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Igno

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Cover des Buches Stadt der großen Träume (ISBN: 9783596299294)

Bewertung zu "Stadt der großen Träume" von Fredrik Backman

Stadt der großen Träume
Ignovor 3 Jahren
Kurzmeinung: Schmerzhaft schön. Über die Grenze zwischen Gut und Böse, die manchmal sehr fließend sein kann. Kein Buch für vorbelastete Nerven.
Schmerzhaft schönes Soziogramm einer Kleinstadt

Ich starte ungewohnt. Denn die Inhaltsangabe wird zunächst der Klappentext im Wortlaut. Mein Problem ist, der ist inhaltlich extrem knapp und das Buch funktioniert wahrscheinlich unter anderem deshalb so gut. Allerdings kann ich es auf der Basis nicht rezensieren, ich werde also später gewaltig spoilern. Bitte, wenn ihr das Buch lesen wollt, überspringt die Spoiler. Stadt der großen Träume lebt erheblich davon, dass ihr mit einer gewissen Unbedarftheit dran geht.

In Björnstadt halten die Menschen zusammen. Ihre Devise ist: hart arbeiten, nicht beschweren und dem Rest der Welt zeigen, woher wir kommen. Das Leben hier war noch nie leicht, aber nun steht die Zukunft auf dem Spiel. Alle Hoffnungen liegen auf den Schultern ein paar junger Björnstädter. Noch ahnt keiner, dass sich ihre Gemeinschaft über Nacht für immer verändern wird.

So viel zum Klappentext. Man ahnt es schon, das kann alles sein. Und tatsächlich hatte ich, aus der Erfahrung mit Backmans früheren Romanen, auch etwas ganz anderes erwartet. Trotzdem, ich bin nicht enttäuscht, denn sein besonderer Stil, der mich in der Vergangenheit so sehr in seine Geschichten hineingezogen hat, der fehlt auch in Stadt der großen Träume nicht. Backman gibt sich sehr viel Mühe, ein literarisches Soziogramm von Björnstadt zu zeichnen – tatsächlich besteht fast die komplette erste Hälfte des Buches aus nichts anderem. Zusammen mit seiner Art, Figuren und Szenen zu beschreiben, zieht er seine Lesenden damit tief hinein in dieses Björnstadt. Backman baut über einen lange Zeitraum eine Idylle des Alltäglichen auf, aus Gegenwärtigem und seinen Bezügen zur Vergangenheit, ohne dabei zu verklären. Mit Ecken, Kanten und allerlei eher unschönen Kerben. Und erinnert doch beständig daran, dass er diese Idylle einreißen wird. Besonders dieser Teil der Geschichte lebt von der Angst, dass es sie zu schlimm treffen könnte, dass sie daran zerbricht.

Das macht er wirklich gut. Er hat zahlreiche Figuren, fast alle haben ihre guten und ziemlich schlechten Seiten, und er zieht uns so beiläufig und tief in deren Leben, dass es schwer fällt, einzelne Figuren als böse zu akzeptieren, wenn sie tatsächlich fraglos böse handeln. Stadt der großen Träume demonstriert, dass Menschen fast immer zwei Seiten haben und wie der Mechanismus vom netten Täter von nebenan funktioniert – in einem ab einem gewissen Punkt ziemlich schmerzhaften Selbstexperiment.

Das alles findet letztendlich im zentralen Kontext des lokalen Eishockeyclubs statt. Björnstadt hat nicht viel, mit dem sich seine Bewohner:innen identifizieren können, so konzentriert sich aller Stolz auf den Club und aktuell besonders seine Jugendmannschaft, denn die ist im Begriff, gegen alle Wahrscheinlichkeiten nach vielen Jahren der Mittelmäßigkeit wieder einmal die beste Schwedens zu werden. Für Björnstadt bedeutet das nicht alleine sportlichen Erfolg, sondern es hängen ganz konkrete wirtschaftliche Belange an diesem Erfolg. Ganz Björnstadt fiebert mit dem Team und wer es angreift, greift jede:n Björnstädter:in persönlich an.

Ein weiteres großes Thema ist die verheerende Schädlichkeit von Korpsgeist und auch hier belässt es Backman nicht bei einer einseitig plakativen Erfahrung, die für uns viel einfacher wäre. Stattdessen findet der Korpsgeist insbesondere im Umfeld des Eishockeyteams statt, betroffen sind also zahlreiche Figuren, die man auf die eine oder andere Weise schon auch sympathisch findet. Stadt der großen Träume fordert uns immer wieder auf, uns klar zu positionieren, lässt uns gleichzeitig aber fast keine Chance dazu. Das ist schmerzhaft, sowohl wenn man es nicht schafft, als auch wenn man es dann schafft.

Wir müssen über diskriminierende Sprache und Backmans Umgang mit ihr reden. Der ist nämlich schwierig, weil sowohl Sprache als auch Handlungen durch die ambivalente Darstellung der Figuren ambivalent konnotiert werden. Will beispielsweise heißen, im Kontext des Eishockeyclubs werden zahlreiche Ismen bedient. In der Kabine, auf der Tribüne, in der Schule im Teamverband gegen Schwächere. Backman stellt das als Teil der Teamkultur dar und damit bildet er sicher nicht seltene Realität in diesem Umfeld ab. Wo eine ungesunde Mischung aus Korpsgeist und Überlegenheitsgefühl existieren, ist die Unterdrückung als schwächer definierter nicht fern. Gleichzeitig sind all diese Figuren aber auch positiv dargestellt. Am deutlichsten tritt diese Ambivalenz vielleicht bei Bobo zutage, weil er aus schwierigem Umfeld kommt, gegenüber seinen Teamkameraden unglaublich aufopferungsvoll und einfühlsam ist, insbesondere gegenüber jüngeren Außenstehenden aber übel mobbt und gewalttätig ist. Das Problem ist, Stadt der großen Träume braucht sowohl diese Sprache als auch diesen ambivalenten Umgang mit ihr. Anders funktioniert das Experiment nicht.

Womit wir bei Content-Warnungen wären. Ich teile das hier wieder in einen spoilerfreien und einen spoilernden Teil, weil auch die Content Warnungen mehr über den Inhalt verraten, als man eventuell wissen sollte. Allerdings kann Stadt der großen Träume definitiv in vielerlei Hinsicht schwer triggern, wenn man vorbelastet ist. Der Roman ist alles andere als leichte Kost. Falls ihr Themen habt, bei denen ihr vorsichtig sein müsst, guckt in den Spoiler. Falls nicht, geht das Buch ohne ihn an. Ich kann’s nicht oft genug betonen, eine gewisse Unbedarftheit braucht das Buch.

Ich erhebe gleich mal keinen Anspruch auf Vollständigkeit der Liste. Bei der Masse ist mir sicherlich was durchgerutscht. Sprachlich ist ein breites Spektrum von Ismen dabei – Sexismen, Rassismen, Ableismen, dazu Schwulenfeindlichkeit. Dazu kommen Mobbing, körperliche Gewalt, sexualisierte Gewalt bis zur Vergewaltigung, Victim Blaming (auch institutionell), Cybermobbing, psychische und physische Gewalt im Elternhaus und suizidale Gedanken. Fast alles davon wird erst spät im Buch recht eindeutig verurteilt, weil fast alle Handelnden keine klar als böse dargestellten Figuren sind. Backman geht dazu häufig in der Szene in den Kopf der Handelnden, was den Eindruck einer Rechtfertigung erwecken kann. Backman positioniert sich, oft nicht unmittelbar und vor allem erst spät im Buch. Das gehört dazu. Er lässt seine Lesenden zunächst alleine mit der Einordnung.

Stadt der großen Träume ist ein Roman, der mitreißt – in jeder Hinsicht. Er spielt ein nicht immer faires Spiel mit den Lesenden und das macht er wirklich gut. Und, was vielleicht gleichzeitig am schlimmsten und am besten ist, die Geschichte endet nicht an dieser Stelle, denn mit Wir gegen euch gibt es einen zweiten Teil. Trotz der Fülle an Content-Warnungen definitiv eine Empfehlung, allein schon weil man so einiges über sich lernen kann. Denn sieht man mal davon ab, dass es wirklich sehr hart ist, ist es ein verflucht guter Roman.

Cover des Buches Miss Bensons Reise (ISBN: 9783810522337)

Bewertung zu "Miss Bensons Reise" von Rachel Joyce

Miss Bensons Reise
Ignovor 3 Jahren
Kurzmeinung: Schöne Geschichte über Freundschaft, Käfer & zwei außergewöhnliche Frauen in einer Zeit, in der Frauen nicht außergewöhnlich zu sein hatten
Freundschaft, Lebensträume und Käfer

London nach dem Zweiten Weltkrieg. Es herrscht die Rationierung, der Krieg wirkt noch nach. Margery Benson, nur geringfügig jünger als das Jahrhundert, arbeitet als Hauswirtschaftslehrerin an einer Schule, ihre Schüler machen sie fertig. Als ihre Klasse sie mit einer bösartigen Karikatur über ihr Aussehen demütigt, ist Schluss. Margery verlässt die Schule, nicht ohne dabei ein paar Stiefel mitgehen zu lassen. Sie erinnert sich ihrer Liebe zur Naturkunde, die sie seit ihrer Kindheit hegte. Ursprünglich wollte sie Forscherin werden, wollte Expeditionen leiten, neue Arten entdecken. Der Goldene Käfer von Neukaledonien, den sie einst mit ihrem Vater in einem Kuriositätenbuch sah, rückt wieder in ihr Blickfeld. Sie beschließt, wenn sie die Expedition jetzt nicht durchführt, wird sie sie nie mehr durchführen. Margery beginnt mit der Planung, macht sich auf die Suche nach eine:r Assistent:in.
Da tritt Enid Pretty, 26, auf den Plan. Enid ist das exakte Gegenteil von Margery. Quirlig, modebewusst, mit Regeln und Gesetzen eher auf Kriegsfuß. Ihr Lebenstraum, Mutter zu werden, hat durch Fehlgeburten zahlreiche Rückschläge erlitten. Enid ist nicht Margerys erste Wahl, am Ende aber ihre einzige. Und obwohl Enid auch bei den nötigen Qualifikationen nicht ganz ehrlich war, entwickeln sich die beiden Frauen zu einem energischen Team.

Pünktlich zum Jahresende 2020 erschien Rachel Joyces Roman Miss Bensons Reise im deutschsprachigen Raum bei Krüger, einem Imprint von S. Fischer. Das Buch umfasst 480 Seiten, die sich in recht kurze Kapitel gliedern. Der Entwicklungsroman kommt in Form einer Art Coming-of-Middleage-Geschichte daher.

Miss Bensons Reise, das überrascht jetzt kaum, ist eine Reisegeschichte. Der allergrößte Teil des Romans spielt sich im Kontext von Margerys und Enids Expedition nach Neukaledonien ab. Eingebettet ist das in eine Zeit, zu der Frauen nicht viel mehr als gebärfreudiges und im Optimalfall gutaussehendes Beiwerk hart arbeitender Männer zu sein hatten. Beiden Frauen passt diese Rolle kaum auf den Leib. Margery hatte immer viel zuviel zu tun und überhaupt nicht gerade den Wunsch nach einem solchen Leben. Enid sieht ihre Berufung zwar in der Mutterschaft, hat aber nicht das glücklichste Händchen mit Männern. Überhaupt sind beide hinsichtlich Männern gebrannte Kinder. Und für beide ist die Expedition der große Ausbruch aus ihren ganz unterschiedlichen Leben.

Diese Reise lässt uns Rachel Joyce ganz wunderbar miterleben. Mal trocken humorvoll, mal herrlich absurd – Margery und Enid sind einfach zwei tolle Figuren. Für das vorletzte Kapitel mag ich Joyce nicht besonders, für das letzte dafür umso mehr. Denn neben der Reiseerzählung entwickelt sich die Geschichte mit der Zeit zu einer sehr feministischen, die im letzten Kapitel in einem Plädoyer für weibliches Selbstbewusstsein gipfelt. Joyce schlägt dabei sehr gelungen einen Bogen von den genderpolitischen Verhältnissen in der Wissenschaft der 50er- zu den 80er-Jahren – und damit in so mancher Disziplin wahrscheinlich bis ins Heute.

Neben der Handlung um Margery und Enid existiert ein zweiter Strang um den Kriegsversehrten Mr. Mundic. Dessen Rolle hat sich mir leider nicht ganz erschlossen, wahrscheinlich weil sie extrem ambivalent daher kommt. Mundic hat im Krieg Schlimmes erlebt und getan, war danach in Kriegsgefangenschaft und ist dadurch erheblich psychisch beeinträchtigt. Zunächst obdachlos, gehört er zu denen, die auf Margerys Suche nach einer Assistenz reagieren, dann steigert er sich in die Rolle hinein, obwohl er sie gar nicht bekam. So weit kann ich dem Setting folgen. Allerdings schlägt diese Rolle zunehmend dramatisch um. Was als Scheinwerfer auf die Probleme einer Generation von Kriegsversehrten gedacht sein könnte, untermalt am Ende eher die damaligen Vorbehalte diesen gegenüber. Mundic bringt ein Spannungsmoment in die Geschichte, die ohne ihn relativ wenig mit Spannung arbeitet, das war es in meinen Augen aber letztendlich auch. Essenziell wichtig scheint mir dieser Strang nicht, zumal er auch die einzige männliche Figur ist, die überhaupt eine nennenswerte Rolle spielt.

Letzteres zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch: Es geht um Frauen. Margery und Enid sind dabei die Abweichung von der Norm. Die Norm wiederum wird insbesondere durch die Diplomaten- und Industriellenfrauen in Neukaledonien immer wieder eingestreut. Und selbst in deren Kontext stellt Joyce diese immer wieder in Frage – am deutlichsten durch die Rolle von Dolly Wiggs. Dass Frauen mit der ihr auferlegten Rolle damals nicht glücklich waren, dass sie in einer Welt der zerbrochenen Lebensträume lebten, das wird mehr als deutlich und sogar scheinbar so sehr in ihrer zugedachten Rolle aufgehende Frauen wie Mrs. Pope haben eine andere Seite.

Miss Bensons Reise spielt in einer in vielerlei Hinsicht schwierigen Zeit, da bleibt es nicht aus, dass ich ein paar Worte zur Sprache sagen muss. Neukaledonien gehört historisch zum sog. französischen Kolonialbesitz, zur Zeit der Geschichte ist es französisches Überseegebiet. Das spiegelt sich in den vorgefundenen Verhältnissen wie auch in der Sprache. Allerdings, und das gefällt mir sehr, bemüht sich Joyce gerade hinsichtlich der Sprache, kolonialrassistische Anteile zu vermeiden. Das gelingt ihr recht gut, jedenfalls deutlich besser, als man es in einer Geschichte über weiße Protagonist:innen in einem Kolonialterritorium erwarten würde. Schwieriger ist das in Kontexten, aber auch da bemüht sie sich um eine Art Ausgewogenheit. So malt der Roman beispielsweise kein Szenario des white saviourism, allerdings mit dem Makel, dass die Geschichte fast ausschließlich innerhalb der Blase der weißen Gesellschaft der Insel spielt. Die indigene Gesellschaft findet fast ausschließlich im Kontext von Margerys und Enids Basislager in Poum statt und da auch eher als Requisite, als als ernsthafter Bestandteil der Handlung.

Alles in allem ist Miss Bensons Reise aber insbesondere unter feministischen Gesichtspunkten ein gelungener Roman. Auf denen liegt klar Joyces Fokus und den setzt sie auch ziemlich packend um. Das Buch dreht sich hauptsächlich um die Freundschaft zweier sehr unterschiedlicher Frauen in einer Zeit, in der Frauen nicht gerade den Mittelpunkt der Welt bilden durften, und lebt von ihr sehr viel mehr als von Spannung. Das macht es aber auch zu einer recht schönen Geschichte.

Cover des Buches Die Diplomatin (ISBN: 9783734109508)

Bewertung zu "Die Diplomatin" von Lucas Fassnacht

Die Diplomatin
Ignovor 3 Jahren
Kurzmeinung: Spannend, komplex, aber hauptsächlich im Fiktionalen. Mir wäre weniger Verschwörung und mehr Lösungswille zu den Missständen lieber gewesen.
Die Welt brennt, die Wirtschaft verschwört

Ein Hashtag lässt die brodelnde Welt eskalieren: #killtherich. Von Brasilien aus breitet sich eine Welle von Massenprotesten aus, wie sie die Welt noch nicht gesehen hat. Regierungen werden gestürzt, immer mehr Videos von gewaltsamen Übergriffen seitens Staatsmächten heizen die Stimmung an. Ein junger Chauffeur wird in Brasilien plötzlich zum Hoffnungsträger.
Conrada van Pauli arbeitet in leitender Position beim EAD, dem diplomatischen Dienst der EU. Als Expertin für Verhandlungen versucht sie, die zusammenbrechenden Staaten auf einen Kurs zu bringen, der Bürgerkriege verhindern könnte. Doch sie hat mächtige Gegner … nicht nur in den Regierungen, auch die Wirtschaft zieht hinter den Kulissen ganz eigene Fäden.

Die Diplomatin – ursprünglich erschienen als #killtherich – ist der Debütthriller von Lucas Fassnacht und um das gleich mal vorweg zu nehmen, weil ich nachher einiges kritisieren werde, als rein fiktionaler Thriller ist das Buch wirklich ziemlich super. Fassnacht strickt, ausgehend vom rechtsdriftenden Zustand der Welt und dem zunehmenden Ungleichgewicht zwischen arm und reich, ein dystopisches Szenario eskalierender globaler Unruhen. Dabei lässt er zahlreiche oft kurze Handlungsstränge aufeinander zu laufen, um die unterschiedlichen Reaktionen der Staaten sichtbar zu machen. Im Verlauf des Buches rücken so immer wieder neue Figuren unterschiedlich lange ins Zentrum des Geschehens. Eine beständige Rolle nehmen dabei Conrada van Pauli und der indische Journalist Bimal Kapoor ein – sie für den Handlungsstrang der Unruhen, er für den der Wirtschaftsverschwörung. Die beiden sind wohl auch die Figuren, denen Fassnacht die meiste Tiefe verleiht. Über Rückblenden auf ihre Vorgeschichten versucht Fassnacht das für weitere Figuren aufzufangen, stellenweise gelingt ihm das auch recht gut.

Gut gefallen hat mir auch die organisatorische Einbettung in die Realität. Fassnacht übernimmt nicht nur zahlreiche, allgemein wahrscheinlich weniger bekannte multinationale Organisationen und Teile ihrer nachgeordneten Strukturen. Das betrifft insbesondere außenpolitische und nachrichtendienstliche Strukturen der EU, die UN und die UNASUR. Dazu kommen zentrale Figuren aus der Realität – neben Regierungschefs vor allem Federica Mogherini, die frühere Hohe Vertretern der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, die insofern eine Sonderrolle einnimmt, dass sie innerhalb der fiktiven Handlung eine aktive Rolle inne hat. Die organisatorische passt sich dabei ganz gut in die inhaltliche Komplexität ein. Gerade vor dem Hintergrund, dass es sich bei Die Diplomatin um ein Debüt handelt, ist die doch unerwartet umfangreich.

Ich komme zur Kritik. Zunächst etwas konzeptionelles, das ich unter Geschmackssache ablege. Die Diplomatin ist Gegenwartsliteratur und beschäftigt sich entsprechend mit in hohem Maße aktuellen Problemen. Damit meine ich nicht weltweite Protestwellen mit tatsächlichem Gefahrenpotential für die Systeme, sondern die wirtschaftlichen, politischen, gesellschaftlichen Missstände dahinter. Die Ausgangslage für Fassnachts Szenario ist die Realität. Das mag ich an kritischer Gegenwartsliteratur prinzipiell sehr, weil es die Möglichkeit bietet, auch mal unkonventionelle Lösungsansätze durchzuspielen. Fassnacht macht das beispielsweise mit José Colasanti und leider nur im Ansatz über die Konzepte von ihm, Conrada und Prof. Auenrieder. Darauf könnte man stärker aufbauen, das passiert aber nicht. Schade.

Stattdessen konzentriert sich Die Diplomatin darauf, ein turbulentes aber leider in seiner Komplexität ziemlich unwahrscheinliches Szenario aufzubauen. Eine weltweite Protestbewegung, die reihenweise Regierungen stürzen kann und zahlreiche Bürgerkriege entfesselt alleine ist schon recht unwahrscheinlich. Dass zeitgleich auch noch Beweise für eine globale Verschwörung universellen Ausmaßes – einen globalen Deep State quasi – auftauchen, mit denen man die komplette Verschwörung und ihre Beteiligten enttarnen könnte, finde ich schade, weil es mir die Lösungsansätze zu sehr ins Fiktionale verlegt. Damit wir uns nicht falsch verstehen, das macht das Buch nicht schlechter, es macht es nur fiktionaler, wo es Potenzial hätte, die Realität zu diskutieren.

Ein anderer Punkt geht einher mit Content Warnungen: Die Diplomatin enthält inzestuös-/sexualisierte Szenen, Folterszenen, Polizeigewalt und – sehr plastisch – rassistische Gewalt. Im Zusammenhang mit Letzterer fallen auch einige rassistische Wörter, u.a. das N-Wort. Dies findet immer in negativ konnotiertem Kontext statt, insofern ist wenigstens die Verurteilung implizit. Dazu kommt Sexismus ggü. Frauen und der wird, jedenfalls im Gesamtbild, nicht immer von negativ konnotierten Figuren praktiziert. Darauf sollte man leider gefasst sein.

Zusammengefasst empfand ich Die Diplomatin als ziemlich gelungenes Debüt, wenn man mit einem rein fiktionalen Anspruch an das Buch geht – es ist Fiktion, also sollte man das wohl. Der Thriller ist komplex und im Ansatz ganz gut in die Realität eingebunden, thematisch ist er hochaktuell. Mich hat er jedenfalls neugierig auf mehr gemacht.

Cover des Buches Wut (ISBN: 9783446269774)

Bewertung zu "Wut" von Bob Woodward

Wut
Ignovor 3 Jahren
Kurzmeinung: Besonders durch die Interviews mit Trump beeindruckend. Spoiler: Es ist wirklich so schlimm, wie es auf Twitter immer aussah.
Nah wie selten

Das ist er also, der zweite Teil von Bob Woodwards Begleitung der Präsidentschaft Donald Trumps. Besonders, weil ein Unterschied zum ersten Teil Furcht, beruhte damals noch alles höchstens auf Informationen aus dem Umfeld des Präsidenten, so ließ sich Trump für dieses Buch nun auch selber interviewen. Wohl auch, um sein Bild ins rechte Licht zu rücken – was man wohl als übermotiviert und erwartungsgemäß gescheitert betrachten darf. Trotzdem wird der Einblick durch die O-Töne noch mal um einiges besser. Auch wenn die oft ziemlich weh tun. Körperlich.

Auch wenn sich Wut im Kern weitgehend um den Nordkorea-, den China-Konflikt und die Covid-19-Pandemie dreht, beginnt Woodward das Buch im November 2016, also zu Zeiten des President-Elect Donald Trump. Woodward zeichnet dabei insbesondere die Wege von James Mattis, Rex Tillerson und Dan Coats ins Schattenkabinett des künftigen US-Präsidenten nach. Was sie trieb, wie sie sich überzeugen ließen und welche persönlichen Konflikte dabei auftraten – denn solche gab es durchaus. Hier geht er dem Reportageformat entsprechend sehr neutral mit den einzelnen Beteiligten um. Das ist vom journalistischen Standpunkt her gut, trotzdem muss ich es kritisieren, weil insbesondere diejenigen, die von Trump selber überzeugt sind, dabei zu unkritisch wegkommen, während Woodward später mit diesem journalistischen Anspruch hadert. Dazu unten mehr.

Was mit Wut tatsächlich wieder gut gelingt, ist die Abbildung des organisatorischen Chaos‘ der Präsidentschaft. Die schließt sich nahtlos an Furcht an, wo sie im Fokus lag. Woodward fängt den verzweifelten Kampf insbesondere des DNI Dan Coats glaubhaft und ziemlich mitreißend ein, wenn er schlicht versucht, seinen Job nach seinen persönlichen Maßstäben zu machen, dabei aber ständig aus der Ecke behindert wird. Die persönliche Verzweiflung ist mit Händen greifbar.

Ende 2019, also kurz vor Beginn des letzten Jahres seiner Amtszeit beginnen dann die 17 Interviews mit Donald Trump selbst, die Woodward meist im Wortlaut wiedergibt. Zusammen mit dem Briefwechsel zwischen Trump und dem nordkoreanischen Machthaber Kim Jong-un bilden sie wohl den spannendsten Teil von Wut, weil sie persönlicher als alles andere an Trump heran führen. Besonders die Interviews zeugen von einer kolossalen Selbstüberschätzung bei weitgehender Unwissenheit und Beratungsresistenz des Präsidenten. Wie schwer dieser Teil der Recherche auch Woodward gefallen sein muss, zeigt sich im Verlauf der Interviews. Denn inhaltlich ändert sich mit der Zeit da einiges, besonders mit Fortschreiten der Covid-19-Pandemie und dem katastrophalen Krisenmanagement der US-Administration. Woodward verlässt den strikt journalistischen Pfad und beginnt – erst vorsichtig, später immer eindringlicher – seinen Zugang zu Trump nutzen zu wollen, um ihn zu einem ernsthafteren Umgang mit der Pandemie zu bewegen. Das kann ich angesichts des katastrophalen Verlaufs in den USA einerseits verstehen, andererseits komme ich hier aber wieder zurück zu meiner Kritik vom Anfang. Denn wenn Woodward den journalistischen Anspruch in einem für das Buch so zentralen Bereich schleifen lässt, könnte er auch die eingangs erwähnten Amtsträger kritischer beurteilen. Aus heiterem Himmel sind die meisten von denen nämlich wohl kaum im Sumpf der Administration gelandet. Ein Mike Pence beispielsweise ist auch ohne Trump keine unproblematische Figur. Da mutet es für mich schon merkwürdig an, wenn sein evangelikaler Hintergrund im Buch vor allem als geistiger Rückhalt im Sinne von »schlimme Zeiten, aber Gott hat mich ausgewählt, damit es nicht noch schlimmer wird« beschrieben wird.

Trotzdem, die Interviews sind das bemerkenswerteste, was das ganze Buch liefert. Und in einem dieser Interviews findet sich auch das vielleicht beste Mittel zur Charakterisierung Donald Trumps. Es geht dabei um die sog. Ukraine-Affäre, die auch ein juristisches Nachspiel hatte. Trump hatte Hilfsgelder an die Ukraine hinter geschlossenen Türen an die Bedingung geknüpft, dass die Ukraine Ermittlungen wegen Korruption gegen Hunter Biden forciert. Bob Woodward versucht im Interview nun, Trump zu erklären, warum es juristisch einen gewaltigen Unterschied macht, ob man den gemeinsamen Kampf gegen Korruption fördert oder Ermittlungen gegen Angehörige eines politischen Konkurrenten mit der Vorenthaltung von finanziellen Hilfen erpresst. Er gibt sich da wirklich Mühe und man kann seine Verzweiflung quasi zwischen den Zeilen lesen. Trump hingegen versteht diesen Unterschied beim besten Willen nicht und greift vehement die ach so unfairen Ermittlungen gegen ihn an – das ist der Teil, den man auch in den Medien, insbesondere auf Twitter, minutiös verfolgen konnte. Bemerkenswert ist dabei die Erkenntnis, dass der Horizont des scheidenden Präsidenten tatsächlich so beschränkt ist, wie es sein öffentliches Auftreten vermittelt, und eben nicht nur eine umfassende und ziemlich erfolgreiche Kommunikationsstrategie.

Abschließend sei gesagt, dass Wut nach Furcht wieder bemerkenswerte Einblicke liefert. Bob Woodward kommt aufgrund seiner langjährigen Reputation außergewöhnlich nah an die US-Präsidenten heran, da macht selbst Donald Trump keinen Unterschied. Damit und mit der akribischen Recherche bietet das Buch einen tiefen Einblick in Charakter und Funktionsweise auch dieser Präsidentschaft.

Cover des Buches Kissing Chloe Brown (Brown Sisters 1) (ISBN: 9783548062846)

Bewertung zu "Kissing Chloe Brown (Brown Sisters 1)" von Talia Hibbert

Kissing Chloe Brown (Brown Sisters 1)
Ignovor 3 Jahren
Kurzmeinung: Zwei Menschen, beide auf ihre Weise sehr vorbelastet, finden und retten sich. Eine Liebesgeschichte mit besonderem Augenmerk auf Diversität.
Romance mit Schwerpunkt Diversität

Romance also. Das ist normalerweise so überhaupt nicht mein Genre. Dass ich im Falle von Talia Hibberts Kissing Chloe Brown eine Ausnahme gemacht habe, liegt an ihrer Genre-Selbstbeschreibung: Sexy Diverse Romances. Divers macht für mich den Unterschied und dass Hibbert nicht nur eine Schwarze Autorin ist, sondern darüber hinaus mit Fibromyalgie bei Chloe über eine Krankheit schreibt, unter der sie selber leidet, kommt als Entscheidungshilfe noch obendrauf. Kissing Chloe Brown ist dabei der erste Teil einer Trilogie um die Brown-Schwestern Eve, Dani und eben Chloe. Jeder Band dreht sich um eine der drei Schwestern, der erste um Chloe.

Chloe Brown also. Chloe ist eine junge Schwarze Frau aus gutem Hause. Allerdings hat es das Leben bei Weitem nicht so gut mit ihr gemeint, wie das jetzt klingt. Sie hat Fibromyalgie, lebt also u.a. mit chronischen Schmerzen, und kommt in diesem Zusammenhang aus einer toxischen Beziehung. Ihr Leben hat sie umgekrempelt, lebt jetzt alleine in einer kleinen Wohnung. Als sie eines Tages fast überfahren wird, fasst sie einen Entschluss: Eine Liste der Dinge, die sie machen will, um der Mensch zu werden, der sie eigentlich sein will.
Da kommt unerwartet der Künstler und Hausmeister ihres Wohnblocks Red Morgan ins Spiel. Auch er macht gerade nicht die beste Phase seines Lebens durch, auch er kommt aus einer toxischen Beziehung. Mit seinem künstlerischen Schaffen klappt es nicht mehr und ganz allgemein geht es mit ihm eher bergab als bergauf. Chloe und er fallen sich zwar auf, die Begegnungen beschränken sich zunächst aber auf beißende Abweisung seitens ihr. Bis die beiden merken, dass sie gut füreinander sind.

Über Liebesgeschichten kann ich eigentlich nicht viel sagen. Für mich verlaufen sie immer ziemlich ähnlich und vorhersehbar und leben eigentlich hauptsächlich vom Mitfiebern, ob sich die Protagonist:innen denn am Ende kriegen, obwohl man genau weiß, dass es darauf hinaus laufen wird. Darum verlagere ich mich hier mal auf die Bereiche, wegen denen ich Kissing Chloe Brown überhaupt gelesen habe: Diversität. Hier bin ich recht begeistert von der Umsetzung. Chloe wird nicht, wie das öfter passiert, auf die Eigenschaften beschränkt, die sie zu einer marginalisierten Person machen. Insbesondere ihre Krankheit und die erheblichen Einschränkungen, die sie durch die erlebt, finden nicht herausgestellt, sondern beiläufig wie das Normalste der Welt statt. Wie sie für Chloe eben auch das Normalste der Welt sind. Nicht schön, aber eben auch nicht zu ändern. Trotzdem nimmt die Fibromyalgie durch ihre alltäglichen Folgen für Chloe natürlich eine zentrale Rolle ein – nur eben keine, die als besonders oder anders herausgestellt wird. Das gefällt mir gut, denn Krankheiten oder Behinderungen sollten nicht als unnormal behandelt werden.

An der Stelle sticht sicherlich auch Red heraus, der auf beeindruckende Weise besonders mit der Krankheit umgeht. Eben so, wie man es von Partnern erwarten können sollte.

Im Gegensatz zur Fibromyalgie findet Chloes Schwarzsein im Prinzip überhaupt nicht statt. Es wird erwähnt, aber das war es auch schon. Hier bin ich mir tatsächlich nicht ganz sicher, wie ich das finden soll. Einerseits wird es so eben auch implizit normalisiert, andererseits beschränkt sich das alltägliche Leben dann auf eine weiße Vorstellung – jedenfalls bei weißen Leser:innen. Weil Kissing Chloe Brown Romance ist und damit Gesellschafts- und Rassismuskritik nicht unbedingt Bestandteil sein müssen – Romance ist in der Hinsicht ja doch meist eher leicht verdauliche Unterhaltung – würde ich das verschmerzen. Weil Hibberts Selbsteinordnung aber explizit Diverse Romance ist, tue ich mich ein bisschen schwer damit, die Schwarze Perspektive nicht expliziter einfließen zu lassen. Nicht zwingend explizit mit rassismuskritischen Elementen, aber eben Elemente des Alltagslebens. Ich bin da zwiegespalten.

Was ich hinsichtlich der Schwarzen Perspektive aber positiv hervorheben möchte, ist das Verhältnis von Chloe und Red. Die sind nämlich beide auf ihre Weise kaputt. Die Erzählung ist nicht, dass der heroische weiße Red die kranke Schwarze Chloe retten muss, wie es leider ziemlich oft passiert – Stichwort white saviourism. Chloe und Red sind beide auf ihre Weisen in einer psychisch schwierigen Verfassung und durch ihre jeweilige Vergangenheit erheblich vorbelastet. Die Geschichte ist eine einer gegenseitigen Rettung und das recht gleichberechtigt, wenn auch nicht immer auf gleiche Weise. Das gefällt mir ziemlich gut.

Wenig zu meckern gibt es auch am Attribut Sexy. Kissing Chloe Brown weist nicht wenige explizite Passagen auf, die finde ich weitgehend gut umgesetzt. Ein bisschen problematisch erschien mir stellenweise Red, der sich ein ums andere Mal erheblich zusammenreißen muss, um in der Phase vor der Beziehung nicht über Chloe herzufallen. Im Kontext liest sich das schon fast wie kurz vor dem sexuellen Übergriff und entproblematisiert wird es im Prinzip nur, weil Chloe es wohl sehr begrüßen würde. Nur dass Red das eben nicht wissen kann, wodurch die Entproblematisierung eigentlich nicht funktionieren kann.

Content Warnungen kann ich mir bei dem Genre wohl eigentlich sparen. Dass es explizite Beschreibungen sexueller Handlungen gibt, gehört da einfach dazu. Ich könnte mich jetzt darüber auslassen, wie viele eher unschöne Bezeichnungen es im Deutschen für den unteren weiblichen Intimbereich gibt und dass bei expliziten Übersetzungen quasi immer zahlreiche davon Verwendung finden müssen – aber letztendlich ist das auch wieder Geschmackssache.

Am Ende bleibt Kissing Chloe Brown eine ganz schicke Liebesgeschichte mit einem gut umgesetzen, literarisch leider noch etwas spezielleren Charaktersetting. Insofern eine Empfehlung für Freund:innen des Genres und Leser:innen, die sich mal anschauen wollen, wie man Figuren abseits der Norm auch konstruieren und verwenden kann.

Cover des Buches Sophia, der Tod und ich (ISBN: 9783462050615)

Bewertung zu "Sophia, der Tod und ich" von Thees Uhlmann

Sophia, der Tod und ich
Ignovor 3 Jahren
Kurzmeinung: Knochentrockener und herrlich absurder Roadtrip mit dem Tod. Man hört Uhlmann quasi singen. Ein tolles Debüt.
Dingdong, hier ist der Tod

An der Tür des Erzählers klingelt es, davor steht der Tod. Die Zeit des Erzählers ist gekommen, doch etwas geht schief. An der Schwelle zum Jenseits tobt ein Kampf um die Stelle des Todes und der Erzähler steckt ungewollt plötzlich mittendrin. Gemeinsam mit seiner Ex-Freundin, mit der er nie ganz abgeschlossen hat, und dem Tod beginnt er einen Roadtrip zu seiner Mutter und seinem Sohn. Es steht viel auf dem Spiel, nicht weniger als das Jenseits der ganzen Menschheit.

Sophia, der Tod und ich ist das Romandebüt des Musikers Thees Uhlmann. Als Musiker gehört er fest zu meinem Unterhaltungsrepertoire, auf dem Wege bekam ich auch deutlich verspätet mit, dass er in Buchform schreibt. Sein zweites Buch über die Toten Hosen gab es irgendwann mal als Hörbuch bei Spotify, das hat mit stilistisch ziemlich begeistert (er ist auch ein ganz wunderbarer Vorleser für seine Texte). Da lag es nah, sich auch mal seinem Roman zu widmen. Was sich keinesfalls als Fehler erweisen sollte.

Der nicht näher benannte Erzähler – männlich, um die 40, ein Sohn, zu dem er aber nur einseitig über tägliche Postkarten Kontakt hat, Altenpfleger und ansonsten in seinem Leben relativ gescheitert, das aber wenigstens in beißendem Zynismus – wird also mit seinem unmittelbar bevorstehenden Tod konfrontiert, der einen Hauch weniger unmittelbar auf unbestimmte, aber absehbare Zeit verschoben werden muss. Von nun an fristet er sein Leben gemeinsam mit dem Tod – tot, sehr alt, stilvoll, unterhaltsam, Mutters Liebling und vom Karriereende bedroht -, denn ein kosmischer Jux besagt, dass stirbt, wer weiß, dass er der Tod ist und sich weiter als 400m von ihm entfernt … etwa. Aus dem gleichen Grund muss des Erzählers Ex-Freundin und große Liebe Sophia – ebenfalls um die 40, polnischer Abstammung, wunderschön und noch beißender zynisch – sich dem kuriosen Paar anschließen und später auch des Erzählers Mutter. Es bildet sich eine Gruppe sehr unterschiedlicher Charaktere, die aber eine meist urkomische Kombination ergeben.

Uhlmann gelingt dabei etwas recht schönes, denn Sophia, der Tod und ich hat an sich eine recht vorhersehbare Handlung, wird durch die Figuren und ihr Zusammenspiel in Wort und Tat aber zu einem ganz tollen Roman. Insbesondere die Dialoge sind teilweise herrlich absurd, egal wer gerade beteiligt ist. Dabei spielt er gefühlsmäßig auf einer breitgefächerten Klaviatur: von Trauer über Wut bis Lachen und Freude ist alles dabei und das so, dass es sich nie erzwungen anfühlt. Gute Teile sind so herrlich melancholisch, wie man Uhlmann auch musikalisch kennen kann. Das beherrscht er wirklich auf besondere Art.

Ein ganz kleines bisschen gewarnt sei trotzdem. Die Geschichte findet in einem kleinstädtisch sozialisierten Umfeld statt, das färbt naturgemäß etwas auf die Figuren ab. Es gibt zwar sehr wenig und nicht allzu harte diskriminierende Sprache, aber frei von ihr ist Sophia, der Tod und ich nicht. Meist fügt sich das in ein Zusammenspiel zwischen den Figuren ein (Sophia und ihr Vater frotzeln mit dem Erzähler über ihre polnische Herkunft, des Erzählers Mutter kokettiert regelmäßig mit ihrem Hintergrund als Hugenottin), allerdings wird insbesondere Autismus ein paar mal zweckentfremdet. Wie gesagt, es sind sehr wenige Einzelfälle, aber es gibt sie.

In diesem Sinne, mit Sophia, der Tod und ich bekommt ihr ein wunderschönes, melancholisches, witziges, trauriges, optimistisches und insgesamt sehr gelungenes Buch über das Leben, die Liebe, den Tod und überhaupt. Thees Uhlmann hat ein tolles Debüt geliefert.

Cover des Buches 2024 - Singularity: Roman (deutsche Ausgabe) (ISBN: 9781709172786)

Bewertung zu "2024 - Singularity: Roman (deutsche Ausgabe)" von Matt Javis

2024 - Singularity: Roman (deutsche Ausgabe)
Ignovor 3 Jahren
Kurzmeinung: Gelungenes Debüt mit kleinen Abzügen in der B-Note über Fragen, die sich im Zusammenhang mit starken KIs und Unternehmen stellen.
Vom Umgang mit starken KIs

Lou und seine Mitbewohner:innen bilden eine szenetypische Tüftler-WG in Pasadena. Künstliche Intelligenz ist insbesondere sein Thema, hier ist der junge Mann Experte. Nachdem Tarja einzieht, wird die WG plötzlich brutal überfallen. Die Neue scheint überraschend vorbereitet und flüchtet gemeinsam mit Lou. Schnell wird klar, dass Lous KI-Forschung ins Visier staatlicher und wirtschaftlicher Interessensgruppen gelangt ist und er sich mit mächtigen Gegnern befassen muss.

2024 – Singularity ist mir irgendwo zwischen LovelyBooks und mojoreads begegnet. Der Techroman markiert das Romandebüt des Physikers und Softwareentwicklers Martin Kreyscher unter dem Pseudonym Matt Javis. Das Buch erschien im Selbstverlag, was sicher nicht an seiner Qualität lag.

Spannend und etwas gewöhnungsbedürftig fand ich gleich im ersten Teil der Handlung die Zeitsprünge. Zu Beginn hatte ich das Buch nebenbei gelesen, so dass ich zwischendurch Gefahr lief, den zeitlichen Überblick zu verlieren. Das gibt sich aber recht schnell und die Kontinuität der Erzählung leidet kaum unter den zeitlichen ›Lücken‹ in der Handlung. Spätestens, bis die Handlung Fahrt aufnahm, war ich in der Geschichte drin.

Vernachlässigt hat Javis für mich ein wenig seine Figuren. Lou bekommt Tiefe, das lässt sich kaum vermeiden, schließlich begleitet der Großteil des Romans ihn. Bei Tarja wird es schon weniger, obwohl auch sie viel mit im Mittelpunkt steht. Alle anderen Figuren, inkl. Markov, bleiben leider etwas blass. Insgesamt hatte ich öfter das Gefühl, ein paar mehr Seiten hier und da hätten durchaus noch sein können. Ein häufiges Phänomen bei selbstverlegten Büchern, das nicht selten auf den Druckkosten fußt. Insofern möchte ich das nicht überbewerten, da muss man halt den Spagat zwischen Handlung und marktverträglichem Preis finden und das ist nicht unbedingt einfach.

Außerdem hat Javis den Platz für eine tolle Handlung genutzt. 2024 – Singularity glänzt als Techroman im KI-Segment. Nach einem relativ gemütlichen Start geht das Buch recht schnell in seine rasante Phase über, die kaum unterbrochen bis zum Ende anhält. Neben den genreüblichen, recht allgemeinethischen Fragen zum Komplex KI wirft Javis auch solche wie etwa die nach den ›Eigentümern‹ (was eigentlich das falsche Wort ist) einer starken KI auf. Ob also ein potenziell so mächtiges Instrument (was auch wieder das falsche Wort ist) in den Händen der Wirtschaft liegen darf. Eine der zahlreichen Fragen, mit denen sich Politik und Gesellschaft schon heute dringend beschäftigen sollten, denn die Implikationen von starken KIs, sollten sie denn entwickelt werden, sind dann so unmittelbar und weitreichend, dass es zu spät sein wird, sich erst dann dieser Fragen zu widmen.

Was ich ein wenig schade finde, das zieht sich aber durch das gesamte KI-Genre, ist der Verzicht auf eine allgemeinverständliche Erklärung der Deep-Learning-Verfahren. Jawis geht da schon etwas weiter als üblich, indem er sein wissenschaftliches Paper zum Lernkonzept von Lucy, der KI des Romans, im Anhang anfügt. Allerdings ist das eben – nun ja – ein wissenschaftliches Paper. Die praktischen Grundlagen des Lernprozesses bleiben letztendlich eine Blackbox, es bleibt bei der üblichen Erklärung, man »füttert« die KI mit bestehenden Daten und sie lernt daraus. Sicher, Deep Learning ist ein reichlich abstraktes Konzept ebenso wie neuronale Netzwerke, aber es bleibt der Allgemeinheit eben auch abstrakt, wenn sie in Populärliteratur nie allgemeinverständlich, was selbstverständlich auch Simplifikation einschließt, erklärt werden. Javis versucht das zu Beginn mit dem Roboter Marvin und er schafft es da auch weiter, als viele Autor:innen zuvor, aber es bleibt doch vieles abstrakt.

Doch nun genug genörgelt, denn das wird 2024 – Singularity nicht gerecht. Sieht man mal von diesen technischen Kritikpunkten ab, bleibt das Buch ein spannender Techroman. Und für Fachkundige gibt es sogar noch ein bisschen Wissenschaft dazu. Ein gelungenes Debüt, das Lust auf mehr macht.

Cover des Buches Der Präsident (ISBN: 9783404176588)

Bewertung zu "Der Präsident" von Sam Bourne

Der Präsident
Ignovor 3 Jahren
Kurzmeinung: Von der Realität überholt, trotzdem super. Insbesondere das sehr treffende Charakterportrait Steve Bannons.
Der US-Präsident und sein Chefberater

Der neugewählte US-Präsident ist ein narzisstischer Demagoge. Während die Welt den Atem anhält, bekommt kaum jemand die dramatischen Szenen mit, die sich schon kurz nach seiner Amtseinführung im Lageraum des Weißen Hauses abspielen. Mitten in der Nacht befiehlt der Präsident den atomaren Erstschlag – wegen einer Nichtigkeit. Das Geschehene setzt eine Reihe von Reaktionen in Gang, denn irgendwie muss diese Regierung gebremst werden.
Kurz darauf nimmt sich der Leibarzt des Weißen Hauses scheinbar das Leben. Maggie Costello, im Büro des Rechtsberaters des Weißen Hauses geblieben, um die Folgen der Präsidentschaft von innen heraus abzumildern, wird auf den Fall angesetzt. Denn der wirft Fragen auf. Gibt es ein Komplott mit dem Ziel, den Präsidenten zu töten?

Band 3 der Reihe um Maggie Costello ist wahrscheinlich einer der bis dato besten, weil er das richtige Thema zum richtigen Zeitpunkt auf die richtige Weise behandelt. In Der Präsident widmet sich Sam Bourne schon 2017 der noch jungen Präsidentschaft Donald Trumps (dessen Schattenriss auch das Cover ziert) und, was das Buch sehr viel interessanter macht, seinem ursprünglichen Chefberater Steve Bannon. Spannend und besonders dabei ist, dass er seinen Bannon – er heißt Crawford McNamara – frei von der Leber reden lässt. Der Fokus des Buches liegt nicht auf dem namenlosen Präsidenten, er liegt auf dem Chefberater. Und den hat Bourne, auch wenn ihn das extremst unsympathisch und stellenweise auch heute noch nur schwer aushaltbar macht, furchtbar gut umgesetzt. Ich las das Buch jetzt nach 2017 zum zweiten Mal und ich erinnere mich noch, dass ich es damals wirklich schwer ausgehalten hatte. Heute ist es zwar immer noch krass, aber die zeitliche Distanz hilft durchaus.

Der größte Teil des Buches arbeitet auf das Attentat gegen den Präsidenten hin. Bourne gliedert den Teil in mehrere Handlungsstränge, die parallel aufeinander zu laufen und sich im Attentat treffen. Die Stränge sind insgesamt in sich weitgehend schlüssig, einzig der Punkt, dass Maggie wirklich sehr lange nicht auf die Idee kommt, der Leibarzt könnte von der Regierung selber ermordet worden sein, um eine Amtsenthebung aus medizinischen Gründen zu verhindern, ließ mich ein wenig zweifeln. Auf die Idee hätte sie angesichts des Gesamtbildes eigentlich viel schneller kommen müssen. Der Handlung tut das insgesamt nicht allzu weh, die Figur Maggie leidet aber schon ein wenig unter den Folgen des Irrtums.

Charakterlich hervorheben muss ich definitiv Crawford »Mac« McNamara, der ist wirklich herausragend gelungen; auf eine extrem unsympathische Weise. Sein Vorbild in der realen Welt tingelt zwar nun hauptsächlich noch durch Dokumentationen (was schlimm genug ist), aber wie die Präsidentschaft begann, hat man ja auch nicht vergessen. Mac passt in seiner grenzeinreißenden und absolut skrupellosen, trotzdem strategisch aber sehr intelligenten Art genau auf das, was man von Bannon erlebt hat. Insgesamt kann man sich ohne große Probleme vorstellen, dass der Ausgangspunkt des Buches genau so passiert sein könnte. Danach nahm die Realität zwar einen anderen Lauf, allerdings liegen Attentatsüberlegungen möglicherweise auch im Rahmen des Möglichen.

Hier startet Bourne wohl die große Frage, um die sich Der Präsident dreht: Wann kommt eine Demokratie an den Punkt, an dem ein Mord gerechtfertigt ist, um die Demokratie zu retten? Ein beliebtes Argument ist, dass die Herrschaft des Volkes sich auch entmachten darf. Das klingt erst mal logisch, lässt aber außer acht, dass es eben nicht die vielzitierte Mehrheit sein muss, die Faschisten an die Macht bringt. Trump beispielsweise wurde nur nach Wahlleuten mehrheitlich gewählt und das liegt neben dem System auch daran, dass die Parteien die Wahlkreise in den von ihnen regierten Bundesstaaten regelmäßig zu zurechtwürfeln, dass ihre Siegchancen möglichst optimal sind (siehe Gerrymandering). Wenn man den Fall auf Deutschland überträgt, wäre es in unserem Parlamentarismus recht unwahrscheinlich, dass eine faschistische Partei alleine über die 50% kommt. Sie bräuchte also einen Partner, aktuell wohl die FDP oder die Union. Jetzt rechnen Unions- oder selbst FDP-Wähler aber sicher nicht damit, dass ihre Stimme an die Faschisten gehen könnte. Also was nun tun, um den Zustand zu ändern? Die demokratischen Mittel funktionieren werden zunehmend untergraben (die Entwicklung machen die USA in den letzten vier Jahren durch) oder untergraben sich selbst, wie es die Republikaner im Senat machen, die, ob sie im Kern mit Trump konform gehen oder nicht, wie eine Wand hinter ihm stehen. Wann ist also der Punkt erreicht, an dem man sich mit gezielter Waffengewalt wehren muss – oder verbietet sich das etwa generell?

In Der Präsident diskutiert Bourne diese Frage an Maggie, die strikt an das System glaubt, und Bob Kassian und Jim Bruton, die für die radikalere Verfassungsauslegung stehen. Zu einem Ergebnis kommt er explizit nicht wirklich, implizit spricht die Handlung für sich. Allerdings ist der implizite Weg erheblich von Zufällen und Glück abhängig und tatsächlich darf man sich mit dem Wissen von vier Jahren fragen, ob Bourne die Republikaner nicht zu optimistisch eingeschätzt hat. Mag das Buch 2017 optimistisch gewesen sein, muss man 2020 feststellen, dass es gerade in seinem Optimismus doch sehr viel fiktionaler war, als Bourne sich möglicherweise gedacht hatte.

Langer Rede, kurzer Sinn, Der Präsident wurde zwar von der Realität überholt, trotzdem stellt es leider wichtige Fragen und bietet insbesondere in der Figur McNamaras ein eindrückliches Charakterportrait. Ein toller Politthriller auch innerhalb der Reihe um Maggie Costello ist das Buch so oder so.

Cover des Buches Das letzte Testament (ISBN: 9783596178971)

Bewertung zu "Das letzte Testament" von Sam Bourne

Das letzte Testament
Ignovor 3 Jahren
Kurzmeinung: Guter Auftakt zur Reihe um Maggie Costello. Fiktion super in reelle Hintergründe eingebettet. Und das Konfliktthema gut gelöst.
Die Tempelberg-Frage

Bei Plünderungen im Rahmen des Sturzes Saddam Husseins im Jahre 2003 findet ein Junge eine Tontafel. Über Umwege landet die Jahre später in den Händen des israelischen Archäologieprofessors Shimon Guttman. Der erkennt noch die Brisanz der Tafel, denn sie enthält den letzten Willen Abrahams. Doch bevor er den Fund veröffentlichen kann, wird er ermordet. Weitere Menschen, die mit der Tafel in Kontakt waren, folgen. Der Nahost-Friedensprozess, der eigentlich gerade in einer aussichtsreichen Phase war, gerät wieder einmal in Gefahr.
Um die Verhandlungen zu retten, schickt die US-Regierung Maggie Costello, ehemals Star-Mediatorin für NGOs, die UN und die USA, in die Region. Seit ihrem letzten Verhandlungsauftrag, bei dem sie schlimm scheiterte, hat sie auf Scheidungen umgesattelt. Mehr gezwungen als freiwillig nimmt sie den Auftrag an und beginnt Ermittlungen zu den rätselhaften Mordfällen. Schnell gerät sie dabei zwischen die Fronten.

Das letzte Testament ist Band 1 der Reihe um Maggie Costello und erschien in der deutschsprachigen Fassung 2008, in der aktuellen 2010. Der Thriller stützt sich historisch lose auf die Lage im Nahostkonflikt in der zweiten Hälfte der Nullerjahre. Fest datiert in der Handlung ist lediglich der Strang um die Geschehnisse 2003 im Irak, die restliche Handlung findet »Mehrere Jahre später« statt. Allerdings gibt es innerhalb der Handlung Hinweise, so beispielsweise die Bildung der Einheitsregierung von Hamas und Fatah im Februar 2007, die im Buch bereits geschehen ist. Außerdem steht in den USA eine Präsidentschaftswahl an, was auf November 2008 datiert werden kann. Historisch abweichend ist dabei, dass es im Buch um eine Wiederwahl geht, der damalige US-Präsident George W. Bush aber am Ende seiner zweiten Amtszeit stand. Die Friedensverhandlungen, die im Buch thematisiert werden, sind Fiktion; real wurden diese erst 2010 wiederaufgenommen.

Als Einstieg in die Reihe baut Bourne Das letzte Testament ein bisschen ungewöhnlich auf, was aber nur auffällt, wenn man sich nicht an die Reihenfolge hält und die restlichen Bände schon kennt. Denn im Gegensatz zu den späteren Bänden widmet er sich detailliert mit Maggies Vorgeschichte. Wo sich der Hintergrund der Hauptfigur in vielen anderen Reihen erst nach und nach im Rahmen einer Rahmenhandlung enthüllt, erledigt Bourne das gleich im ersten Band und dort auch am sehr viel präziser, als in allen späteren Bänden. Das betrifft insbesondere Maggies erste Phase als politische Mediatorin. Insofern relativiert sich meine Kritik an der fehlenden Charaktertiefe in den späteren Bänden ein wenig, man sollte die Bücher einfach chronologisch lesen.

Mit Blick auf die Übersetzung von Rainer Schmidt habe ich für ein Buch von 2008 mit dieser Thematik erstaunlich wenig anzumerken. Rassismen und Sexismen werden insgesamt nur von negativ behafteten Figuren genutzt und die werden dadurch auch nicht sympathischer. Es gibt gegen Ende aber eine Stelle, an der Maggie »Gutmenschen« in negativer Konnotation nutzt, was mich sehr gewundert hat. Das Wort schien mir für die Zeit vor 2015 eher eine Randerscheinung. Allerdings muss ich feststellen, es hat seit den 1990ern einen schleichenden, aber stetigen Aufschwung. Dass es 2008 allerdings schon so weit im allgemeinen literarischen Sprachgebrauch angekommen war, dass man es in einer Übersetzung nutzen musste, wundert mich weiter.

Davon aber abgesehen ist Das letzte Testament ein toller Einstieg in eine herausragende Serie. Maggie Costello ist als Protagonistin super gewählt. Thematisch bestechen Band und Serie insbesondere durch ihre recht enge Einbettung in die tatsächlichen Entwicklungen seit Mitte der Nullerjahre. Dazu kommt ein erhebliches Maß an Fachwissen über den Nahostkonflikt und seine Hintergründe und, was allerdings im ersten Band noch nicht so sehr zum Tragen kommt, die US-amerikanische Politik.

Eine Contentwarnung muss ich mir noch gestatten: Es gibt einige wenige Folterszenen und recht eindrücklich beschriebene sexualisierte Gewalt. Gerade letzteres muss in der Deutlichkeit nicht unbedingt gut für jede:n sein.

Also, lest Das letzte Testament und den Rest der Reihe. Es lohnt sich. Sam Bourne hat da mit der Verbindung aus Fiktion und sehr großer Realitätsnähe da wirklich eine oft schmerzhaft gute Thrillerreihe geschrieben.

Cover des Buches Die Wahrheit (ISBN: 9783404179824)

Bewertung zu "Die Wahrheit" von Sam Bourne

Die Wahrheit
Ignovor 3 Jahren
Kurzmeinung: Fürchterliches Szenario mit einer deutlichen Warnung vor geschichtsrevisionistischen Bemühungen. Passt leider viel zu gut in seine Zeit.
Fürchterliches Szenario

Während William Keane in einem vielbeachteten Gerichtsprozess erreichen will, dass die Sklaverei aus der amerikanischen Geschichte gestrichen wird, bricht plötzlich auf der ganzen Welt die Katastrophe aus. Die wichtigsten Bibliotheken und Archive gehen in Flammen auf, Historiker und Zeitzeugen der schlimmsten Epochen der jüngeren Vergangenheit werden ermordet.
Maggie Costello wollte zwar kürzer treten, ist aber schnell bereit, sich den Geschehnisse zu widmen, als sie darum gebeten wird. Schnell wird ihr klar, hier ist eine konzertierte Aktion in vollem Gange und das Ziel ist so offensichtlich wie schrecklich: Das historische Gewissen der Welt soll ausgelöscht werden, damit die Menschheit auf einem weißen Blatt neu anfangen kann.

Die Wahrheit ist, und das finde ich nach Der Präsident wirklich schwer, für mich zweifellos der bislang schlimmste Teil der Serie um Maggie Costello. Und damit meine ich nicht die Qualität des Thrillers. Die ist extrem gut, aber uff, ich habe gelitten wie bei wenigen fiktionalen Büchern. Die Geschichte und die Implikationen, die sie mit sich bringt und die Bourne schonungslos ausarbeitet, sind für mich dermaßen furchtbar, da hat das Lesen viel mit mir gemacht. Alleine die Vorstellung, es würde reichen, die historischen Belege für Sklaverei oder die Shoah zu vernichten, um sie juristisch ungeschehen, weil unbelegbar, machen zu können … wie grausam ist das? Da hilft es auch nicht, dass Die Wahrheit, erschienen 2020, natürlich wieder nah an der aktuellen Lage in den USA geschmiedet ist und diese ganze Geschichte, die Herleitungen, die Argumentationen – Crawford McNamara (aka. Steve Bannon) und William Keane halten seitenlange Monologe, die 1:1 aus dem Lager des derzeitigen Präsidentendarstellers (Herrje, schon wieder) stammen könnten – weit weniger fiktional scheinen, als sie sollten.

Um das also kurz zu fassen, Bourne hat ein Szenario konstruiert, das extrem gut ist, weil es extrem fürchterlich ist. Er verstärkt das, indem er es recht nahtlos in die aktuelle politische Lage in den USA einbettet. Dadurch konnte ich Die Wahrheit nicht alleine als Unterhaltungsliteratur lesen, auch wenn es zweifellos in die Sparte gehört. Das Buch ist auch eine Mahnung, rote Linien insbesondere nach Rechts zu ziehen und sie dann auch vehement zu verteidigen.

Als quasi notwendigen Nebeneffekt spielt Bourne eine Debatte durch, die, abseits eines wissenschaftlichen Diskurses, wahrscheinlich auch nur in rechten und – könnte ich mir thematisch vorstellen – höchstens noch libertären Kreisen existiert: Ginge es den Gesellschaften der Menschheit insgesamt besser, wenn sie nicht mit ihren Altlasten leben müssten? Kriege, Vorurteile, Unterdrückungsmechanismen … vieles davon begründet sich in hohem Maße auf Geschehnisse in der Vergangenheit. Gäbe es die im kollektiven Bewusstsein nicht mehr, könnte dann jede Generation nicht wieder bei Null anfangen? Bournes Antwort auf die Frage ist ein eindeutiges Nein, das zeigt sich alleine schon aus den Motiven, aus denen die Verfechter der These im Buch agieren. Denn die liegen quasi immer in einer Machtposition, die von unbequemen Altlasten bereinigt werden soll. Um es deutlicher zu sagen: Weiße, gut situierte Menschen. Ihnen gegenüber stehen Marginalisierte, die um die effektive Anerkennung ihrer Vergangenheit kämpfen.

An der Stelle möchte ich einen kleinen Kritikpunkt anbringen: Relativ früh im Buch unterhält sich Maggie mit Mike Jewel, dem Schwarzen Wortführer einer Anti-Hass-Kundgebung. Er duzt sie, sie siezt ihn. Das Setting fällt mir öfter auf und es stört mich, denn bei Übersetzungen aus dem Englischen basiert es immer auf einer Interpretationsleistung, schließlich existiert der Unterschied zwischen formeller und informeller Anrede im Original nicht. Es mag Kontexte geben, in denen eine Differenzierung auf dieser zusätzlichen Ebene inhaltlich Sinn macht, wahrscheinlich ist das sogar meistens der Fall. Hier haben wir mit Maggie aber eine Figur, zu der dieses Beharren auf einer formellen Anrede gegen die informelle ihres Gegenübers nicht passt. Und dann sollte man es auch lassen, weil es eine Wertung der Charaktere beinhaltet, die, jedenfalls in der Schärfe, im Original nicht vorhanden war.

Nevertheless, lest Die Wahrheit! Das Buch ist nicht nur als Teil der Serie um Maggie Costello super, es bearbeitet auch ein Thema, das leider sehr in die aktuelle Zeit passt. Bourne warnt, und das laut. Er mag die Sache überziehen – dafür ist es Fiktion -, aber geschichtsrevisionistische Bemühungen gibt es und sie sind gleichermaßen eine große Gefahr.

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