Bewertung zu "Frankenstein oder Der moderne Prometheus" von Mary Shelley
Wer hat nicht das Bild von Boris Karloff als Frankensteins Monster in der Verfilmung von James Whale von 1931 vor Augen, wenn man den Roman von Mary W. Shelley anspricht? Doch – wie häufig – nehmen sich Regisseure viel filmerische Freiheiten heraus. Nicht aus dem Blick verlieren sollte man jedoch den Untertitel „Der moderne Prometheus“. Dieser, eine Gestalt der griechischen Mythologie, war der Sohn eines der Titanen, dem ältesten Göttergeschlecht. Diese sahen zwar äußerlich den Menschen ähnlich, waren aber von riesenhafter Gestalt. So erinnert auch Frankensteins Kreatur an einen übergroßen, aber mißgestalteten Menschen - auch wenn man eigentlich Frankenstein als Prometheus sehen muß! Aber das Monster ist ja Frankensteins – als des Titanensprößlings Prometheus – „Riesenbaby“. Dieses schauderhafte Äußere symbolisiert wohl einerseits den anmaßenden Versuch des Menschen, Gott spielen zu wollen (die Größe des Wesens reckt sich zum Himmel) andererseits spiegelt sich wohl in ihm die unheilbringende Natur dieses Geschöpfs wider. Beachtenswert ist hierbei, daß die Entstehung dieses Wesens nicht Erwähnung findet - demnach müßten wir sowohl Stromanschlüsse am Hals als auch eine abgeflachte Schädeldecke aus unserem visuellen Gedächtnis löschen. Letztendlich ist aber auch für die Handlung unwesentlich, ob Frankenstein seine Kreatur mit Hilfe von Elektrizität (man denke an die Entstehungszeit des Romans Anfang des 19. Jahrhunderts, wo dies ein großes Thema war; aber auch wiederum an die Prometheus-Sage: Prometheus als der Feuerbringer) geschaffen hat oder nicht. Vielmehr sollte man viel stärker das mythologische Vorbild zum Vergleich heranziehen.
Prometheus zog den Zorn der (olympischen) Götter auf sich, weil dieser den Menschen half, indem er den Göttervater Zeus überlistete. Zur Strafe nahm Zeus den Menschen das überlebenswichtige Feuer. Doch Prometheus erhob sich gegen die Götter, widersetzte sich dem göttlichen Willen und brachte das Feuer zurück auf die Erde. Doch die Götter rächten sich, indem sie Plagen, Krankheit und Leid den Menschen bescherten, die sie seitdem zu erdulden haben. Frankenstein schon immer wissenschaftlich interessiert, will Gott spielen, Leben schaffen, so übergroß wird sein Ehrgeiz bei seinen Studien an der Ingolstädter Universität (jetzigen LMU). Aber die Hybris des Menschen hat noch niemals süße Früchte hervorgebracht. Der Verlust seiner ganzen Familie ist der Preis, den Viktor Frankenstein zu zahlen hat. Immer wieder wird vor übergroßem Ehrgeiz gewarnt.
Es gibt aber noch drei Punkte bei der Interpretation, die nicht vergessen werden sollten:
Zum einen wird die „Tabula Rasa“-Idee – wie unter anderem von John Locke vertreten – aufgegriffen. Diese geht davon aus, daß die Seele/der Verstand/der Charakter wie ein unbeschriebenes Blatt ist und erst durch die Erfahrungen in und mit der Umwelt beschrieben – sprich geformt – wird. Frankensteins Produkt ist nicht von Anfang an ein Monster. Im Gegenteil es ist naiv, unschuldig, strebt nach Liebe und Geborgenheit. Aber alle Menschen, sogar sein Schöpfer, fliehen es. Nur deswegen wächst solch Groll und Zorn in ihm heran, daß es sich auch innerlich zum Scheusal wandelt und sein Verhalten zerstörerisch wird.
Zum anderen wird die Beurteilung nach dem reinen Äußeren kritisiert. Frankensteins Geschöpf ist ja zunächst eben als moralisch gut zu bezeichnen, findet aber durch seine anormale Gestalt nur Ablehnung.
Schließlich findet sich aber noch eine ethisch-moralische Betrachtungsebene: Der Schöpfer hat Verantwortung für sein Produkt, aber auch gegenüber der Gesellschaft zu tragen. Wem ist er mehr verpflichtet?
Als sehr spannend empfand ich die Lektüre dieses Klassikers. Ein absolut lesenswerter Schauderroman, welcher nicht nur eindimensional an der Oberfläche kratzt!