Krass.
Perfekt.
Bewegend.
Selten kann ich über einen Roman sagen, dass er mein Leben verändert hat. Eher bei Sachbüchern oder Ratgebern, die ja evtl. Wissen vermitteln, die mein Leben oder meine Gesundheit positiv beeinflussen. Bei Romanen habe ich das nur bei den Büchern von Julia Dippel erlebt. Da war es aber weniger der Inhalt, sondern mehr ihr unvergleichlicher Schreibstil, der mich für viele andere Bücher nachhaltig verdorben hat und mein Anspruchs-Level in unendliche Weiten hob.
Hier wurde mein hoher Anspruch jedoch nicht enttäuscht. Neal Shusterman schreibt auf seine ganz eigene Weise fesselnd, humorvoll und kritisch zugleich.
Das Cover macht schon sehr neugierig – und ist richtungsweisend.
Was wäre, wenn Du der Mittelpunkt des Universums wärst und unendliche viele Möglichkeiten hättest, unsere Realität anzupassen nur durch eine kleine Änderung? Was würdest Du zuerst ändern? Und würdest Du es richtig machen? Mal vorausgesetzt, Du wüsstest, dass Du ändern kannst und wie.
„Es gibt Entscheidungen, die wir treffen, Entscheidungen, die für uns getroffen werden, und Dinge, die wir so lange ignorieren, bis es ohnehin keine Wahl mehr gibt.“ (S. 12)
…um es vorweg zu nehmen, der Protagonist in diesem Buch verbockt es erstmal so richtig.
Ash ist ein weißer, privilegierter, heterosexueller cis-Junge, der gern Football spielt und sich gern mit seinen Freunden aller Hautfarben und Gesinnungen umgibt. Er hält sich für total tolerant. Bis er buchstäblich am eigenen Leib erfahren muss, wie es ist einer Minderheit anzugehören…
„Damals dachte ich, weil ich eine diverse Gruppe von Freunden hatte, könnte ich mein Kästchen für soziale Verantwortung abhaken. Als ob es für mich nichts mehr zu tun gäbe, als ein bisschen Braun an meinem Tisch zu haben. „Hautfarbe sollte keine Rolle spielen“, hat man mich immer gelehrt – und ich habe es immer geglaubt. Aber es gibt einen großen unterschied zwischen dem, was sein sollte, und dem was ist. Und privilegiert zu sein heißt, diese Kluft nicht wahrzunehmen.“ (S.15)
Aber auf Anfang: Bei einem harten Zusammenprall auf dem Spielfeld verliert Ash kurz das Bewusstsein. Kurz darauf bemerkt er, dass STOP-Schilder plötzlich blau und nicht mehr rot sind (doof, wenn ein LKW kommt und man das STOP-Schild deswegen übersieht). Und als wäre das nicht seltsam genug – alle Anderen um ihn herum glauben, das das schon immer so war. Sogar Geschichtsbücher belegen plausibel, warum Achtung-Schilder blau und nicht rot sind. Weil rot die Autofahrer aggressiv macht…
Auf diesen ersten Sprung in eine alternative Realität folgen noch weitere bis Ash heraus findet, dass ER derjenige ist, der diese Verschiebungen verursacht. Teils auf die harte Tour, denn anders farbige Verkehrsschilder sind Nichts im Vergleich zu den Veränderungen in Punkto Rassismus, Homophobie und Sexismus die nicht zuletzt Ash ganz persönlich zusetzen…
Ob er die Kontrolle über diese Sprünge erlangen kann? Und noch viel wichtiger… kann und will er die Veränderungen wieder gerade biegen?
Ich bin total geflasht!
Die Idee ist sowas von genial. Ich habe sofort darüber nachdenken müssen, was ich tun würde, wenn ich so kleine, aber doch entscheidende Veränderungen in meinem Leben bemerken würde… Wenn meine Tochter vielleicht anders heißen würde z.B., denn es sind ja echt immer wenige Sekunden, die über ein Leben entscheiden.
Vom genialen Plot mal abgesehen – Ich hatte schon fast vergessen, WIE gut der Autor schreibt. In seinem lockeren Stil verbringt er soviel Gesellschaftskritik, dass ich echt Gänsehaut bekommen habe beim Lesen. Ich habe mindestens schon drölfzig Zitate gesammelt, die ich gern in meine Rezension packen würde – und das im ersten Viertel!!!
„Man isst, was einem die Eltern auf den Lebensteller legen.“ (S. 14)
Das Thema Rassismus, Gleichberechtigung und Gendersprache wird hier im Hause sehr oft diskutiert. Wir sind alle privilegiert, dennoch dachte ich, ich würde mich sehr für Gleichberechtigung einsetzen. Dieses Buch eröffnet mir jedoch eine ganz neue Sichtweise – nämlich die der Betroffenen. Apropos Betroffene…. am Ende kommt noch kurz das Thema Gleichberechtigung der Frauen auf. Nie im Leben hätte ich gedacht, das mir als Frau so wenig bewusst ist und einfach als „normal“ angesehen wird… Auch hier ist ein Umdenken erforderlich.
„Wusstet ihr, dass All-American häufig ein Codewort für weiß ist? Das Hatte Leo mir mal erklärt. Ich hatte ihm damals nicht geglaubt. (…) „Deine Ignoranz ist wie eine Schicht Volltrottel-Sonnenschutz, die ich abkratzen muss, um dich dem Licht auszusetzen!“(S. 114)
Falls ich überhaupt was kritisieren wollte, wäre es vielleicht die Flut an Themen der Ungerechtigkeit. Bis auf Religionsfreiheit wurde hier fast Alles angesprochen. Alles wichtig, keine Frage, aber evtl. wäre eine Konzentration auf 2 Themen intensiver und wirkungsvoller gewesen.
Auffallend ist die verwendete Sprache. Ein großes Lob an die Übersetzer! Einerseits die lockere jugendliche Sprache und direkte Anrede der Leser. Auf der anderen Seite ist mir die extrem intelligente Sprache aufgefallen, keine Angst vor Fremdwörtern – ungewöhnlich für ein Jugendbuch. Aber super!!!
Ich hab dann mal nachgeschaut, wer übersetzt hat und gesehen, dass das sogar 3 Übersetzer waren.. mich würde interessieren, wie das geht. Auf jeden Fall haben sie einen tollen Job gemacht!
Was mir auch aufgefallen ist, das ist tatsächlich das erste Buch, das ich lese, das die Corona-Pandemie thematisiert ohne sie zum Thema zu haben. Das Buch spielt ja offensichtlich in einer (hoffentlich) nahen Zukunft, in der die Pandemie nicht mehr Teil unseres Alltags ist. Dennoch wohl noch nicht allzu lange her, da die Beisetzung des Opas vor einigen Monaten noch unter Pandemiebedingungen mit Abstand und Maske statt fand. Schon seltsam, das so zu lesen. Bisher waren Bücher für mich immer eine Flucht aus der Realität. Aber klar, wenn es nicht komplette Phantastik ist, gehört das einfach dazu…
„In letzter Zeit haben wir alle gelernt, dass die Realität sehr surreal werden kann – doch am Ende gibt es immer etwas, das einen erdet.“ (NEAL SHUSTERMAN S.403)
Schlussendlich sind es WIR SELBST die es in der Hand haben unsere Welt zu ändern und nicht das Universum ;-)
Ich glaube, die Zeit in der das Buch erschienen ist, ist genau die Richtige. Denn Hand aufs Herz – wie oft habt ihr euch in den letzten Monaten gefragt, was wäre gewesen wenn dieses beschissene Virus nicht gewesen wäre? Doch WER wären wir ohne die gemachten Erfahrungen…?
Ich bin reicher und tatsächlich demütiger durch dieses Buch geworden.
Absolute Lese-Empfehlung!