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Isabella_

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Cover des Buches Mon Chéri und unsere demolierten Seelen (ISBN: 9783462001198)

Bewertung zu "Mon Chéri und unsere demolierten Seelen" von Verena Roßbacher

Mon Chéri und unsere demolierten Seelen
Isabella_vor 2 Jahren
Kurzmeinung: Ein humorvolles Buch, das von spannungsvollen Ambivalenzen lebt, dafür aber auf Figurenebene leider oberflächlich bleibt.
Ambivalenzen aushalten?

Ehrlich gesagt: Ich hätte wahrscheinlich nicht so schnell zu Mon Chérie und unsere demolierten Seelen gegriffen, wenn ich zuerst mit Cover, Klappentext oder auch nur dem Titel konfrontiert worden wäre. Tatsächlich geriet ich durch mehrere Zufälle (unähnlich denen in Charly Benz’ Leben) an eine Leseprobe des Romans und war ganz begeistert von dem Prolog, in dem sich die Erzählerin an literarischen Größen wie Peter Handke und Karl Ove Knausgård, also an dem männlichen Ego schlechthin, abarbeitet.

Sex, Träume, jemand, den wir auf dem Klo betrachten – falls eine dieser Rubriken für Sie sozusagen den Grundpfeiler guter Literatur bildet, sollten Sie dieses Buch schleunigst wieder weglegen. […] Kaufen Sie sich was von Knausgård oder so, da sind Sie auf der sicheren Seite, Masturbation ohne Ende, Sex auf jeder Seite, und sicher träumt er ab und an was Unsinniges oder hockt auf dem Klo, das kann ich nicht mit letzter Sicherheit sagen, ich habe es naturgemäß nie zu Ende gelesen. (S. 8)

Diese Pseudo-Programmatik – die noch mehr Witz erhält, wenn man sie nach Beenden des Buchs noch mal liest – setzt den Grundton für den Rest des Buchs. Mon Chérie und unsere demolierten Seelen ist vordergründig humorvoll, enthält dabei aber mehr oder weniger große Körnchen Wahrheit. Selbst Themen, die man gefühlt nur ernst nehmen kann (wie zum Beispiel Krebs), oder Themen, die man vielleicht nicht immer so ernst nimmt (Naturheilkunde), werden mit derselben humorvollen Aufrichtigkeit behandelt. Das muss man mögen, und wenn man es nicht auf der Stelle mag (wie ich), dann ist es im Falle von Mon Chérie und unsere demolierten Seelen ratsam, diese Art der Weltwahrnehmung einmal auszuprobieren. Leider hat das bei mir erst nach der Lektüre so richtig eingesetzt, als ich Verena Roßbacher (im Gespräch mit Tilmann Rammstedt) im Literaturhaus Berlin über den Roman sprechen hörte. Als Rammstedt sie auf den Humor ansprach, und wie er eben mit all diesem Themen-Wirrwarr zusammengehe, erwiderte sie (sinngemäß), dass Humor kein schlichtes Wegwinken, sondern vielmehr auch eine Form der durchaus ernsthaften Auseinandersetzung sei und man somit sehr vieles auch mit Humor angehen könne. Um es mit den Worten Mo Gablers, eines der drei Männer in Charlys Leben, zu sagen:

“[…] Glauben Sie mir, diese Kinder sind nicht mehr in der Lage, Ambivalenzen auszuhalten oder etwas im historischen Gesamtkontext zu sehen, sie kennen nur gut und böse, schwarz und weiß, richtig oder falsch. Sie wollen sich mit all dem, was dazwischen ist, nicht beschäftigen, und dabei ist praktisch alles dazwischen.” (S. 221)

Das macht Mon Chérie und unsere demolierten Seelen trotz seiner Länge von 500 Seiten sehr kurzweilig – aber für so viel Kurzweiligkeit ist das Buch dann doch ein bisschen zu lang, wenn das Sinn macht. Denn auch wenn ich Roßbachers Praxis, dass man mit Humor ziemlich viel angehen kann, mittlerweile unterschreiben würde, ist es schwierig, das für eine Romanlänge aufrechtzuerhalten. Dann ist das Buch sehr viel damit beschäftigt, Ambivalenzen aufrechtzuerhalten, und die Figurengestaltung bleibt beispielsweise auf der Strecke. Dem kann man natürlich entgegenhalten, dass Typen – also eben keine ausgeformten Figuren – in humoristischen Gattungen üblich sind. Für mich hätte es etwas mehr Entwicklung auf dieser Ebene gebraucht. Die drei Männer in Charlys Leben konnte ich nur aufgrund äußerer Merkmale auseinanderhalten. Was genau sich zwischen ihnen und Charly entwickelt, wird nicht erzählt, wodurch Charlys Verhalten immer etwas undurchsichtig bleibt. Einige Nebenfiguren verwechselte ich wegen ihrer oberflächlichen Charakterisierung bis zum Ende. Das wird dann zum Problem, wenn tatsächlich mal ein Thema angesprochen wird, bei dem der Ernst überwiegt, oder aber der Roman versucht, neben dem Humor andere Emotionen anzuspielen. In beiden Fällen war ich dann distanzierter von der Geschichte, als es mir eigentlich lieb gewesen wäre, sodass der Stoff beinahe unpassend auf mich wirkte.

Das heißt nicht, dass ich Mon Chérie gar nichts abgewinnen konnte oder es nicht auch Szenen gab, die mein Herz erweichten. Gerade das Thema found family wird in dem Roman sehr groß gemacht und konnte mich, trotz der fehlenden Figurentiefe, doch irgendwie packen. Außerdem bin ich auf einer übergreifenden Ebene sehr beeindruckt von den Ambitionen des Romans, der sich an Traditionssträngen und Genres bedient, wie es ihm passt. Letztlich hätte es für mich nach diesem starken Beginn vielleicht doch etwas weniger Ambivalenzen gebraucht. So habe ich einen Großteil der Lektüre damit verbracht, zu rätseln, was genau mir das Buch gerade sagen will. Dazwischen immer ein bisschen Geschmunzel. Aber vielleicht ist auch gerade das der Punkt des Romans.

2,5 Sterne – danke an Kiepenheuer & Witsch für das Rezensionsexemplar!

Cover des Buches Der Brand (ISBN: 9783257070484)

Bewertung zu "Der Brand" von Daniela Krien

Der Brand
Isabella_vor 3 Jahren
Kurzmeinung: Statt dem versprochenen vieldimensionalen Porträt einer Ehekrise schien der Roman selbst nicht so recht zu wissen, was er erzählen wollte.
Enttäuschend

Nachdem mir vor zwei Jahren zufällig Daniela Kriens Die Liebe im Ernstfall in die Hände fiel und ich es sehr gerne las, wusste ich, dass ich den nächsten Roman der Autorin unbedingt lesen müsste. Nur entpuppte sich Der Brand auf beinahe jeder Ebene als herbe Enttäuschung.

Die Geschichte fängt gut an: Der Konflikt rund um Rahel und Peter wird vorgestellt, man ist irgendwie auf Rahels Seite, aber vor allem fragt man sich, was passiert ist, dass diese zwei Menschen nach all den Jahren so lieblos miteinander umgehen. Die Lektüre war beklemmend, aber dicht und atmosphärisch, ich erkannte den Schreibstil Kriens sofort wieder. Sie schreibt auf eine sehr schlichte, schöne Art und Weise, die mich persönlich förmlich durch ihre Werke fliegen lässt. Das ist aber schon irgendwie alles, was ich Positives über den Roman sagen kann – denn nach dieser Exposition geht es nur noch bergab, sodass ich am Ende des Romans mit mehr Fragezeichen dastand, als ich ihn begonnen hatte.

Zuallererst: Der Klappentext erzählt nur einen Bruchteil des Romaninhalts. Was ich oben in der Inhaltsangabe umschrieben habe, deckt sich grob mit der Ankündigung des Verlags. Wer also eine Ehegeschichte erwartet (wie ich), wird enttäuscht werden, denn, ja, es geht hin und wieder um Rahels und Peters Ehe, vor allem aber auch um ihre Kinder, und um ihre Freundin Ruth und deren Ehemann, über Berufsprobleme, über alle erdenklichen gesellschaftlichen Themen, was ist eigentlich Liebe?, und so weiter. Auf dem Papier, ähm, Blog, klingt das wie ein vielfältiger, komplexer Roman – nur wird keiner dieser Aspekte im Roman auch nur ansatzweise mit der Tiefe behandelt, die er verdienen würde. Schlimmer: Sobald man mal etwas tiefer bohren könnte, springt der Roman oftmals zum nächsten Thema.

Das ist im besten Fall nervig, wenn keine der Figuren auch nur ansatzweise Tiefe entwickelt; im schlimmsten Fall entwickelt dieses thematische Laissez-faire einige höchst dubiose Auswüchse. So wird am Anfang des Romans ein Streit zwischen Rahel und Peter mit folgendem Auslöser beschrieben: Peter ist Dozent, er unterrichtet ein Seminar zum Thema ‚Geschlechterrollen in der Literatur des 19. Jahrhunderts‘; daraufhin bricht ein Tumult unter den Studierenden aus, „dass sowieso nur Männer- und Frauenklischees dabei herauskämen.“ (S. 46) Schlimmer noch: Es gibt eine nicht-binäre Person im Kurs, die mehrmals von Peter mit „Frau …“ angeredet wird, weil das auf der Namensliste so steht; Rahel empfindet seinen Frust nicht nach, sondern weist ihn zurecht. Um das BS-Bingo komplett zu machen, löst die nicht-binäre Person auch noch einem Shitstorm in Internet aus – aber das Schlimmste, betont Peter, sei, dass seine Frau ihm in den Rücken gefallen ist.

Mir geht es an dieser Stelle nicht darum, auszudiskutieren, ob Figuren in einem Buch moralisch korrekt handeln müssen (nein) oder ob Peters Verhalten an dieser Stelle richtig ist. Was wir hier haben, ist der ohnehin schon seit Jahren ermüdend polarisierende Diskurs der geschlechtergerechten Sprache, der hier schlichtweg für ein Plot Device benutzt wird: Nämlich um zu zeigen, dass Rahel Peter, als es hart auf hart kam, nicht unterstützt hat. Aber das genügt nicht, um die Lektüre dieser Seiten abzuschütteln. Selbst wenn Rahel vordergründig die nicht-binäre Person verteidigt, hinterlässt sowohl die hysterische Darstellung ebendieser Person als auch die generelle Empörung der Studierenden einen sehr, sehr bitteren Nachgeschmack. Es fällt schwer, nicht den Eindruck zu gewinnen, dass diese Passage von einer Person geschrieben wurde, die ein ‚aktuelles‘ Thema verwenden wollte, aber sich selbst nicht gründlich damit auseinandergesetzt hatte. (Again – man muss etwas nicht erlebt oder studiert haben, um sich sensibel damit auseinanderzusetzen.)

Solche Augenblicke gibt es in dem Buch immer wieder: Augenblicke, in denen riesige Diskurse (von der richtigen Erziehung bis hin zu – Achtung – der „Idee, dass die Seuche nichts anderes sei als ein längst fälliges Korrektiv“, S. 165, ja, es geht um die Corona-Pandemie) über wenige Seiten scheinbar abgehandelt, dabei aber vorrangig als Plot Device eingesetzt werden. Wenn nicht letzteres, dann um zu zeigen, dass Rahel und Peter zwar nicht immer die einfachste Ehe haben, aber sie können sich immer noch über geistige Themen unterhalten! Ich werde an der Stelle nicht versuchen, meine Verbitterung zurückzuhalten. Es gibt später im Buch eine Stelle, wo Rahel, die Therapeutin ist, gedanklich aufzählt, was sie an ihren Patient*innen alles so nervt, um dann zu schließen, dass „[s]atte Zeiten […] schwache Menschen hervor[bringen]“ – immerhin, „ohne sich selbst davon auszunehmen.“ (S. 224) Autsch. Einfach autsch.

Mit derselben Willkürlichkeit, mit der all diese Themen angeschnitten werden, werden auch die Figuren charakterisiert bzw. definiert. Nicht nur wird mehr telling als showing betrieben, sondern Charakteristika so abrupt aufgezeigt und zugeschrieben, dass sie mich maximal verwirrten. Wenn ich 250 Seiten über eine Figur lese und es dann am Ende plötzlich heißt, dass sie ja immer alle Entscheidungen im Alleingang treffe und ganz schön dominant sei, warum ist mir das dann nicht schon vorher aufgefallen? Das ist meiner Meinung nach einfach schlechtes Handwerk, und es führte dazu, dass es spätestens am Ende keine Person mehr gab, die mich auch nur noch in irgendeiner Form interessierte. In ihrer Danksagung schreibt die Autorin, dass sie den Roman letztes Jahr in einem Sommerhaus von Freund*innen begann, was ihn rundum zu einem Pandemie-Projekt zu machen scheint: Beengt, wirr, und ohne Perspektive.

Cover des Buches Unsichtbare Frauen (ISBN: 9783442718870)

Bewertung zu "Unsichtbare Frauen" von Caroline Criado-Perez

Unsichtbare Frauen
Isabella_vor 4 Jahren
Kurzmeinung: Was Caroline Criado Perez mit "Unsichtbare Frauen" geleistet hat, ist auf jeder Ebene beeindruckend, wenn auch mit kleinen Makeln.
Ein Grundlagenwerk

Zugegeben: Es ist irgendwie schwierig, ein Buch zu rezensieren, das sich vor allem mit Daten auseinandersetzt, die in über 1300 Fußnoten nachgewiesen werden. Denn wie Criado Perez lang und breit beweist, ist die systematische Benachteiligung von Frauen bei Datenerhebungen ein Fakt, der von den Datenerhebenden, aber auch von den Auswertenden anerkannt werden muss. Nur dann kann eine Welt geschaffen werden, die für alle Geschlechter gerechter ist. Ihr Ausgangsbefund ist dabei denkbar simpel: Die Gender Data Gap

ist schlicht und einfach Ergebnis eines Denkens, das seit Jahrtausenden vorherrscht und deshalb eine Art Nicht-Denken ist. Sogar ein doppeltes Nicht-Denken: Männer sind die unausgesprochene Selbstverständlichkeit, und über Frauen wird gar nicht geredet. Denn wenn wir „Mensch“ sagen, meinen wir meistens den Mann.

(Caroline Criado Perez: Unsichtbare Frauen: Wie eine von Männern gemachte Welt die Hälfte der Bevölkerung ignoriert. München 2020, S. 12.)

Criado Perez argumentiert (und erfindet damit gewiss nicht das Rad neu), dass in der Gleichsetzung von Mensch und Mann ersichtlich wird, dass der Mann der Standard ist und die Frau als Abweichung behandelt wird. Dies führt dazu, dass Studien entweder nur an Männern durchgeführt werden, Ergebnisse nicht geschlechterdifferenziert aufgearbeitet werden oder sogar argumentiert wird, die Erfassung von Frauen sei aufgrund hormoneller Schwankungen u. Ä. zu ‚kompliziert‘. Es ist daher das Anliegen der Autorin, zu „zeigen, dass das Fehlen der weiblichen Perspektive eine unabsichtliche Verzerrung zugunsten der Männer befördert, die sich selbst […] als ‚geschlechterneutral‘ begreifen.“ (Criado Perez: Unsichtbare Frauen, S. 13)

Und, wie gesagt, gezeigt wird das mehr als genug, in allen denkbaren Lebensbereichen: Ob bei der Stadtplanung oder Naturkatastrophen, bei der Wirkweise von Medikamenten, der Bauart von Schutzwesten oder natürlich in Hinblick auf Care-Arbeit – überall werden Frauen unterschiedlich stark benachteiligt, und beinahe überall könnte diese Benachteiligung revidiert oder zumindest reduziert werden, wenn relevante Daten erhoben und bestehende genützt werden würden. (Es könnte natürlich auch helfen, wenn man Frauen in derartige Entscheidungsprozesse miteinbeziehen würde.) Trotz der zahlreichen Fußnoten geschah es dennoch hin und wieder, dass ich über ein direktes Zitat ohne Nachweis stolperte und nicht sicher war, auf welche Quelle sich Criado Perez bezieht. Da hätte ich mir vielleicht (noch) etwas mehr Transparenz gewünscht.

Zusätzlich hat mir die Übersetzung zuweilen Kopfzerbrechen bereitet. Die Übersetzerin Stephanie Singh arbeitet beim Gendern nicht einheitlich, nutzt manchmal Sternchen, manchmal Schrägstriche oder Paarformen. Außerdem war manchmal nicht eindeutig, ob die maskuline Form verwendet werden sollte, oder ob sie selbst ins generische Maskulinum gerutscht ist. Bei zwei Interviewpartner*innen der Autorin hat die Übersetzerin zumindest indiziert, dass die Geschlechter nicht aus dem Original hervorgingen. Generell hätte ich mir – gerade bei so einem Thema – etwas mehr Fingerspitzengefühl gewünscht.

Apropos Fingerspitzengefühl: Leider verfällt das Buch der Geschlechterbinarität. Zwar kann ich mir vorstellen, dass es zu Menschen jenseits der Geschlechterbinarität noch weniger Daten gibt, aber das wäre eigentlich umso mehr ein Grund gewesen, darauf hinzuweisen – gerade, weil derartig Betroffene meist von mehreren Diskriminierungen auf einmal betroffen sind und derartige Daten dringend benötigt werden.

Mein letzter (marginaler) Kritikpunkt bezieht sich darauf, dass die Kapitel manchmal etwas willkürlich angeordnet scheinen. Zwar hat Criado Perez übergeordnete Kategorien wie „Alltagsleben“, „Am Arbeitsplatz“ u. Ä. gewählt, aber ich hatte dann doch immer wieder das Gefühl, dass sie thematisch sehr springt, oftmals sogar in einem Absatz. Dadurch, dass sie so viele Studien zitiert, bin ich auch schnell mal durcheinander gekommen und hatte Schwierigkeiten, mich daran zu erinnern, was in welchem Kapitel passiert. Das soll jedoch ihre Arbeit in keiner Weise mindern – denn was Criado Perez mit Unsichtbare Frauen vorlegt, ist ein umfassender Katalog, wenn nicht gar eine Grundlagenarbeit von immenser Wichtigkeit. Klar, die Lektüre ist frustrierend, denn neben den zahlreichen Schwachstellen finden sich nur wenige positive Erfolge – aber deshalb ist es umso wichtiger, darüber zu informieren und ein Bewusstsein für die zahlreichen Probleme zu schaffen. Unsichtbare Frauen ist damit in beinahe jeglicher Hinsicht augenöffnend.

Danke an btb für das Rezensionsexemplar.

Cover des Buches You are (not) safe here (ISBN: 9783423740555)

Bewertung zu "You are (not) safe here" von Kyrie McCauley

You are (not) safe here
Isabella_vor 4 Jahren
Kurzmeinung: Ein auf jeder Ebene gelungenes Jugendbuch, das sich komplex und sensibel mit häuslicher Gewalt auseinandersetzt.
Ein großartiges Debüt!

You are (not) safe here hatte ich ehrlich gesagt nicht wirklich auf dem Schirm gehabt, bis ich vom dtv Verlag damit überrascht wurde. Titel und Cover machten den Eindruck eines Psychothrillers auf mich, aber als ich den Klappentext las, wurde ich hellhörig: Es wird explizit erwähnt, dass das Buch von häuslicher Gewalt handelt. Was die Krähen damit zu tun haben und wieso das Päckchen vom Verlag ebenfalls ein paar schwarze Federn beinhaltete, erschloss sich mir noch nicht ganz. Ich würde jedoch schnell merken, dass der erste Eindruck eines Psychothrillers gar nicht so falsch lag – nur mit dem Unterschied, dass die Gefahr nicht von außen, sondern vom Inneren kommt. Von einem Ort, den man eigentlich mit Geborgenheit verbinden sollte, zumindest mit einer gewissen Art von Sicherheit: das eigene Zuhause.

Aber häusliche Gewalt ist eben nicht nur rohe Gewalt. Es geht dabei um Aushandlungen von Macht, um Abhängigkeitsverhältnisse, und in den meisten Fällen ist sie damit unmittelbar mit Geschlechterfragen verknüpft. McCauley arbeitet diese Komplexität beeindruckend auf, indem sie nicht grundsätzlich gegen Männer polemisiert oder Frauen in den Schutz nimmt, sondern die gesellschaftliche Reaktion auf Fälle häuslicher Gewalt (gegen Frauen) und damit sowohl die Rollen von Männern (im Sinne toxischer Männlichkeit) als auch von Frauen (als Mittäterinnen) hinterfragt. Sie schreibt nicht nur von den Tätern, sondern auch von denjenigen, die bei häuslicher Gewalt wegschauen und denjenigen, die es kleinreden. Allein damit gewann das Buch schon einen Platz in meinem Herzen.

Überhaupt gefiel mir, wie reich das Buch an Diskussionsstoff ist. Leighton setzt sich im Rahmen ihres Literaturkurses und ihrer Tätigkeit bei der Schülerzeitung mit diversen Klassikern, aber auch mit Krähen auseinander, wobei ihre Erkenntnisse oder Meinungen geschickt in den Text eingeflochten werden, ohne dass es plakativ wirkt. Im Gegenteil: Sie lassen sich immer wieder mit dem Geschehen rund um Leightons Vater zusammenbringen. Dadurch entsteht ebendiese Rückbindung an die oben erwähnten Diskurse, aber auch Diskussionen unter den Charakteren, wenn beispielsweise Leighton sich im Unterricht gegen einen sexistischen Kommentar ihres Mitschülers verteidigt und in der Klasse eine Feminismus-Debatte ausbricht.

Für die Repräsentation der häuslichen Gewalt kann ich nicht direkt sprechen, aber McCauley geht in ihrem Nachwort darauf ein, dass es sich bei You are (not) safe here um ein Buch handelt, das sie selbst als Jugendliche gebraucht hätte. Das liest man, finde ich, sowohl in der Darstellung der Machtkonstellationen im Haus als auch in der Hoffnung, die sich immer wieder anbahnt. Obwohl das Buch ausschließlich aus Leightons Perspektive verfasst ist, wird ersichtlich, dass es bei häuslicher Gewalt nicht damit getan ist, die Polizei zu rufen, und dass insbesondere die Partner*innen der Täter*innen diese nicht „einfach“ verlassen können, sondern komplexe Abhängigkeiten vorherrschen. Während Leightons Mutter die Entschuldigungen ihres Ehemannes wiederholt hoffnungsvoll annimmt und von Leighton noch am Anfang des Buchs gar nicht erst auf eine mögliche Trennung angesprochen werden will, ist auch das Verhältnis zwischen Leighton, ihren Schwestern und ihrem Vater nicht ausschließlich von Angst und Hass geprägt. Indem sie keine einfache Lösung anbietet, trifft die Autorin genau den Nerv.

Bei der Repräsentation der häuslichen Gewalt kommen auch endlich die Krähen ins Spiel. Klingt abstrus, doch die Antwort ist magischer Realismus. Ich hatte nicht damit gerechnet (bin eigentlich auch immer unsicher, ob ich das in Büchern mag oder nicht), war aber positiv überrascht. Lediglich zum Ende hin wurde es mir ein wenig zu viel, aber die Atmosphäre, die diese magischen Elemente durch das Buch hinweg erzeugten, war wirklich grandios und trug zu der Darstellung des Konflikts maßgeblich bei. Ich will nicht zu viel verraten, außer, dass es sich bei Leightons Zuhause um ein Haus handelt, das die Wut ihres Vaters widerspiegelt, und bei den Krähen um sehr schlaue Kreaturen, die eine größere Rolle in dem Geschehen spielen als erwartet.

Ihr merkt es schon: You are (not) safe here hat mich ungemein packen und begeistern (solche Verben fühlen sich bei solchen Themen immer falsch an) können. Als würde nicht all das, was ich bisher erwähnt habe, für ein großartiges Buch genügen, war ich auch unglaublich positiv überrascht von der Liebesgeschichte. Relativ bald lernen sich Leighton und das Love Interest Liam kennen, und was sich zwischen den beiden entwickelt, könnte sogar die gesündeste Beziehung sein, die ich jemals in YA gelesen habe? Sie kommunizieren darüber, was sie wollen, respektieren die Grenzen des bzw. der anderen, sie lernen sogar, miteinander zu streiten, ohne ein riesiges, toxisches Drama vom Zaun zu brechen, und Liam ist einfach eine unglaubliche Unterstützung, sobald sich Leighton ihm anvertraut. (Ich bin immer noch ein wenig baff.) Unterstützung kriegt Leighton aber nicht nur von Liam, sondern auch von seiner Familie, die sie kennen und lieben lernt, und von ihrer besten Freundin Sofia. An irgendeinem Punkt des Romans stellt man fest, dass sie ein riesiges Netz aus Liebe um sich herum hat und das löst trotz der furchtbaren Situation, die sich in ihrem Zuhause abspielt, ein seltsam wohliges, hoffnungsvolles Gefühl aus.

Dass You are (not) safe here Kyrie McCauleys Debüt ist, merkt man bestenfalls an kleineren inhaltlichen bzw. stilistischen Ungereimtheiten und dem minimal überstürzten Ende, was alles aber an meiner uneingeschränkten Leseempfehlung nichts rütteln kann. Sie behandelt das Thema der häuslichen Gewalt auf eine unglaublich komplexe und sensible Weise und konzipiert den Plot so geschickt, dass man das Buch kaum aus der Hand legen kann, und bringt damit eine ordentliche Portion frischen Wind in das Young Adult-Genre. Wirklich, wirklich großartig!

Cover des Buches Die drei Leben der Hannah Arendt (ISBN: 9783423282086)

Bewertung zu "Die drei Leben der Hannah Arendt" von Ken Krimstein

Die drei Leben der Hannah Arendt
Isabella_vor 4 Jahren
Kurzmeinung: Leider liegt der Fokus oft mehr auf den Männern in Arendts Leben als auf Arendt selbst.
Enttäuschend

Das mit Arendt und mir war purer Zufall: Letztes Semester hatte ich ein Seminar, das sich mit Repräsentationen des Bösen auseinandersetzte, und für eine Stunde hatte der Dozent ein Kapitel aus Arendts Elementen und Ursprüngen totaler Herrschaft (1951; dt. 1955) vorgesehen. Der Text beeindruckte mich ungemein – die Präzision, mit der sie schrieb, die Aktualität ihrer Worte -, und noch vor Ende des Semesters hatte ich Die Freiheit, frei zu sein (ca. 1963; dt. 2018 posth.) gelesen und Über das Böse (1965; dt. 2006 posth.) noch dazu. (Für meine mündliche Prüfung war ich quasi übervorbereitet.) Arendt ließ mich nicht mehr los. Egal, was ich von ihr las, ich war immer wieder auf ein Neues überrascht, wie zugänglich ihre Worte doch waren. Dass sie sich nicht in Abstraktionen verloren, sondern ich tatsächlich etwas für meine Gegenwart daraus gewinnen konnte.

Lange Rede, kurzer Sinn: Als ich hörte, dass dtv eine Graphic Novel zu Hannah Arendt publizieren würde, war ich ziemlich aus dem Häuschen. Ich war gespannt, mehr über ihre biographischen Hintergründe zu lernen; gleichermaßen hoffte ich, dass sie dadurch neuen Leser_innen nahegebracht werden könnte. Ken Krimstein vermerkt in seinem Nachwort, er wollte „eine neue Leserschaft an Hannah Arendts bewegtes Leben heranführ[en]“ und sie dazu bringen, „sich direkt mit ihrem Denken auseinanderzusetzen.“ (Krimstein, Die drei Leben der Hannah Arendt, S. 234) Leider habe ich auch Tage nach Beenden der Graphic Novel immer noch nicht das Gefühl, dass er auch nur eines der beiden Ziele richtig erreicht hat.

Wenn ich ehrlich bin, erweckt ein Großteil der Graphic Novel den Eindruck, konsequent durch einen Male Gaze geschrieben und illustriert geworden zu sein. Krimstein erachtet es für erwähnenswert, dass Arendt nach ihrer Pubertät aus ihrem „Kokon“ (S. 25) schlüpft und stellt sie dementsprechend aufreizend dar. Auf derselben Seite muss er erwähnen und darstellen, mit wem und wann sie ihre Jungfräulichkeit verloren hat. Dass Arendt bei Jaspers studiert, wird in einem einzigen Panel erwähnt, was sehr verwunderlich ist, wo sie doch in ihrem berühmten vielzitierten Interview (1964) mit Günter Gaus damit schließt, dass Jaspers nicht nur ihren Zugang zu den Begriffen der Vernunft und der Freiheit entscheidend geprägt hat, sondern auch eine Art Vaterfigur für sie darstellte, nachdem ihr Vater früh gestorben war. Dass sie bei ihm ihre Dissertation zum Liebesbegriff bei Augustin schreibt – mit 22 Jahren! -, wird nicht thematisiert.

Überhaupt ist es faszinierend, wie wenig es in einer Graphic Novel über Arendts Leben tatsächlich um Arendt geht. Im Vordergrund steht neben einer beachtlichen Menge Namedropping all der ‚wichtigen‘ Männer, die ihr jemals begegnet sind, vor allem Martin Heidegger. Krimstein setzt sich dabei ausführlich mit Heideggers Philosophie auseinander (wenn auch so kryptisch, dass ich die Referenzen erst dann verstand, als ich in einem Seminar darüber lernte), vor allem aber mit der Beziehung zwischen Heidegger und Arendt. Neben zahlreichen Sexszenen – wo natürlich nur Arendt nackt gezeigt wird und Heidegger sittlich verhüllt bleibt – lenkt Krimstein vor allem das Augenmerk darauf, dass Arendt, egal, wann wie wo, nie von Heidegger loskommt, sich stets nach ihm sehnt, ihre Bedeutung von ihm abhängig macht. In demselben Panel, welches enthüllt, dass ihre Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft in über 40 Sprachen übersetzt wurden, wundert sie sich, nichts von Heidegger gehört zu haben, und fragt sich ernsthaft, ob ihr „Denken nicht weit, nicht tief genug“ (S. 171) ging. Dass Arendt lange mit ihrer Liebe zu Heidegger gerungen hat, ist richtig, aber warum sollte man ausgerechnet in diesem Moment den Fokus darauf legen? Damit wird das Bild einer Frau gezeichnet, die sich selbst in ihren größten Erfolgen einem Mann unterordnet, ihm hinterherweint – ein Bild, und das ist hier das ausschlaggebende Problem, das Krimsteins Interpretation und Fokussetzung entspringt und in seiner Häufigkeit und Nachdrücklichkeit ganz schön verzerrend wirkt und bei mir einfach nur einen bitteren Nachgeschmack hinterlassen hat.

Arendt tritt damit in einem Buch, das vorrangig ihrem Leben gewidmet werden soll, größtenteils hinter den Männern in ihrem Leben zurück. Das geht so weit, dass Krimstein sogar mit der Ich-Perspektive bricht, um zu Heideggers Perspektive zu wechseln und darzustellen, wie sehr doch auch er sich nach Arendt sehnt. Zusammen mit einem Panel, in welchem Arendt sich Heidegger als Superheld imaginiert (vgl. S. 197), grenzt die Heidegger-Darstellung schon gefährlich nahe an eine Heroisierung. (Was nicht heißen soll, dass man Heideggers Werk aufgrund seines Bekenntnis zum NS nicht mehr rezipieren soll; aber es gibt einen Unterschied zwischen dem Werk und der Person, und bei Krimstein sind die Darstellungen längst nicht mehr klar zuzuordnen.)

Was die Lektüre doppelt bitter macht, ist die Tatsache, dass Krimstein, wenn er sich denn mal Arendts Werk widmet, dies wirklich gut tut. Insbesondere von ihrer Vita activa (1958; dt. 1960) werden viele Kerngedanken aufgegriffen, aber auch der Eichmann-Prozess (1961), dem sie als Journalistin beiwohnte, wird präzise und kompetent erklärt. Dadurch liegt der Eindruck nahe, dass er sich bewusst dagegen entschieden hat, den Fokus stärker auf sie zu legen. Und das … ist traurig.

Krimsteins Zeichenstil gefällt mir grundsätzlich gut; er hat etwas Rustikales an sich, etwas Gehetztes, das gut zu der Geschichte passt. Leider sieht es manchmal so aus, als wären manche Zeichnungen mit copy und paste dupliziert worden, die dadurch etwas lieblos wirken. Krimstein schafft es jedoch, der Graphic Novel eine Atemlosigkeit zu verpassen, wodurch sie sich schnell lesen lässt. Und selbstverständlich gibt es die seltenen Momente, in denen Arendt im Vordergrund steht, wagemutige Fluchten auf sich nimmt und ihre eigenen philosophischen Ideen entwickelt, wo man als Leser_in daran erinnert wird, was für eine über die Maßen beeindruckende Denkerin Arendt doch war. In Anbetracht der anderen Kritikpunkte ist das jedoch ein schwacher Trost.

Cover des Buches Die kleinen Wunder von Mayfair (ISBN: 9783426226728)

Bewertung zu "Die kleinen Wunder von Mayfair" von Robert Dinsdale

Die kleinen Wunder von Mayfair
Isabella_vor 5 Jahren
Kurzmeinung: Eine schwache erste Hälfte, eine unglaublich starke zweite Hälfte – definitiv ein originelles, berührendes Buch.
Durchmischte Gefühle

Eins vorneweg: Würde ich nur die zweite Hälfte von Die kleinen Wunder von Mayfair bewerten, wären es fünf Sterne geworden, oder zumindest sehr, sehr gute vier Sterne. Denn die Qualitätsunterschiede zwischen der ersten und der zweiten Hälfte sind so gravierend, dass ich das Buch in den ersten 200 Seiten gut und gerne beiseite gelegt und bis in alle Ewigkeit vergessen hätte. Der Haken des Ganzen ist, dass ich mir nicht sicher bin, ob ich da die Einzige bin – da ich das Buch in einer Lovelybooks-Leserunde gelesen und diskutiert habe, ist mir aufgefallen, dass die anderen durchmischten Meinungen durchgehend die zweite Hälfte kritisierten und die erste bevorzugten.

Die Freuden von subjektivem Empfinden.

Es bleibt mir also wohl oder übel übrig, zu versuchen, zu benennen, wie das Buch auf mich seinen Zauber entfaltet hat – warum ich beim Lesen der ersten zweihundert Seiten schrecklich gelangweilt war und beim Lesen der letzten hundert Seiten fast durchgängig Tränen in den Augen hatte. Die Gründe dafür sind für mich schwer zu fassen.

Robert Dinsdale führt den/die Leser/in durch viele, viele Jahre – beinahe ein halbes Jahrhundert, von 1906 bis 1953. Manche Augenblicke werden ausführlicher behandelt als andere, andere in einem Zeitraffer eingehüllt. Es ist bewundernswert, wie geschickt er das macht, wie sanft diese Übergänge gelingen. Nur wenige Transitionen sind etwas holprig gelöst (mit Sätzen wie „Jahreszahl. Jahreszahl. Jahreszahl“), aber im Großen und Ganzen hat man nie das Gefühl, sich nicht orientieren zu können oder zu abrupt eine Epoche zu verlassen. Die historischen Umstände bilden auch mehr einen Rahmen als alles andere. Ein Großteil der Handlung spielt sich allerdings in Papa Jacks Emporium ab.

Das Emporium ist ein weiterer Aspekt des Buchs, der mich unglaublich fasziniert hat: Von Papa Jack vor vielen Jahren gegründet, arbeiten nun er und seine Söhne Kaspar und Emil stetig an neuen Spielzeugen. Patchwork-Hunde, die ein Eigenleben entwickeln, wenn man sie aufzieht. Spielzeugsoldaten, die in Schlachten gegeneinander ziehen. Truhen, in denen ganze Leben Platz haben – und noch viel mehr. Dinsdale hat seiner Kreativität freien Lauf gelassen, und es gäbe noch tausendfach mehr zu entdecken. Das Spannende ist meiner Meinung nach, dass man nie so recht weiß, ob es „wirkliche“ Magie ist, wie viel sich in den Köpfen abspielt, ob es überhaupt kein System gibt, ob Vater und Söhne nicht einfach „nur“ handwerklich geschickt sind.

Papa Jack selbst hat eine eigene, unglaublich tragische Hintergrundgeschichte, die an einer Stelle im Buch erzählt wird. Abgesehen davon rückt er aber so sehr in den Hintergrund, dass man das Gefühl hat, dass er vom Autor schlichtweg vergessen wurde – zumindest hatte ich den Eindruck, dass er einen wesentlichen wichtigeren Part in der Geschichte verdient gehabt hätte. Und dass die Geschichte zu Beginn auch so aufgezogen wurde.

Auf Kaspar und Emil liegt ein weitaus größerer Fokus, und mit ihnen wird ein Thema eröffnet, das sich durch das Buch zieht: Krieg. Es beginnt als Rivalität zwischen den beiden, mit Schlachten, die sie mit ihren Spielzeugsoldaten austragen, aber gerade Emil kämpft auch mit dem Gefühl, sich seinem Bruder gegenüber beweisen, der bessere der beiden sein zu müssen. Aber mit dem Ersten Weltkrieg wird Kaspar verpflichtet, nicht ohne Folgen – Robert Dinsdale geht sehr sensibel mit dem Thema um und stellt sichtbare und vor allem unsichtbare Narben dar. (Wenn man mich fragt, hat Kaspar eine PTSD, aber der Begriff fällt natürlich nicht explizit.)

Mit dem aufkommenden Bruderkonflikt dachte ich mir zum ersten Mal: Oh, das ist spannend. Davor war ich durchgehend gelangweilt – und irritiert. Hierbei kommt Cathy ins Spiel, die ich in dieser Rezension noch gar nicht erwähnt habe, ganz einfach aus dem Grund, dass ich bis zum Ende des Buchs nur bedingt ein Fan von ihr war und gerade in der ersten Hälfte überhaupt nicht mit ihr warm wurde.

Cathys Schwangerschaft ist schon mysteriös genug – alleine diese Passage:

"Sie hatten zusammen Weihnachtslieder gesungen, Löwenzahn gepflückt, auf dem Erntedankfest Kuchen gegessen – und als sie sich dann eines Tages am hinteren Tor getroffen und andere Dinge zusammen getan hatten, fühlte es sich nicht komisch an. Aber verliebt, nein, verliebt waren sie nicht gewesen. (S. 19)"

Fassen wir zusammen: Cathy ist 15, anscheinend nicht aufgeklärt, macht „andere Dinge“ mit dem Nachbarsjungen aus experimentellen (?) Gründen, da sie ja nicht verliebt ist. Um das als Leserin zu akzeptieren, muss ich zumindest annehmen, dass Cathy doch sehr naiv ist. Sie ist ja auch 15. Aber immer wieder in den ersten Kapiteln gibt es diese Spannung zwischen Cathys Alter und ihrer Naivität … und ihrem restlichen, nüchternen, durchaus erwachsenen Verhalten. Wir erhalten nie recht einen Einblick in ihren Kopf, erfahren nie, was sie fühlt, außer eines: die Liebe zu ihrem ungeborenen Kind. Das ist das Charakteristikum, über das Cathy vorrangig definiert wird, und viel kommt im Laufe des Romans nicht hinzu – obwohl ein Großteil aus ihrer Sicht verfasst ist. Ich konnte aber nie dem Eindruck entgehen, dass Cathy mehr eine Reflexionsfigur und gleichzeitig ein Katalysator ist als alles andere. Was die anderen sagen, tun, wird durch sie wiedergegeben, und Cathys Ankunft im Emporium löst die restlichen Plotpunkte aus. Sie wirkt wie ein halbherzig konstruiertes Plot Device, um es anders auszudrücken.

Wie gesagt – im Laufe des Buchs legt sich das zwar nicht, wird aber erträglicher. Es gibt Augenblicke, in denen Cathy mehr ist als nur Mutter, mehr als nur eine Reflexionsfläche; aber die Tatsache, dass ich mich nie wirklich dazu durchringen könnte, mich für sie zu interessieren, minderte im Umkehrschluss drastisch mein Interesse an dem Buch.

Aber Die kleinen Wunder von Mayfair hat mich doch für sich einnehmen können. Als die Magie des Emporiums hinter den Grausamkeiten der „echten Welt“ immer weiter zurücktritt und im Gegenzug Konflikte in allerlei Bereichen ansteigen, merkte ich, wie sehr ich doch an den Charakteren hing. Damit meine ich vor allem Kaspar, aber auch Cathys Tochter Martha. Wo mir die Motivationen der anderen Charaktere oft dürftig erschienen, sind diese beiden so gelungen, dass es unglaublich viel wettgemacht hat. Gepaart mit einigen ungeahnten Wendungen inhalierte ich die letzten hundert Seiten in nahezu einem Stück. Ich beendete das Buch mit dem bittersüßen Gefühl, ein Stück von mir in der Geschichte zurückgelassen zu haben, gleichzeitig war ich froh, dass ich durch die Leserunde quasi durchhalten musste.

Würde ich das Buch weiterempfehlen? Könnte ich die Frage beantworten, hätte ich nicht diese über eintausend Wörter lange Rezension geschrieben, schätze ich. Die kleinen Wunder von Mayfair hat mich mitgerissen, aber es mir auch nicht gerade leicht gemacht, seine guten Seiten zu entdecken. Dass das Buch einen Eindruck bei mir hinterlassen hat, kann ich allerdings nicht leugnen.

Cover des Buches Nevernight - Das Spiel (ISBN: 9783596297597)

Bewertung zu "Nevernight - Das Spiel" von Jay Kristoff

Nevernight - Das Spiel
Isabella_vor 6 Jahren
Kurzmeinung: Gewohnt blutig und unterhaltsam, aber nicht so gut wie der erste Band.
Ein unterhaltsamer zweiter Band

Die Rezension ist auch auf meinem Blog zu finden.

Nachdem ich Nevernight: Die Prüfung beendete, war ich nicht nur schwer begeistert, sondern begann im selben Moment, den zweiten Band sehnsüchtig zu erwarten. Als ich diesen dann endlich in den Händen hielt, war die Vorfreude groß – nur leider ging es nicht ganz so fulminant weiter, wie erhofft, und rückblickend habe ich das Gefühl, dass Nevernight: Das Spiel leider ein wenig der Lückenfüller-Gefahr des zweiten Bandes zum Opfer fiel.

Wie auch beim ersten Band wird Nevernight: Das Spiel anfangs in zwei Timelines erzählt, die beide Mia behandeln, dieses Mal aber nur einige Monate, nicht mehrere Jahre auseinander liegen. Während ich mich beim ersten Band an dieses Konzept gewöhnen konnte, gelang mir das beim zweiten Teil nicht so recht. Immer, wenn ich mich endlich in der einen Timeline zurechtgefunden hatte, wechselte Kristoff in die andere und riss mich wieder aus der Geschichte heraus. Die ersten einhundertfünfzig Seiten zogen sich, und ich war seltsam erleichtert, als es nur noch eine Timeline war. Der Anfang hätte nicht nur um einiges gekürzt werden können – bis Mia in der Gladiatii-Staffel ankommt, vergeht fast ein Viertel des Buches –, er hätte meines Erachtens auch einfacher chronologisch erzählt werden können.

Nach dem Überwinden dieser Anfangsschwierigkeiten stellte sich jedoch der altbekannte Flair ein, den ich im Vorgänger kennen und lieben gelernt hatte. Geniale Kampfszenen, sarkastische Metakommentare in den Fußnoten, ein neuer, aber nicht minder spannender Cast. Was im ersten Band die anderen Akolythen waren, sind in Nevernight: Das Spiel Mias Gladiatii-Kollegen – nur besser, wenn das irgendwie Sinn macht. Alle müssen für den Augenblick wohl oder übel miteinander auskommen, es gibt zwar Rivalität, aber darüber noch etwas ganz anderes: Kameradschaft. Da es zu viele Mitglieder sind, um auf alle einzugehen, sei nur gesagt, dass es keinen von ihnen gab, der mir nicht doch irgendwie ans Herz wuchs, allen voran Sid. Sid ist so ziemlich der grandioseste Nebencharakter aller Zeiten. Ich mein’ ja nur.

Der Rest von Nevernight: Das Spiel lässt sich am besten als Akkumulation von Enthüllungen beschreiben, die mich mal mehr, mal weniger überrascht haben. Es gab einige Dinge, die ich vorausgesehen habe, und erschreckend weniges, das mich wirklich kalt erwischte. (Ich sage „erschreckend“, weil Kristoffs Bücher zumindest auf mich immer einen ordentlichen Schock-Faktor wirkten. Vielleicht bin ich verwöhnt.) Bei manchen Entwicklungen wartete ich eigentlich nur darauf, dass sie geschehen würden, und nur der Zeitpunkt dafür hing irgendwie in der Schwebe.

Nevernight: Das Spiel ist ohne Frage unterhaltsam, was allen voran Kristoffs Schreibstil, der besonders im Humor des Werks und in den Kampfszenen brilliert, zuzuschreiben ist. Nachdem ich diese 150-Seiten-Hürde überwunden hatte, brauchte ich nicht allzu lange, um die letzten 550 Seiten zu lesen, dennoch konnte ich am Ende das Gefühl nicht abschütteln, dass es diesen zweiten Teil nicht wirklich gebraucht hätte. Es wurde eine immense Menge Fragen aufgeworfen, aber nur sehr wenige Antworten geboten – eigentlich keine –, und überhaupt hat sich im Plot nicht viel getan. Gerade der Mittelteil des Buches bestand nur aus einer Aneinanderreihung an Kämpfen – wie gesagt, unterhaltsam geschrieben, aber im Großen und Ganzen nicht die Geschichte vorwärtsbringend.

In den letzten zehn Seiten legt Kristoff noch mal einen Zahn zu, doch ein schockierendes Ende, von dem ich in anderen Rezensionen gelesen habe, ist es für mich nicht wirklich. Es macht Lust auf den dritten Band, ja, und hinterlässt natürlich einen guten letzten Eindruck – aber nicht gut genug, um für mich die durchmischten Enthüllungen und die mangelnde Vorwärtsbewegung zu entschuldigen.

Ich habe allerdings einiges an Vertrauen in den dritten Band – und bin unglaublich gespannt, wie das Ende von Mias Geschichte aussehen wird.

3,5 Sterne

Cover des Buches Kleine Feuer überall (ISBN: 9783423281560)

Bewertung zu "Kleine Feuer überall" von Celeste Ng

Kleine Feuer überall
Isabella_vor 6 Jahren
Kurzmeinung: Mindestens so gut wie Ngs Debüt – ein beeindruckender Roman voller komplexer, zwischenmenschlicher Beziehungen.
Beeindruckend und herausfordernd!

Nachdem ich Celeste Ngs Debüt  Was ich euch nicht erzählte gelesen hatte, war ich nicht nur restlos begeistert, sondern wusste auch, dass ich das nächste Werk der Autorin kaum abwarten können würde. Als ich dann nicht ganz anderthalb Jahre später  Kleine Feuer überall in den Händen hielt, waren meine Erwartungen entsprechend hoch – und Celeste Ng gelang es dennoch mühelos, sie zu erfüllen.

Dass es sich bei  Kleine Feuer überall um einen Einzelband handelt, kann ich immer noch nicht recht begreifen, denn was mich unter anderem am meisten beeindruckte, war die Vielzahl von Geschichten, die sich in diesen 384 Seiten verbirgt. Ja, es gibt Figuren, die etwas mehr Bildfläche kriegen, aber sämtliche Charaktere sind in einem solchen Detail- und Vergangenheitsreichtum gestaltet, dass ich gar nicht wusste, wessen Hintergründe mich mehr fesselten. Nicht jeder Charakter ist durchweg sympathisch, aber all ihre Motive werden so sensibel dargestellt, dass man nicht anders kann, als zumindest stellenweise mit ihnen mitzufühlen – und dann stellt man fest, dass man als Leser*in selbst zwischen den Stühlen steht, selbst die Entscheidungen, die die Charaktere treffen müssen, nicht treffen könnte.

Shaker Heights ist eine sehr reale Stadt, hat mich aber mit den von Ng beschriebenen Regeln oft zum Zweifeln gebracht – das kann es doch nicht wirklich geben, dachte ich mir? Aber doch, das gibt es, und der  FAQ der Stadt listet tatsächlich Details wie "Grass may not be taller than six inches" auf. Das ist natürlich nur ein kleines Detail, und zusammen mit all den anderen Überlegungen der Stadt, kommt man nicht umhin, sie zumindest ein kleines bisschen für ihren Optimismus, für ihren Idealismus zu bewundern, so befremdlich manche Aspekte auch auf einen wirken mögen.

Vor allem aber ist Shaker Heights die Stadt, in der Celeste Ng aufgewachsen ist, eine Stadt, in der sie es liebte aufzuwachsen und die sie erst rückblickend komplexer erfassen konnte (zwei exzellente Interviews findet ihr  hier und  hier). Wie sie es selbst ausdrückt: 

It's sort of like writing about a family member you love dearly but you know has certain quirks or shortcomings that you want to portray accurately, but at the same time you want people to like them the way you do.
(Quelle)

Ich muss zugeben, dass ich während des Lesens durchaus abgeschreckt von der Konformität der Stadt war. Weil ich mir nicht vorstellen konnte, dass man wirkliche derartige Vorgaben stellen kann und die Leute sie befolgen. Weil ich das Gefühl hatte, dass die Stadt jedes bisschen Individualität schluckt, stattdessen eine Performance liefert. Aber rückblickend – und besonders, wenn man sich ins Gedächtnis ruft, dass  Kleine Feuer überall in den 90ern verwurzelt ist – kommt mir der Gedanke, dass die Stadt aktiv versucht, an ihrer kleinen Utopie zu arbeiten, dass sie aktiv versucht, die Umstände zu verbessern, und das wiederum beeindruckt mich durchaus.

Neben dem Thema des Feuers – ob im wahrsten Sinne des Wortes, in kleinen Flammen, die in den Figuren entstehen, oder vertreten durch Glut, die in ihnen schlummert – ist in  Kleine Feuer überall das Thema der Mutterschaft geradezu omnipräsent. Einerseits werden da natürlich die biologischen Beziehungen zwischen Mia und Pearl, und Mrs Richardson und ihren Kindern Lexie, Trip und Moodie thematisiert; andererseits auch unkonventionellere Beziehungen, denn es zeigt sich recht schnell, dass die Kinder aus der einen Familie bei der Mutter aus der anderen gewisse Schlupfwinkel finden, die ihnen bisher nicht eröffnet wurden. Auch hier ist es unmöglich, zu bewerten, ob eine der beiden Mütter die "bessere" ist, weil beide immerzu aus Liebe  für ihre Kinder handeln, aber es war unglaublich faszinierend zu lesen, wie Celeste Ng ebendiese verschiedenen Perspektiven auf mütterliche Zuneigung eröffnet.

Die Stärke dieses Themas kulminiert sich in dem großen Adoptionsstreit, der zwischen der chinesisch-amerikanischen Bebe und den McCulloughs, einer weißen, reichen Familie, entsteht. Nachdem Bebe ihr Kind zur Welt brachte, allerdings über kein Geld mehr verfügte, um sich um das Kind zu kümmern, setzte sie es vor einer Feuerwache aus. Jetzt, über ein Jahr später, geht es ihr finanziell und psychisch besser – und sie will ihr Kind zurück, woraufhin ein Rechtsstreit entsteht, der gefühlt die ganze Stadt spaltet. Es geht um biologische Eltern und um Adoptivelternschaft, aber auch um die Frage, wie eine weiße Familie das kulturelle Erbe des kleinen Mädchens erfüllen kann, wenn doch ihre leibliche Mutter dazu viel besser geeignet wäre.

Auch hier beweist Celeste Ng ein unglaubliches Feingefühl – nie entsteht der Eindruck, dass sie selbst irgendeine Meinung vertritt, irgendeine Seite bevorzugt; gleichzeitig werden die Argumente zwar sachlich, aber empfindlich genug vorgebracht, dass man nicht umhinkommt, beide Seiten zu verstehen … und zumindest ich saß vor dem Buch und war unfähig, eine klare, dezidierte Entscheidung zu treffen.

Ihr merkt es vielleicht schon selbst – ich weiß gar nicht, wie ich meine Liebe zu dem Buch ausdrücken soll, bin einerseits überzeugt, dass ich noch eine Ewigkeit weiterschwärmen könnte, andererseits der Komplexität dieses Buches immer noch nicht gerecht werden würde. Während des Schreibens dieser Rezension habe ich gemerkt, wie viele Aspekte ich noch gar nicht detailliert genug betrachtet habe oder welche Passagen ich mir unbedingt noch einmal anschauen möchte, jetzt, wo ich weiß, wie das Buch ausgeht. Ich kann euch  Kleine Feuer überall wirklich nur ans Herz legen, wenn ihr nach einem Buch sucht, das Themen wie Rassismus, Mutterschaft und Identität anspricht, das euch mit seinen vielfältigen Geschichten in den Bann zieht, eure bereits gebildeten Ansichten herausfordert und euch gleichzeitig dazu bringt, neue Meinungen zu formen. Das ist es zumindest, was in meinen Augen ein unvergleichliches Meisterwerk ausmacht.

Cover des Buches Joyland (ISBN: 9783453437951)

Bewertung zu "Joyland" von Stephen King

Joyland
Isabella_vor 6 Jahren
Kurzmeinung: Kaum Plot, flache Charaktere – man benötigt eine gefühlte Ewigkeit, um die 350 Seiten zu lesen.
Enttäuschend

Nachdem Der dunkle Turm ein Reinfall für mich war, beschloss ich, King eine zweite Chance zu geben. In der Bücherei suchte ich mir  Joyland aus; ich war zu vorsichtig, um mich an ein längeres Werk zu wagen, und die Prämisse klang spannend genug, dass ich das Buch mit seinen knapp 350 Seiten auslieh.

Ziemlich schnell stellte sich ein Gefühl ein, das ich auch bei  Der dunkle Turm empfunden hatte – so einfach und angenehm zu lesen der Schreibstil auch sein mochte, konnte ich nicht den Eindruck abschütteln, auf der Stelle zu treten. An den 350 Seiten las ich acht Tage, gefühlt mindestens doppelt so lange.

Zuallererst wurde ewig lang eine Hintergrundgeschichte zu Devin und seiner (Ex-)Freundin gegeben (an deren Namen ich mich nicht einmal mehr erinnern kann), und dann wurde beschrieben, wie er in Joyland eingeführt wurde, welche Freunde er machte und welchen ulkigen Gestalten er dort begegnete. Alles fühlte sich wie eine lang(wierig)e Einführung an.

Rückblickend verrät der offizielle Klappentext tatsächlich fast alles, selbst Ereignisse, die erst nach der Hälfte des Buches passieren. Wenn er noch den Namen des Mörders erwähnen würde, hätte er den Plot von  Joyland präzise erfasst. Es gab nur wenige Momente, die mich ansatzweise bewegen konnten; selbst die Auflösung der Mordserie hatte ich tatsächlich erraten, etwas, das mir sonst selten passiert. Grundsätzlich war dieser Krimi-Aspekt enttäuschend – Devins Suche war für mich inkohärent und an den Haaren herbeigezogen, ebenso wie die Aufklärung im Showdown.

Vor allem – und das trägt für mich das größte Gewicht – war die Aufdeckung der Mörder so belanglos. Ich konnte einfach nicht erschließen, warum ausgerechnet Devin sich für die umgebrachten Mädchen einsetzen sollte, warum er – als Unbeteiligter, als nur jemand Weiteres, der von den grausamen Taten gehört hatte – auf den Mörder stolpern sollte, und vor allem nach all der Zeit! Es war mir zu passiv;  Devin war mir, bis auf wenige Ausnahmen, zu passiv. Ich wurde die ganze Geschichte über nicht wirklich warm mit ihm, und das, obwohl er nichts wirklich trennt, aus allem etwas Persönliches macht. Er war mir zu normal, zu nett – ein langweiliger Gary Stu.

Alles, das ansatzweise interessant hätte sein können, wurde schnell im Keim erstickt – die hässliche Trennung verarbeitete Devin mit extra viel Gejammer; Erin und Tom – zwei Gleichaltrige, mit denen Devin sich anfreundet, und die einzigen Charaktere, die mir sympathisch waren – werden schnell abgefertigt; Annie (eine Frau, an deren Haus Devin täglich vorbei läuft) wird zu einem Sexobjekt degradiert, weil sie ja so viel reifer und erfahrener ist als Devin und ihm  natürlich noch einiges beibringen kann. Und ja, auch Devin scheint oft nur auf Oberflächlichkeiten (Stichwort: Brüste) zu achten. Gibt ja sonst nichts zu sehen.

Selbst ein paranormales Element – der Geist einer der ermordeten Frauen, der in Joyland gesichtet wird – wird schnellstmöglich im Keim erstickt; der Ansatz ist so vage, dass er auf mich rückblickend wie ein verzweifelter Versuch wirkt, der Geschichte noch irgendwie mehr Kohärenz zu verleihen.

Nein,  Joyland war keineswegs so schlimm wie  Der dunkle Turm – aber in Anbetracht der Sache, dass die Veröffentlichung der beiden Werke dreißig (!) Jahre auseinanderliegt, finde ich es ganz schön erschreckend, wie ähnlich sich die Werke in ihren Schwächen sind. Als hätte sich King kein bisschen weiterentwickelt.

Ich weiß, dass die King-Fans sehr zahlreich und enthusiastisch sind – und ich wollte es wirklich verstehen, wollte die Faszination hinter dem Autor begreifen. Aber nach  Joyland bin ich mir ziemlich sicher, dass ich vorerst keine weiteren Versuche wagen werde. Die Geschichte war mir einfach zu stereotypisch, zu flach, zu banal.

Cover des Buches Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt (ISBN: 9783956142246)

Bewertung zu "Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt" von Jesmyn Ward

Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt
Isabella_vor 6 Jahren
Kurzmeinung: Eine Geschichte, die besonders durch die Begabung der Autorin, Zwischenmenschliches in all seinen Feinheiten darzustellen, beeindruckt.
Ein beeindruckendes Buch

Ich hatte von dem englischen Original dieses Buches – Sing, Unburied, Sing – schon viel Gutes gehört, weswegen ich mich sehr freute, die deutsche Ausgabe vom Kunstmann Verlag als Rezensionsexemplar zu erhalten. Darüber hinaus ist diesen Monat Black History Month, was mich anregte, mal einen Blick auf mein Regal zu werfen – und festzustellen, dass ich bisher zu wenig von schwarzen Autor*innen gelesen habe. Das möchte ich verstärkt ändern, und ich freue mich, dass Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt den Anfang machen darf.
Was mich auch im Nachhinein besonders an dem Buch fasziniert, ist die Tatsache, wie viele Geschichten Jesmyn Ward auf diesen dreihundert Seiten erzählt. Das Buch ist in drei verschiedenen Perspektiven verfasst – die von Jojo, Leonie und des Jungen Richie, der schon länger nicht mehr unter den Lebenden weilt –, die alle mehr oder weniger in der Gegenwart verwurzelt sind. Und gerade durch diese Figuren und vielmehr noch durch die Art und Weise, wie sie verknüpft sind, werden noch so viele andere Dinge aufgedeckt. Da ist Jojo, dem Pop von seiner Vergangenheit erzählt; Leonie, die ihrem toten Bruder begegnet, wenn sie high ist, und Richie, der sich wie ein roter Faden durch alle Zeiten zieht. Es hat mich sehr beeindruckt, zu sehen, wie all diese Geschichten miteinander verknüpft werden, sich gegenseitig beeinflussen und für Schaden und Trauer gleichermaßen sorgen.
Letztlich war es auch gerade dieses Zwischenmenschliche, das mir unglaublich gut gefiel. Wie ich schon angedeutet habe, stecken in all diesen Geschichten eine unzählige Anzahl Konflikte, überspannt von dem größeren, teils schier übermächtigen, Konflikt des Rassismus, der die Familie bis in die Gegenwart begleitet und unter dem sie leidet. Da ist Leonie, die von Michaels Eltern abgelehnt wird, weil sie schwarz ist. Sie selbst ist unfähig, sich um ihre Kinder Jojo und Kayla zu kümmern. Pops Vergangenheit ist gezeichnet von einem grausamen Gefängnisaufenthalt, eine Geschichte, deren Ende Jojo zu Anfang des Buches noch nicht kennt. Mam wird immer mehr vom Krebs aufgefressen und ruft Hilflosigkeit in der Familie hervor. All das erzählt Jesmyn Ward ohne große Worte, ohne die Tatsachen direkt auszusprechen, schafft es aber gleichzeitig, das Subtile so deutlich zu machen, dass es mir als Leserin nur allzu schmerzlich bewusst wurde.
Leider war mein Lesevergnügen nicht uneingeschränkt – was jedoch ganz klar an meinen eigenen Präferenzen liegt. Das Buch arbeitet nämlich nach den ersten Kapiteln immer stärker mit magischem Realismus, was ich, wie ich festgestellt habe, einfach nicht gerne lese und letztendlich ein Element darstellte, mit dem ich nicht gerechnet habe. Wenn ich Fantasy lesen will, dann kann ich mich voll und ganz darauf einstellen, wenn ich aber nur gewisse magische oder übernatürliche Elemente in der Geschichte vorfinde, ohne ein wirkliches System dahinter, kämpfe ich persönlich verstärkt mit Verständnisproblemen – und so erging es mir auch im Fall von Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt. Da ebendieser Aspekt gegen Ende hin verstärkt vorkommt, nahm mein Verständnis ab; die Subtilität, die ich noch bewunderte, wurde zu einer Abstraktion, der ich schlichtweg nicht folgen konnte. Und das war einfach sehr ärgerlich, weil ich das Gefühl hatte, schlichtweg unfähig zu sein, der Geschichte weiter zu folgen. Aber wie gesagt: Das liegt ganz eindeutig an meinem Geschmack, und hätte ich gewusst, dass das Buch dieses Element enthält, hätte ich vermutlich gar nicht erst danach gegriffen.
Zuletzt solltet ihr vielleicht noch wissen, dass das Buch einige graphische Szenen enthält, insbesondere eine am Anfang, in welcher eine Ziege geschlachtet und das bis ins kleinste Detail beschrieben wird. Wenn ihr so etwas nicht lesen könnt oder wollt, ist das Buch vielleicht nichts für euch.
Letztendlich war Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt durchaus eine einzigartige Leseerfahrung, wenn auch nicht eine, die mir uneingeschränkt gefiel. Wenn euch die angesprochenen Aspekte interessieren, kann ich mir jedoch gut vorstellen, dass euch das Buch besser gefällt als mir.

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