' Erstling fängt so unverblümt an, wie es die 300 Seiten hindurch weitergeht, nämlich mit einem nicht ganz gewöhnlichen Sexualakt zwischen der Hauptfigur Nana und deren Freund. Das Buch handelt in erster Linie von Sex und zwar in allen seinen Variationen und Details, wenn auch nicht immer mit dem gewünschten Erfolg: „Noch vor dem Analverkehr haben sie auch die Missionarsstellung, die Ejakulation auf Nanas Gesicht, Oralverkehr, Rollenspiele, Lesbianismus, Undinismus, den Dreier und Fisten ausprobiert. Nicht alles davon mit Erfolg. Eigentlich kaum etwas davon mit Erfolg.“
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Sex aus moralischen Erwägungen
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Die eigentliche Geschichte des Romans ist schnell erzählt. Nana und Moshe sind zwei typische junge Leute in London. Sie verlieben sich ineinander, lieben sich in allen Stellungen, und als dies für sie – und den Leser - zu langweilig wird, kommt Anjali, eine Freundin Moshes ins Spiel, woraus sich die klassische Konstellation der ménage à trois ergibt. Dadurch nehmen die Komplikationen überhand und so muss sich zum Schluss der Vater Nanas, „der gute Engel der Geschichte“ einschalten, um seiner Tochter eine moralische Lehre mit auf den Weg zu geben.
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Moral und saftige Sexszenen, passt das zusammen? Der Erzähler, der den Textfluss ständig unterbricht und die Handlung fast zwanghaft kommentiert, sieht dies als die eigentliche Botschaft des Textes: „In diesem Buch geht es nicht um Sex. Nein. Es geht um Integrität, Anstand und Güte. […] Wenn meine Figuren in diesem Buch Sex haben, dann wie alles, was sie tun, aus moralischen Erwägungen.“
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Sex sells
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Sollen wir das dem gerade mal 27-jährigen Autor glauben? Tatsächlich beschreibt er als treibende Kraft hinter dem triebhaften Treiben die tiefen Gefühle der Figuren zueinander. Und er schafft es die peinlichsten Emotionen und die komischsten Gedankenabschweifungen bloßzulegen, die uns alle immer wieder gerade während der schönsten Nebensache der Welt befallen. Aber es ist nun mal so: sex sells. Das erweist sich im Fall von „Strategie“ wieder einmal als allzu richtig. Der Roman wurde in 18 Sprachen übersetzt. Adam Thirlwell, der fortan als „Wunderkind der britischen Literatur“ (Times Magazine) gehandelt wurde, gewann damit den Betty-Trask-Award und wurde auf die „Granta's List of Best young British Novelists“ gesetzt.
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Man merkt dem sehr bewusst gestalteten Sexpassagen an, dass der Autor genau weiß, was er tut. Seine Figuren lenkt er gekonnt wie ein Marionettenspieler an Fäden, die er jedoch immer wieder sichtbar macht, indem er die Handlung und die Gefühle der Protagonisten kommentiert und so jegliche aufkommende Illusion zerstört. Aber so bieten denn auch Nana, Moshe, Anjali und Papa wenige Identifikationsmöglichkeiten für den Leser und erscheinen wie ausgeschnittene Pappfiguren auf einem Spielbrett. Das ist sicherlich gewollt, aber es wirkt stellenweise etwas angestrengt.
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Der Sex-Ermüdungsfaktor
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Der Inhalt und der Erfolg des Buches erinnern an Catherine Millets Buch „Das sexuelle Leben der Catherine M.“, das, es ist noch nicht allzu lange her, die Bestsellerlisten stürmte und mit ebenso tabuloser Schärfe alle möglichen Konstellationen eines Sexuallebens durchforstete. Und hier wie dort tritt nach etwa hundert Seiten der Sex-Ermüdungsfaktor ein. Das Eindringen in die verschiedensten Körperöffnungen wird einfach langweilig. Im Gegensatz zu seiner französischen Kollegin berechnet dies Adam Thirlwell jedoch schlauerweise. Er hat seinen Leser voll im Griff und dessen Reaktion genau berechnet. Es fehlt ihm dankenswerterweise nicht an Humor, wenn er an der Sex-Schmerzgrenze angelangt ist und feststellt: „Ich fürchte, wir müssen erneut einen Blick auf Nanas und Moshes Sexleben werfen. Ich weiß, was ihr jetzt denkt. Ihr denkt, dass ihr von deren Sexleben wirklich genug gekriegt habt. Ihr wollt jetzt etwas völlig anderes hören. Euch ist nach der Beschreibung einer Bergbaustadt auf Sachalin oder in Sibirien.“
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Und das ist dann doch der große Unterschied zu Catherine Millet oder anderen Autorem, die mit Sex Geschichten möglichst gut verkaufen wollen: dieser beweist Humor. „Strategie“ ist keine Pornographie. Der Autor steht zu den moralischen Botschaften, die er geradeheraus dem verdutzten Leser ins Gesicht reibt. Ob das Buch deswegen „universell“ ist, wie Adam Thirlwell am Ende den Anspruch erhebt, sei dahingestellt. Es ist unterhaltsam. Und das ist schon einiges.

Cover des Buches Der Tag, an dem meine Tochter verrückt wurde (ISBN: 9783455500370)

Bewertung zu "Der Tag, an dem meine Tochter verrückt wurde" von Michael Greenberg

Der Tag, an dem meine Tochter verrückt wurde
Glitteraturvor 12 Jahren
Rezension zu "Der Tag, an dem meine Tochter verrückt wurde" von Michael Greenberg

Wahnsinn, allzu menschlich
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Ist der englische Originaltitel "Hurry Down Sunshine" zwar ungleich schöner, so verrät doch die prosaische Übersetzung ins Deutsche bereits auf dem Cover, um was es in vorliegendem Buch geht: den Wahnsinn in der eigenen Familie. Diese Konstellation mag den großen Erfolg von Michael Greenbergs Buch begründen, bringt sie doch die Thematik der psychischen Erkrankung mit der autobiographischen Erzählform zusammen. Aus der abendländischen Kultur ist die Beschäftigung mit der Spaltung der Seele nicht wegzudenken und hat vom "Don Quijote"über Poes Erzählungen bis zu Romanen des 20. Jahrhunderts, wie Musils "Mann ohne Eigenschaften", zahlreiche Werke der Weltliteratur beeinflusst. Dennoch polarisiert das Phänomen des wahnhaften Realitätsverlusts bis heute unsere Gesellschaft. Wer im wahren Leben mit dem Wort "verrückt" belegt wird, wird meist aus der Mitte der Gemeinschaft gerückt.
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All die Aspekte des Wahnsinns, von seiner ästhetischen bis hin zu seiner sozialen Dimension, beschreibt der New Yorker Journalist und Schriftsteller Michael Greenberg und verdichtet sie in einem engen Zeitrahmen. Greenbergs Bericht zeichnet den Sommer nach, in dem seine Tochter Sally mit 15 Jahren zum ersten Mal einen psychotischen Schub durchlebt. Gebannt beobachtet der Vater wie seiner halbwüchsigen Tochter plötzlich Gedanken "zufliegen, wie Vögel zum Fenster hereinfliegen." Der durch die Psychose ausgelöste Gedankenstrom äußert sich zunächst in einer bizarren Sprache, die Sally in Gedichten einfängt: "Und wenn alles still sein müsste, versengt dein Feuer einen Fluss aus Schlaf. Weshalb, Liebster, soll der große Höllenatem küssen, was du siehst?" Die Kehrseite dieser Hinwendung zu einer poetischeren Welt, deren Bann auch der Leser spürt, ist der Verlust der Realität. Sally sieht sich selbst als Prophetin einer geheimen Botschaft und deutet Zufälle als Zeichen.
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Tabletten und Tabus
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Die graue Wirklichkeit in der Psychiatrie und die Wirkungen der Tabletten lösen schließlich ihre Euphorie ab. Mit der Diagnose der Manischen Depression rücken für die Angehörigen die Fragen nach der eigenen Mitschuld in den Vordergrund: "Augenscheinlich sind wir in beiden Anklagepunkten schuldig: Erbanlagen und Erziehung", notiert Greenberg. Die Identifikation mit der eigenen Tochter führt so weit, dass der Vater deren Psychopharmaka in einem Selbstexperiment an sich ausprobiert. Der emotionalen Nähe steht die sprachliche Distanz gegenüber, mit der die Familiengehörigen die Krankheit als gesellschaftliches Tabu wahrnehmen, das es wie einen Fluch zu bannen gilt: "Wie müssen dafür sorgen, dass die Sache nicht nach außen dringt."
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Geht Greenberg in der Beschreibung der Spannung zwischen Irritation und Faszination sowie Individuum und Gesellschaft noch am ehesten in die Tiefe, bleibt die Aufarbeitung anderer Aspekte oberflächlich. So gelingt es dem Autor nicht, die Entwicklung der psychischen Krankheit seines Bruders und die Geschichte der eigenen Familie in eine überzeugende Relation zum aktuellen Geschehen zu setzen. Hier bleibt Greenberg meist auf Dialogebene stehen. Auch die Zitate aus autobiographischen Schilderungen manisch-depressiver Schriftsteller erweitern die Perspektive nicht. Stattdessen machen sie die zeitliche Distanz des später verfassten Berichtes spürbar. Die Unmittelbarkeit des im Präsens geschilderten Geschehens, das den Beginn des Berichts so eindrücklich wirken lässt, wird durch diese Einschübe abgeschwächt.
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Wirklich ärgerlich ist jedoch, dass im Verlauf der Erzählung für die Handlung unwichtige Reflektionen um die eigene Person des Autors zunehmen. Die erotischen Phantasien des Vaters, die um die Psychiaterin der Tochter kreisen, mögen menschlich sein, wirken jedoch fehl am Platz. Schön ist dagegen, wie beiläufig ein Soziogramm der Nachbarschaft entsteht, das sich aus wenigen Beobachtungen speist und trotzdem stellenweise poetisch wirkt. Zusammen mit den auratischen Sätzen, mit denen Greenberg seine entrückte Tochter zitiert, wirkt hier der autobiographische Bericht im besten Sinne literarisch.
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Betroffenheit, wohl dosiert
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Dem Autor gelingt es in seinem Buch anfänglich, das Erleben einer Psychose in der eigenen Familie einem breiten Publikum nahe zu bringen, gerade weil sein Bericht nicht vollkommen verstört. Das ist dem Blickwinkel des Vaters geschuldet, dessen Beobachtungen zwischen absoluter Nähe und Distanz oszillieren. Dazu trägt ebenso die verständliche Schreibweise bei, die stellenweise fast eingängig wirkt. Auch wenn man insgesamt eine größere Tiefe in der Darstellung vermisst, ist es doch angenehm, dass hier die Kategorie der "wahren Geschichte" nicht wie sonst oft einen kitschigen Betroffenheitsstil nach sich zieht. Es ist Schade, dass die zuerst geweckte Empathie des Lesers für das Leiden und die Faszination an einer so anderen Sichtweise der Welt, nicht weiter vertieft, sondern durch erzählerische Exkurse abgelenkt wird.

Cover des Buches Anna Karenina (ISBN: 9783423139953)

Bewertung zu "Anna Karenina" von Leo Tolstoi

Anna Karenina
Glitteraturvor 12 Jahren
Cover des Buches Eine russische Schönheit. Erzählungen (ISBN: 9783499220821)

Bewertung zu "Eine russische Schönheit. Erzählungen" von Vladimir Nabokov

Eine russische Schönheit. Erzählungen
Glitteraturvor 12 Jahren
Cover des Buches Ada oder Das Verlangen (ISBN: 9783498093006)

Bewertung zu "Ada oder Das Verlangen" von Vladimir Nabokov

Ada oder Das Verlangen
Glitteraturvor 12 Jahren
Cover des Buches Pnin (ISBN: 9783518222898)

Bewertung zu "Pnin" von Vladimir Nabokov

Pnin
Glitteraturvor 12 Jahren

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