Eine Tageszeitung hatte Der freie Hund, den Erstling der Reihe um Commissario Morello, als Wohlfühlkrimi bezeichnet. Das trifft sicherlich auch auf die Fortsetzung Der Tintenfischer zu, die man leicht an ein oder zwei Nachmittagen oder Abenden auf der Couch oder dem Balkon verschlingen kann. Es gibt bei diesem Krimi eine Oberfläche, bei der sie zu lesen man es durchaus belassen kann (und sich dabei mehr oder weniger spannend unterhalten fühlt). Doch es gibt auch eine Tiefenstruktur, der man nachgehen kann (wenn man mag), die zumindest diesen Rezensenten auf die Spur eines literarischen Kriminalromans gesetzt hat. Aber der Reihe nach.
Venedig im Corona-Lockdown des Frühjahrs 2020, völlig frei von Touristen, und auch die Einheimischen sind von Restriktionen betroffen. Antonio Morello, als Abteilungsleiter der Sektion Gewaltverbrechen aus Sizilien nach Venedig versetzt, um ihn vor Nachstellungen der Mafia zu schützen - nach deren Ehrenkodex dürfen Attentate auf Justizpersonen nur auf Sizilien selbst erfolgen -, wird als Aufpasser der Einhaltung der Corona-Regeln eingesetzt, bis er und seine norditalienische Kollegin Anna Klotze einen nigerianischen Flüchtling davor bewahren Selbstmord zu begehen. Von da an nimmt der Krimi Fahrt auf, sowohl was die Handlung angeht, als auch die Beschreibung politischer Hintergründe, die den gesamten Roman durchziehen.
Politische Krimis sind das Markenzeichen Wolfgang Schorlaus, und er setzt dies auch mit seinem italienischen Ko-Autor Claudio Caiolo fort. Politik schlängelt sich wie ein roter Faden durch das Buch, von der Innenpolitik des Kommissariats und dessen Einbindung in die politischen Strukturen Venedigs über die Ausbeutung der Ölvorkommen Nigerias (und deren Ursache für die Flüchtlingsströme von dort) bis zur Verquickung von Politik und Mafia auf Sizilien. Teilweise in die Handlung integriert, teilweise von Protagonisten berichtet, teilweise durch die Wiedergabe authentischer Dokumente belegt, geht die faktengestützte Analyse auch in eher beiläufig erwähnten Aspekten sehr weit, etwa dem Zusammenhang von in Aussicht gestellten Corona-Hilfsgeldern der EU und dem Wiederaufleben scheinbar längst beerdigter Pläne zur Errichtung einer Brücke zwischen Sizilien und dem Festland über die Straße von Messina.
Die Handlung führt Morello und seine Kollegin nach Sizilien, wo er sich immer noch eher beheimatet fühlt als im ihm nach wie vor nicht ganz geheuren Venedig. Eine bewusst provozierte Suspendierung macht dies möglich, und Anna schließt sich ihm in ihrem Urlaub an. Gemeinsam haben sie es sich zum Ziel gesetzt, die Freundin des jungen Mannes mit Selbstmordabsicht, den sie gerettet haben, aus einem Bordell in Palermo zu befreien. Der Aufenthalt auf Sizilien wird turbulent, es gibt Gewalttaten und einen fulminanten Showdown, gefolgt von einem raffinierten Cliffhanger nach der Rückkehr ins für Morello inzwischen doch heimisch werdende Venedig, der aber eher augenzwinkernd zum Weiterdenken einlädt (und darüber spekulieren lässt, wie eine Fortsetzung der Reihe wohl weitergehen könnte).
Einige literarische Bezüge sind ganz offensichtlich gesetzt, etwa der auf den sizilianischen Schriftsteller Giuseppe Tomasi di Lampedusa, dessen Roman Il Gattopardo nicht zuletzt durch die Verfilmung durch Luchino Visconti (mit unter anderen Claudia Cardinale, Burt Lancaster und Alain Delon, deutscher Titel Der Leopard) Weltruhm erlangt hat und bis heute im Italienischen Lieferant geflügelter Worte ist, von denen eines - Wenn wir wollen, dass alles so bleibt, wie es ist, dann ist es nötig, dass sich alles verändert - prominent zitiert wird. Andere literarische Hinweise sind beiläufiger, etwa der auf Leonardo Sciascias Roman Der Tag der Eule, den Morello fast auswendig kennt, oder der auf den deutschen Krimi-Kollegen Veit Heinichen, der eindeutig der literarischen Krimitradition zuzurechnen ist und in Triest lebt, der Heimatstadt Anna Klotzes, in einem von dessen Romanen sie an Bord eines Segelschiffs vor der sizilianischen Küste liest. Bücher, die - wenn man beide Autoren kennt - so etwas wie eine intellektuelle Klammer zwischen den beiden Protagonisten bilden.
Dennoch ist nichts an diesem Roman literatürelnd oder bildungsbeflissen. Seine literarischen Qualitäten liegen in der Figurenzeichnung, der quasi-cinematografischen Entwicklung der Szenen, der Zeit, die einzelnen Handlungssträngen gegeben wird. Ein gutes Beispiel ist eine Verführungsszene über mehr als fünfzehn Seiten, als deren Höhepunkt, nein, nicht Sex, sondern die Auflösung des Titels des Romans steht (Sex gibt es auch, aber es wid nur angedeutet, dass er stattgefunden hat). Insbesondere der angelsächsischen literarischen Tradition verpflichtet ist die häufige Einbeziehung des Essens als communion, also als gemeinschaftsstiftendes Element auch jenseits seiner religiösen Bezüge (einige Rezepte werden als Anhang präsentiert). Zwei Szenen stechen besonders hervor, die Verhaftung einer Bande von Corona-Betrügern (noch in Venedig) als Groteske, und die Befreiungsaktion dreier junger Frauen in Palermo als Burleske, beide im Sinne der jeweiligen literarischen Gattungen. Dass Morello als alterslos dargestellt wird, eröffnet sogar Bezüge zum magischen Realismus (wenn auch, zugegeben, eher verhalten).
Der Tintenfischer weist durchaus einige Elemente eines schwierigen zweiten Werks auf, was nach dem fulminanten und erfolgreichen Der freie Hund vielleicht nicht anders zu erwarten war. Letzterer war schlanker, straffer und fallorientierter (einschließlich forensischer Details und trickreicher Vernehmungssituationen). Dennoch bietet auch Der Tintenfischer eine vergnügliche (Sommer-?)-Lektüre mit mehr Tiefgang und Vertracktheiten als aktuell in Genrekrimis üblich (wie tief man dabei gehen möchte, kann man als Leser selbst entscheiden). Wie in der Überschrift ausgedrückt: ein Wohlfühlkrimi mit Haken und Ösen. Viereinhalb Sterne, von Herzen aufgerundet auf fünf.
13.08.2021 - Joachim Tiele