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Lust_auf_literatur

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Cover des Buches Die unendlichen Möglichkeiten der Liebe (ISBN: 9783608502459)

Bewertung zu "Die unendlichen Möglichkeiten der Liebe" von Myriam Lacroix

Lust_auf_literaturvor 13 Tagen
Kurzmeinung: Überraschend abgefahren und vielschichtig!
Die unendlichen Möglichkeiten der Liebe

Ich liebe richtig krass abgefahrene Literatur und bin immer auf der Suche danach. Aber nie hätte ich gedacht, dass sich hinter diesem lieblichen Titel und Klappentext derart abgefahrene Geschichten stecken. Und zwar abgefahren auf Sayaka Murata Level!


Die Idee von Myriam Lacroix ist im Prinzip nicht neu. Sie erzählt Variationen einer Geschichte, und zwar die Geschichte der Liebe zwischen Myriam und Allison. Angeordnet sind die Variationen wie einzelne Kurzgeschichten, die sich in Setting, Erzählton und Aussage komplett unterscheiden. Der Ideenreichtum und die Fantasie von Lacroix begeistern mich, genauso wie ihre Fähigkeit die Geschichten mit einem roten Faden zu einem runden Ganzen zu verbinden.


Myriam und Allison. 

Lacroix erzählt ihre Geschichte aus verschieden Phasen einer Beziehung: Kennenlernen, Leidenschaft, Auseinanderleben und Trennung. Parallel setzt sie ihre beiden queeren Protagonistinnen in verschiedene Szenarien, die sich nicht auf unsere Welt, unsere Realität und unser Menschsein beschränken. 

In der ersten Variation „Der Sinn des Lebens“ beispielsweise , die mit sehr surrealem Ton aus der Ich-Perspektive von Myriam erzählt ist, findet ihre Partnerin Allison in einer Gasse ein Baby und nimmt es mit in die gemeinsame Wohnung. Das löst natürlich einige Probleme aus, aber letzendlich endet diese Geschichte mit einer wunderbaren Utopie.



»Sagen wir es so: Wenn das Leben einen Sinn hat, dann ist es wahrscheinlich die Liebe.«


Aber nicht alle Geschichten enden mit einem optimistischen Fazit, was mir in dieser Vielschichtigkeit sehr gut gefällt. Es gefällt mir auch, dass sich für mich nicht unbedingt jede Metaebene gleich erschließt. Das hat Potential zum Nachdenken. Generell gibt Lacroix mir viele Denkanstöße, inwieweit meine Persönlichkeit und meine Liebe von den Umständen und meiner Lebenssituation abhängig ist. Was wäre veränderlich und was wäre konstant?


Für mich war „Die unendlichen Möglichkeiten der Liebe“ eine komplette und erfreuliche Überraschung, die dich sicher auch begeistern kann, wenn du dich gerne auf abgefahrene und teilweise surreale Leseerlebnisse einlässt! Ich hoffe sehr, dass Lacroix, die in Kanada Creative Writing studiert hat, nach ihrem Debütroman noch weitere Romane veröffentlichen wird, die dann auch ins Deutsche übersetzt werden! 


“Doch irgendwann waren wir zu weit gegangen, hatten da reingeschnitten, wo es wehtat, in die verletzlichsten Teile, die wir zum Überleben brauchten. Wir stritten uns andauernd. Aber wir hörten nie auf zu reden. Nie hörten wir auf, es Liebe zu nennen.”

Cover des Buches Bye Bye Lolita (ISBN: 9783863914226)

Bewertung zu "Bye Bye Lolita" von Lea Ruckpaul

Lust_auf_literaturvor 13 Tagen
Kurzmeinung: Der Klassiker aus anderer Perspektive
Bye Bye Lolita

Als ich das erste Mal „Lolita“ von Vladimir Nabokov las, war ich noch sehr jung. Ich war von dem Roman verstört und fasziniert. Ich würde sogar sagen, er hat mein Bild von Männern  mitgeprägt und war ein Baustein meiner feministischen Sozialisierung. Mir war immer klar:


“Humbert Humbert verachtet Frauen. Er hält sich für wertvoller.”


Auch in meinen erwachsenen Lesejahren habe ich den Roman noch mehrmals gelesen, mir aber komischerweise nie eine Verfilmung angesehen. Das hätte sich für mich irgendwie nicht richtig angefühlt, sondern wie eine greifbare Manifestation meines Voyeurismus.


Jetzt ist dieser Roman “Bye Bye Lolita” von Lea Ruckpaul erschienen, den ich auf jeden Fall lesen musste! Er erzählt die gleiche Geschichte wie Nabokov, aber nicht aus der Sicht des pädokriminellen Humbert Humbert, sondern er nimmt die Perspektive von Dolores Haze, genannt Lolita, ein.

Und natürlich ist es dann auch nicht mehr die gleiche Geschichte.


In “Bye Bye Lolita” ist Dolores mittlerweile über 40 und blickt zurück auf ihre Kinder- und Jungendzeit, als HH in ihr Leben und das ihrer Mutter trat. Ich bin überrascht, wie genau sich Ruckpaul gerade in den ersten Kapiteln an die Vorlage hält. Es gibt fast identische Szenen, die jetzt aus der Sicht von Dolores erzählt werden. Die von Ruckpaul entworfene Persönlichkeit und ihre Erzählstimme finde ich absolut stimmig und deckt sich komplett mit meinem eigenen Bild, das ich mir von dem lieblos aufgewachsenen und orientierungslosen Mädchen gemacht hatte.

Schwer zu ertragen sind die Schilderungen des schweren Missbrauchs und der Vergewaltigungen, die mit dem Road Trip nach dem Tod von Dolores Mutter beginnen. Ruckpaul lässt Dolores ungeschönt, mit harten Worten und schonungslos darüber sprechen und zeigt so ihre Wahrheit hinter HHs euphemistischen Beschreibungen.


Manchmal wirkt es fast so, als versucht sich Dolores in dieser Rückschau zu rechtfertigen oder die Kritik vorwegzunehmen, warum sie nicht weggelaufen ist oder sich Hilfe geholt hat. Vielleicht will sie dem patriarchalen Mythos zuvorkommen, dass zu geringer (körperlicher) Widerstand mit Einvernehmlichkeit gleichzusetzen ist?


Richtig interessant und gut gelungen finde ich die Romanteile, die sich an die Handlung aus „Lolita“ anschließen. Ruckpaul findet für die Tatsache, dass Lolita nach HHs Bericht in Nabokovs Roman eigentlich jung gestorben ist, eine clevere und glaubhafte Lösung, die nahtlos die beiden Handlungsteile miteinander verknüpft.


Wie erging es der jungen Dolores, nachdem sie der Missbrauchssituation entkommen ist? Wie lebt sie heute? Wie sehr hat die Zeit mit HH sie geprägt?

Ruckpaul denkt den Lebenslauf von Dolores weiter und ich folge ihr fasziniert.


Ich will dir hier nicht zu viel verraten, denn in diesen Teilen ihres Romans hat sich Ruckpaul (logischerweise) komplett von der Nabokovs Vorlage freigemacht und gibt Dolores eine komplett eigene Stimme, die sie im Laufe der Zeit entwickelt und mit der sie versucht sich von ihrer Vergangenheit und von HH zu emanzipieren.


Auch das Bild von Charlotte Haze von der klammernden, oberflächlichen Männerjägerin, das HHs male gaze gezeichnet hatte, wird durch Dolores späte Auseinandersetzung mit ihrer Mutter zurecht gerückt. 


Mich konnte „Bye Bye Lolita“ sehr begeistern, und das liegt nicht nur am hohen Unterhaltungsfaktor des Romans, sondern am feministischen Grundtenor, der vor allem in der zweiten Hälfte den Blick von Lolita auf den strukturellen Sexismus und die Misogynie richtet, die uns alle betrifft.


“Es geht nicht um die Gewalt eines Mannes gegen ein Mädchen. Es geht um die Gewalt von Männern gegen Generationen von Frauen.

Von Männern, denen selbst Gewalt angetan wurde. Die um all die Empathie gebracht wurden, die sie hätten empfinden können.”


Große Leseempfehlung!

Cover des Buches Ich warte noch immer auf eine Entschuldigung (ISBN: 9783847901914)

Bewertung zu "Ich warte noch immer auf eine Entschuldigung" von Michela Marzano

Lust_auf_literaturvor 13 Tagen
Kurzmeinung: Feministische Denkanstöße - sehr lesenswert!
Ich warte noch immer auf eine Entschuldigung

Ich habe mittlerweile einige belletristische Romane zum Thema #metoo gelesen, viele davon haben mich begeistert und gleichzeitig gut unterhalten. Manche auch nachdenklich gemacht.

„Ich warte noch immer auf eine Entschuldigung“ ist ebenfalls ein Roman zum Thema #metoo und er ist anders. 

Michela Marzano schildert darin keinen einzelnen Vorfall, bei dem ich als Leser*in keinerlei Schwierigkeiten habe, dessen Übergriffigkeit und Ungerechtigkeit zu erkennen, wie es beispielsweise in „Prima facie“ der Fall ist.

Ihr Roman liest sich vielmehr wie ein autofiktionaler Essay, auch wenn sie mit ihrer Protagonistin Anna eindeutig eine fiktionale Geschichte erzählt. 


Und doch gibt es zwischen Anna und Marzano Parallelen. Anna ist eigentlich Italienerin, lebt aber mittlerweile in Paris und gibt dort an der Universität ein Seminar zum #metoo. Während sie auf der einen Seite mit ihren Studierenden über gesellschaftliche Themen wie Consent, Machtverhältnisse und gesellschaftliche Veränderungen nach #metoo diskutiert, geht sie auf der anderen Erzählebene in ihren Erinnerungen bis in ihre Kindheit zurück. Sie sucht dort nach Spuren von übergriffigen Verhalten ihres Umfeldes und nach den Ursprüngen der Frage, die sie immer wieder beschäftigt:


„Wie schaffen die anderen das bloß, dass sie immer respektiert werden?“


In dieser Mischung aus Rückblicken, Gedankengängen und Episoden finde ich viele Fragen, mit denen ich mich auch schon lange auseinandersetzte und auf die ich, genauso wie Anna, noch keine finalen Antworten gefunden habe.


Anna setzt sich beispielsweise mit dem Feminismus der Virginie Despentes auseinander und damit was sexuelle Freiheit bedeutet. Was bedeutet sexuelle Freiheit speziell für Frauen im Unterschied zu Männern? 

Sind wir heute wirklich frei?


Die Definition des Freiheitsbegriff geht der Frage nach dem Einverständnis voraus, über das Anna viel nachdenkt. 

Sie heiratet mit 24. Will Sie es wirklich?


„Zustimmen. Heißt was? Akzeptieren. Heißt was? Ja sagen.

Heißt was? Wollen. Heißt was?“


Es gibt bei Marzano viele offene Fragen und wenig eindeutige Antworten. Sie lenkt den Blick auf gesellschaftliche Strukturen und Vorfälle, die vielleicht nur auf den ersten Blick eindeutig sind. Jeffrey Epstein ist offensichtlich ein moralisch verkommener, egoistischer Verbrecher und Missbrauchstäter, aber was ist mit Ghislaine Maxwell? Ebenfalls Täterin ohne Frage, aber ist sie auch ein Opfer Epsteins?

Marzano will nicht relativieren. Marzano will, dass ich nachdenke.


Das ist ihr mit ihrem für mich sehr lesenswerten Roman sehr gelungen. Und am Schluss bietet sie doch eine Lösung an, die mir unglaublich zu Herzen geht und die ich für mich und für länger mitnehmen möchte.


Ich würde dir „Ich warte noch immer auf eine Entschuldigung“ sehr ans Herz legen, wenn du dich gedanklich gerne mit feministischen Themen auseinandersetzt und vielleicht nicht immer einen plakativen Plot möchtest um darin einzutauchen.


Michela Marzanos autobiografischen Roman „Falls ich da war, habe ich nichts gesehen“ möchte ich auch gerne noch lesen.

Cover des Buches Blue Sisters (ISBN: 9783847901860)

Bewertung zu "Blue Sisters" von Coco Mellors

Lust_auf_literaturvor 15 Tagen
Kurzmeinung: Empathischer Feel-Good Roman
Blue Sisters

Ich mochte schon „Cleopatra und Frankenstein“ und ich mochte auch „Blue Sisters“. Beides waren für mich die absoluten Feel-Good Bücher!

Und das kurioserweise, obwohl  es in Mellors Romanen viel um verkorkste Kindheiten, zerbrochene Menschen und Familien und um Trauer geht. Und natürlich geht es sehr viel um Drogen und um Alkohol.


„Aber ihre Familie war nicht normal. Sucht floss durch ihre Adern wie Elektrizität durch einen Stromkreis.“


Die Familie, die im Mittelpunkt von „Blue Sisters“ steht, ist die Familie der Schwestern Avery, Bonnie und Lucky Blue. Sie haben vor kurzem ihre vierte Schwester Nicky durch einen schrecklichen Unfall verloren.

Die unterschiedlichen Frauen sind durch den Tod ihrer Schwester schwer erschüttert und jede geht mit der Trauer in unterschiedlicher Form um.

Avery ist die Älteste und war schon immer in einer Art Mutterrolle für ihre jüngeren Schwestern. Sie lebt mittlerweile ein sehr geordnetes, scheinbar perfektes Leben in London, ist mit einer wunderbaren und liebevollen Frau verheiratet und ist beruflich sehr erfolgreich. Bonnie hat lange in New York eine Profi-Box-Karriere verfolgt, ist nach Nickys Tod allerdings an die Westküste geflohen und hat das Boxen aufgegeben. Ihre Geschichte und ihre Persönlichkeit mochte ich am liebsten, sie ist auch die mit dem höchsten Kitschfaktor.

Lucky, die Jüngste der Schwestern, ist wunderschön und arbeitet seit ihrer frühen Jugend als Model auf der ganzen Welt und ist der Schattenseiten des Business müde geworden. Mittlerweile machen sich bei ihr Spuren ihrs exzessiven Partylebens inklusive Drogen und Alkohol bemerkbar.


Als die Mutter die New Yorker Wohnung von Nicky verkaufen will, kommen die Schwestern auf Grund von verschiedener Umstände dort zusammen. Sie alle sind durch Nickys Tod aus ihrem Leben gefallen und auf der Suche nach einem Neuanfang . 

 

Klar könnte ich jetzt, genauso wie in „Cleopatra und Frankenstein“, einiges kritisieren und für Leser*innen, die ausschließlich auf der Suche nach der nächsten tiefschürfenden, philosophisch nachdenklichen und wahrhaftigen Experience sind, ist „Blue Sisters“ vielleicht zu nah am vorprogrammierten und verfilmungsbereiten Marketingerfolg.

Ich fand mich mit dem neuen Roman von Coco Mellors allerdings bestens unterhalten. Die New Yorkerin hat einen modernen und nuancierten Schreibstil, der mich über die Seiten fliegen und die Figuren lebendig werden lässt. Natürlich liebe ich es, dass Mellors das in der Literatur seltene Thema  Endometriose einfließen lässt. Es gibt weniger kinky (Sex-)Szenen (oder gar keine) als in „Cleoptra und Frankenstein“, was „Blue Sisters“ wahrscheinlich noch zum massentauglicheren Roman macht.


Das reicht selbstverständlich für eine Leseempfehlung, falls du dir deine Meinung nicht schon gebildet hast, ob die Romane vielleicht was für dich sein könnten.

Cover des Buches In den Wald (ISBN: 9783518431986)

Bewertung zu "In den Wald" von Maddalena Vaglio Tanet

Lust_auf_literaturvor 22 Tagen
Kurzmeinung: Das Verschwinden einer Lehrerin
In den Wald

Das wunderschöne Cover des Romans hat mich in der Suhrkamp Vorschau sofort angesprochen. Es zeigt, passend zum Titel, einen Wald, wie ich ihn mir in Norditalien vorstelle.

Und der Wald spielt eine große Rolle in dem Debütroman der italienischen Autorin Maddalena Vaglio Tanet. Sie ist selbst in dem piemontesischen Ort Biella geboren, der auch der Schauplatz ihres Romans ist.

Tanet erzählt eine Geschichte, die auf wahren Vorkommnissen und Personen Anfang der 70er Jahre basiert und die in ihrer eigenen Familie überliefert wurden. Das weiß ich aus den Tanets Anmerkungen, die dem Roman nachgestellt sind.


Silvia ist eine alleinstehende Lehrerin Anfang 40, die im kleinen Örtchen Biella lebt und in der örtlichen Schule mit Leidenschaft für ihre Schüler*innen unterrichtet. Vor allem Kinder, denen sie anmerkt, dass sie es in ihren Familien schwer haben, versucht sie besonders zu unterstützen. So wie die junge Giovanna, die öfter mit blauen Flecken zur Schule kommt und mit Eintritt in die Pubertät zunehmend Probleme in der Schule und zu Hause bekommt. Silvia, die selbst als Waisenkind einige Zeit im Internat verbracht hat, kennt die Folgen von fehlender Elternliebe und möchte Giovanna unterstützen.


Doch eigentlich beginnt der Roman damit, dass Silvia morgens einfach in den Wald geht und dort verschwindet statt in der Schule zu unterrichten. Nachfolgend erfahre ich aus dritter Hand, dass ihr Schützling Giovanna am Vorabend aus dem Fenster ihres Zimmers in den Fluss gestürzt ist und dort ertrunken ist. Es wird vermutet, dass sie sich umgebracht hat.

Außerdem wird vermutet, dass Silvia davon morgens in der Zeitung gelesen hat und deshalb verschwunden ist. Ihre Verwandten und Freund*innen machen sich Sorgen und starten Suchaktionen.

Ich als Leser*in habe einen guten Blick aufs Geschehen, denn ich bin dabei, als Giovanna verzweifelt aufs Fensterbrett steigt und Silvia, gepeinigt von Schuldgefühlen und Erinnerungen an ihre Vergangenheit, im Wald mit der Natur verschmelzen will.


“Silvia erträgt es nicht, in der Welt zu sein und zu wissen, dass es Giovanna nicht mehr gibt.”



Es gibt viele Passagen, die mir gut gefallen, allen voran die Szenen mit Silvia im Wald und später auch in der Interaktion mit dem Jungen Martino. 


Einige Passagen haben mir aber weniger gut gefallen und das lag zum großen Teil an meinem Unvermögen den vielen zusätzlichen Erzählsträngen des überaus großzügig bestückten Figurenkabinett noch zu folgen. Hier hätte meiner Meinung nach eine deutliche Reduzierung auf die Kernfiguren Silvia, Giovanna und Martino gut getan, statt dem Auffächern eines kompletten personellen Dorfpanoramas, das wohl zum Teil auf wahren Personen beruht. 


Die Geschichte der Lehrerin Silvia, die im Wald verschwindet, hätte für mich auch ohne realem Hintergrund sehr gut funktioniert, denn Tanet ergänzt die bekannten Fakten mit fiktionalen Gedanken, Figuren und Details. 


Gut gefallen hat mir der Schluss, der mir genügend Raum für eine gedankliche Fortführung der Geschichte lässt und final nicht alles erklären will und kann und einen gelungenen Schlusspunkt setzt.

Maddalena Vaglio Tanet hat in ihrem ersten Roman bereits eine ganz eigene Erzählstimme, die ich gerne gelesen habe, auch wenn sich der Roman sich nicht zu meinen italienischen Highlights gesellen wird.

Cover des Buches Leere Häuser (ISBN: 9783039250394)

Bewertung zu "Leere Häuser" von Brenda Navarro

Lust_auf_literaturvor 22 Tagen
Kurzmeinung: Harte Geschichte über die Lebensrealität von Frauen und Mütter und fesselndes Psychogramm
Leere Häuser

Das Cover von „Leere Häuser“ zeigt pastellfarbene Süßigkeiten. Der Inhalt des Debütromans der mexikanischen Schriftstellerin und Soziologin Brenda Navarro ist allerdings alles andere als süß und lieblich.


Es ist eine harte Geschichte über eine harte Lebensrealität von Frauen und Mütter, die Navarro in Form eines fesselnden Psychogramms zweier unterschiedlicher Frauen vor mir ausbreitet.

Beide Frauen haben keine Namen, sie sind namenlose und anonyme Erzählerinnen. 

Die eine ist die Mutter des kleinen Daniel, stammt aus der Mittelschicht und kümmert sich auch noch um die junge Nichte ihres Mannes, deren Mutter ermordet wurde. Sie möchte eigentlich keine Mutter sein und kümmert sich nicht gerne um die beiden Kinder. Die Mutterschaft verlangt ihr zuviel ab, das sie nicht geben kann. Die andere Frau lebt in sehr prekären Verhältnissen und ist mit einem lieblosen und gewalttätigen Freund zusammen. Sie hat es mit ihren bescheidenen Mittel geschafft sich mit einem kleinen Süßigkeitenverkauf selbstständig zu machen und möchte doch eigentlich nur eines: eine Tochter zum lieb haben.


Der Wunsch nach einem Kind ist so stark, dass die eine Frau den kleinen Daniel der anderen Frau im Park entführt und mit zu sich nach Hause nimmt. Dort nennt sie in Leonel und hofft, dass sie zusammen mit ihrem Freund einen kleine, glückliche und normale Familie werden.

Der Wunsch ist aus Verzweiflung geboren und zum Scheitern verurteilt.


Nach und nach entblättert Navarro das furchtbare Leben der Kidnapperin. Sie steht in einer Reihe aus generationenübergreifenden Missbrauch und patriarchaler Unterdrückung. Der Hunger nach Liebe und Geborgenheit ist unendlich groß, doch wird er nie erfüllt. Es scheint unmöglich diesen Kreislauf zu durchbrechen, die Widerstände und gesellschaftlichen und inneren Zwänge sind einfach zu stark.


“Es hätte vielleicht auch andere Wege gegeben, ja, die hat es gegeben, aber ich hab gelernt, als Frau hast du deinen Platz in der Welt, und du bleibst, wo du bist, auch wenn du dich noch so sehr anstrengst.”


Mich machte die harten und zum Teil sehr bitteren Gedanken beider Frauen sehr betroffen und ich muss an die Folgen für die Kinder und ihre Verletzungen denken, die dadurch immer weitergetragen werden.

Und gleichzeitig schätzte ich auch die direkte Aussprache dieser ungeschönten und unretouchierten Gedanken der Frauen. Ihre geplatzten Träume und ihre Resignation machten mich traurig, voller Mitgefühl aber auch voller Wut. 


“[…] weil es schliesslich das war, was es für uns zu tun galt: leere Häuser zu sein, Häuser, um das Leben oder den Tod zu beherbergen, letzten Endes aber leer zu sein.”


Nein, „Leere Häuser“ ist wahrhaft kein süßer Roman, sondern ein hartes Aufzeigen der Folgen von Machismo, Sexismus und festgefahrenen Geschlechterrollen auf das Leben von Frauen*. Navarro beeindruckt mich in ihrem Roman mit der starken Ausarbeitung zweier Frauen, deren Erzählton je nach Klassenzugehörigkeit sich deutlich voneinander unterscheidet. Und unter der schnodrigen und abgebrühten Härte ihrer Entführerin liegt eine kindliche Verletztlichkeit, die mich sehr rührte.


Eine tolle Neuerscheinung von Lenos Babel, dem internationalen Program des Schweizer Indie Verlags. Ich hoffe, dass noch weitere Texte der feministischen Autorin auf Deutsch übersetzt und verlegt werden.

Cover des Buches Mein Mann (ISBN: 9783455018042)

Bewertung zu "Mein Mann" von Maud Ventura

Lust_auf_literaturvor einem Monat
Kurzmeinung: Spannend und unterhaltsam: Tagebuch einer obsessiven Ehe
Mein Mann

Die Sunday Times sagt auf dem Klappentext: »Dieser absolut faszinierende Roman gehört in den Kanon, in dem auch Jane Eyre und Gone Girl ihren Platz haben.«

So weit würde ich jetzt nicht gehen, denn sowohl Jane Eyre als auch Gone Girl gehören nämlich zu meinen absoluten Best of Lieblingsbüchern. Ich weiß ich nicht, ob „Mein Mann“ es dahin schaffen wird.


Der Roman, der in Frankreich bereits ein Bestseller ist, ist in Form eines Tagebuch in der Ich-Perspektive geschrieben. Die Schreiberin ist eine, nach eigenen Angaben, sehr (!) attraktive Frau Anfang 40, die lebt wie auf einem Instagram Kanal. Ein perfekter, liebender Ehemann, zwei perfekte, geräuscharme und wartungsfreie Kinder, ein wunderschönes Zuhause und zwei stimulierende Teilzeitjobs als Lehrerin und Übersetzerin.

Was will frau mehr? Frau will in dem Fall gar nicht mehr, sie will dass alles so bleibt wie es ist, sprich sie will, dass ihr Ehemann sie für immer liebt.

Klingt erstmal nach einem verständlichen Wunsch in einer Ehe, aber es zeigt sich in den Tagebucheinträgen schnell, dass die Erzählerin wahnhaft besessen ist von ihrem Mann. Also so richtig.

Die Frau hat sich eine komplett andere Persönlichkeit zugelegt, von der sie vermutet, dass ihr Mann darauf abfährt. Eigentlich ist ihr Haar kastanienbraun und sie färbt es blond. Eigentlich hat sie gerne leidenschaftlichen und intensiven, lauten Sex, aber ergreift bei ihrem Mann nie die Initiative oder übernimmt den aktiven Part. Eigentlich mag sie ihre Kinder nicht, spielt aber die perfekte Mutter. Eigentlich weiß sie genau, was sie will, gibt sich aber devot.

Sie interpretiert jede kleine Veränderung im Verhalten ihres Mannes und für jeden vergessenen Kuss hat sie ein komplexes Bestrafungssystem.

Ihr Mann merkt von all dem nichts, er ist glücklich über seine perfekte Frau und sein wunderbares Familienleben.


Es ist klar, dass dieses obsessive Verhalten der Erzählerin ein Ventil braucht…


Geschrieben ist der Roman in einem ziemlich spannenden, lockeren und direkten Stil, der mich stark an die psychologischeren Romane der frühen Mary Higgins Clark erinnerte, die ich sehr mochte. Ventura spart sich tiefgründige Erklärungen für das Verhalten ihrer Figuren, obwohl es minimale Andeutungen von Daddy Issues gibt. Für mich gehörte aber diese unerklärliche Psychopatie mit zum Spaß.


Ich las den Roman unheimlich gerne und fasziniert gefesselt, aber das Beste ist auf jeden Fall die Pointe. Sie kickt richtig und gibt den Roman am Schluss nochmal einen kompletten Dreh in eine nachdenklichere Richtung.


Ob ich jetzt denke, dass der Roman eine normale Ehe widerspiegelt? Nein, das denke ich nicht, aber sicher bin ich natürlich nicht, denn ich war (zum Glück?) noch nie verheiratet.


Auf jeden Fall fand ich „Mein Mann“ einen aufregenden, spannenden und wahnsinnig unterhaltsamen Schmöker, der mich wunderbar von meinen weitaus trivialeren Beziehungsproblemen abgelenkt hat! Eine uneingeschränkte Leseempfehlung für jeden Lesegeschmack.

Cover des Buches Do Re Mi Fa So (ISBN: 9783990274064)

Bewertung zu "Do Re Mi Fa So" von Tine Melzer

Lust_auf_literaturvor einem Monat
Kurzmeinung: Wunderbar: der Sänger in der Badewanne
Do Re Mi Fa So

Sebastian Saum zieht es knallhart durch.

Nach seinem letzten Vollbad in der Badewanne kommt er einfach nicht mehr heraus. Stattdessen reibt er die Wanne trocken, legt sich weiche Decken hinein, legt sich nackt in sein Nest und verlässt es nicht mehr.


Eigentlich könnte für den klassischen Opernsänger Ende dreißig alles tutti bene sein. Er hat beruflich Erfolg in einem kreativen und künstlerischen Beruf und ein gutes Auskommen, er ist bei seinen Kolleg*innen und Freund*innen beliebt und er lebt mit seinem besten Freund Franz im Haus seiner verstorbenen Mutter.


Und doch steckt der Sänger in einer massiven Sinnkrise. Er hadert mit seinem Beruf. Er hadert mit seiner Beziehungslosigkeit. Er denkt über vergangene Entscheidungen nach und über die Glaubenssätze seiner Kindheit.

Der Ich-Erzähler wirkt orientierungslos und niedergeschlagen.


„Wäre ich ein Fisch, so hätte ich wenigstens eine Richtung. Und Fische singen nicht.“


Die Verweigerung in der Badewanne gibt ihm endlich den Raum, den er braucht um seine Gedanken und seine Vergangenheit zu sortieren.


In der Badewanne ist er nackt, ohne Kleider. Er denkt viel an diese Schutzhülle, an die Verkleidungen, die er auf der Bühne und im Leben trägt. Machen Kleider Leute? Er denkt auch an die verschiedenen Kleider seiner Vergangenheit, die er mit Ereignissen und Gefühlen assoziiert.


Vieles schreibt Melzer zwischen die Zeilen, wird nur leise angedeutet. Gab es schlimme Erlebnisse in der Kindheit des Sängers? Ich bin nicht sicher. Wäre er gerne Vater geworden? Im Subkontext schwingen subtile, wehmütige Untertöne von verpassten Chancen.


Es ist rührend, wie sich sein Freund Franz um ihn kümmert und die Auszeit so überhaupt erst möglich macht. Der Erzähler testet die Grenzen ihrer Freundschaft aus, indem er sich ganz in die Rolle des Unterlegenen begibt, nichts mehr in die Beziehung einbringen kann, nicht mehr nützlich ist. Aber ist es nicht das was Liebe aus macht? Für jemand da sein unabhängig von der Kosten Nutzen Rechnung?

Auch die vielen besorgten Anrufe, Genesungskarten und Blumen zeigen dem Sänger, dass er wahrgenommen und geliebt wird. Sein Fehlen wird bemerkt.


Aber reicht das aus, um wieder am Leben teilzunehmen? Wir alle spielen im Alltag verschiedene Rollen, die uns unterschiedlich fordern, passen unser Verhalten an den Kontext an, verkleiden uns und setzten manchmal sogar Masken auf?

Tine Melzer spielt in ihrem Roman mit dem Gedanken des kompletten Ausstiegs mit dem Einstieg in die Badewanne. 

Auch ich empfinde den Roman als eine Art Ausstieg, als eine Möglichkeit zur bewussten Lese Entschleunigung, den die Handlung findet eigentlich nur in Sebastians Kopf und seinem Badezimmer statt. Diese Einladung mich ganz auf Gedanken des Sängers und den Roman einzulassen habe ich sehr gerne wahrgenommen. Der humorvolle Ton schafft trotz des eigentlich existenziellen Themas eine wunderbare leichte Stimmung, die aber gerade am Schluss auch etwas rätselhaftes, deutungsoffenes und tieferes enthält. 


Fand ich ganz wunderbar!

Cover des Buches Das Wesen des Lebens (ISBN: 9783103976304)

Bewertung zu "Das Wesen des Lebens" von Iida Turpeinen

Lust_auf_literaturvor einem Monat
Kurzmeinung: Zeitloses Highlight
Das Wesen des Lebens

„Das Wesen des Lebens“ wurde in Finnland zu einem großen Überraschungserfolg und wird derzeit in über 20 Sprachen übersetzt, unter anderem ins Deutsche! Und das ist ein großes Glück, denn auch mir gefiel der erste Roman der Wissenschaftlerin und Schriftstellerin wirklich ausgesprochen gut!


Es ist einer dieser seltenen Romane, die bei mir dieses gänsehauterzeugende Gefühl von grandioser Universalität verursachen, die losgelöst vom Zeitgeist ist. Die mir eine kleine Ahnung vom großen Ganzen schenken.


Das liegt auch daran, dass die Handlung des Romans mehrere Jahrhunderte umspannt und auf verschiedenen Kontinenten spielt, beginnend 1741 mit der

 Großen Nordischen Expedition im Nordmeer, an der der deutsche Arzt und Naturwissenschaftler Georg Wilhelm Steller teilnimmt. Dort entdeckt und beschreibt er die nach ihm benannte und später ausgestorbene, riesige Seekuh zum ersten Mal. 

Dieser erste Teil liest sich wie eine Abenteuergeschichte und trifft so zu 100% meinen Lesegeschmack.

Das Schicksal und die Geschichte der Stellerschen Seekuh, beziehungsweise ihres Vermächtnis, zieht sich wie ein roter Faden durch den Roman und durch die Jahrzehnte.


Turpeinen zeigt nicht nur anhand des Verschwinden der friedlichen Seekuh, wie der Mensch in seiner Gier zerstörerisch in die Natur eingreift, sondern auch am Beispiel vieler anderer Tierarten. Es fällt mir besonders auf, dass Turpeinen nicht den Weg einer betroffenen und plakativen Anklage geht, sondern vielmehr die enge Verbindung und das komplexe Wechselspiel von Mensch und Natur im Wandel der Zeit herausarbeitet.

Selbst unbedeutend erscheinende Freizeitbeschäftigungen wie beispielsweise das lange als beliebtes Hobby betrachtete Sammeln von seltenen und bunten Vogeleier können ganze Bestände dezimieren oder ausrotten. Noch wesentlich größere Auswirkungen auf das sensible Gleichgewicht unserer Erde haben Kolonialismus, Bevölkerungswachstum und technische Entwicklungen.


Turpeinen beschreibt aber auch wie sich die theoretischen Ansätze und praktischen Techniken in der Dokumentation und Vermittlung von naturwissenschaftlichen Informationen geändert haben und sich immer weiterentwickeln.


Ich mag die von Turpeinen entworfenen Figuren, die auf echten historischen Persönlichkeiten und Recherchen beruhen, unheimlich gerne. Sie fügt den bekannten Daten einen fiktiven Charakter hinzu, der von einem hoffnungsvollen und philanthropischen Menschenbild zeugt, trotz des unleugbaren und unveränderlichen Zerstörungswillen der Menschen im allgemeinen. Das tut mir gut und hilft gegen meinen Zynismus.


Ich würde wirklich sagen „Das Wesen des Lebens“ war ein echtes zeitloses Highlight für mich, das in mir den Wunsch geweckt hat, bald wieder eines der größeren naturhistorischen Museen in meinem  weiteren Umfeld zu besuchen.

Cover des Buches Vor der Nacht (ISBN: 9783701183524)

Bewertung zu "Vor der Nacht" von Salih Jamal

Lust_auf_literaturvor einem Monat
Kurzmeinung: Intensiv und philosophisch tiefgründig: das Trauma einer Kindheit ohne Liebe
Vor der Nacht

Dass Salih Jamal einen bodenlosen Abgrund aufreißen kann, weiß ich seit der Lektüre seines Romans “Blinder Spiegel”. Auch in “Vor der Nacht” ist der Fall tief, aber er geht diesmal wenigstens nicht ins bodenlose Nichts. Es ist die Liebe, die uns auffangen kann.


“Alles, einfach alles dreht sich um Liebe. Nie ist sie abwesend. Nie. Nie. Nie. Sie ist immer da. Sogar wenn sie nicht da ist.”


In einem Kinderheim in einem Wald direkt neben der Autobahn treffen sechs verlorene Kinder aufeinander und werden Freunde. Der Ich-Erzähler Jonas, später Jimmy genannt, Pappel, Frei, Lilly und die Geschwister Sinan und Beria. Alle bringt eine schwierige, wenn nicht gar traumatische Vergangenheit mit ins Heim und die Freund*innen geben sich mit kleinen Ritualen Geborgenheit und Halt. 

Die Gruppe wird älter und irgendwann sind Sinan und Frei einfach verschwunden. Es dauert nicht lange und auch der Rest der Gruppe zerbricht, wird zerstreut und verliert sich aus den Augen.


Jimmy, der Erzähler wird erwachsen und zieht mit seinem Freund Pappel in eine kleine Wohnung. Der Mangel an Liebe hat schwere Spuren in ihren Seelen hinterlassen und ihre eigene Fähigkeit zu lieben und einem anderen Menschen völlig zu vertrauen schwer beschädigt. Jimmy fühlt sich teilweise leer und dissoziiert .


“Manchmal schien es mir, als würde ich aus dem Leben verschwinden. Innen ständig außer Reichweite.”


Um zu heilen und wieder ganz zu werden ist er auf der Suche nach seinen alten Freund*innen. 

Irgendwann trifft er zufällig auf Lilly und muss das komplette Ausmaß ihrer seelischen Zerstörung erkennen. In ihrer Geschichte finden sich Parallelen zu “Der blinde Spiegel”.


Von derart selbstzerstörerischen Menschen wie Lilly zu lesen ist für mich als lebensbejahender und größtenteils stabiler Mensch bisweilen eine Qual und gleichzeitig auch morbide faszinierend. 


Auch in “Vor der Nacht” stößt mich die Dunkelheit in Jamal’s Roman wieder genauso ab, wie sie mich anzieht und nicht alle Figuren werden ihren Abgründen entkommen können.


Und wie schon in “Blinder Spiegel” finde ich das skizzierte Frauen- und Menschenbild teilweise verstörend, aber in “Vor der Nacht” bilden die helleren Charaktere des Erzählers Jimmy und von Beria und Mia ein gutes Gegenwicht zu den zerstörten, dunklen Seelen der anderen.


Bei Jamal geht es um existenzielle und philosophische Fragen des Menschseins, es geht um die zerstörerische und heilende Kraft der Liebe, um Vergebung und Schuld und letztendlich darum, ob wir den Wolf in uns besiegen können. 

Den Schreibstil des Schriftstellers finde ich besonders und einzigartig poetisch kraftvoll. Ich habe das Gefühl, Jamal bringt viel seiner eigenen Gefühle und Erfahrungen mit in seine Arbeit ein. Das tun wahrscheinlich alle Schreibende auf gewisse Art, aber gerade bei Jamals Romanen habe ich den Eindruck einer gewissen Entblößung und einer sehr intimen Verletzlichkeit. Diese Direktheit macht auch „Vor der Nacht“ wieder so unglaublich intensiv.


Ob sich die Gruppe der Freund*innen jemals wieder vereint, lässt Jamal bis kurz vor Schluss offen und gerade auf den letzten Seiten steigert sich die Spannung noch derart, dass ich das Buch bis zur letzten Seite nicht mehr weglegen kann.


„Vor der Nacht“ ist sicher keine sommerleichte Lektüre, die den Mainstream bedient und die existenzielle Schwere und Bedeutsamkeit, die in Jamals Roman liegt, passt vielleicht nicht in jede Lese- und Lebenssituation.


Ich bin aber schon immer auch auf der Suche nach den intensiveren und extremeren Gefühlen und literarischen Leseerlebnissen und wenn du das auch bist, dann ist „Vor der Nacht“ definitiv eine Empfehlung für dich!

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