Um es gleich ganz deutlich zu machen: in dem Buch, das ich dir im folgenden vorstelle, geht es um den jahrelangen sexuellen Missbrauch von Sinno durch ihren Stiefvater, der vermutlich bereits begann als sie sieben Jahre alt war.
In ihrem autofiktionalen Text nähert sie sich ihrer Vergangenheit und den Geschehnissen auf intellektueller und intertextureller Ebene. Das heißt, sie sucht in verschiedenen anderen literarischen Werken nach Parallelen und Querverweisen, nach den verschiedenen Möglichkeiten der Annäherung an das Thema und nach den verschiedenen Facetten der Darstellungsarten und ihrer Wahrheiten.
Und so lande ich wieder bei „Lolita“ von Nabokov, was ich sehr passend finde, da sich Sinnos Buch somit nahtlos an meine Lektüre des fiktiven „Bye Bye Lolita“ von Lea Ruckpaul anschließt.
Der sexuelle Missbrauch in „Trauriger Tiger“ ist allerdings nicht fiktiv. Sinno wird in den Jahren ihrer Kindheit und frühen Jugend immer wieder von ihrem Stiefvater vergewaltigt. In jedem Zimmer des Hauses. Als junge Erwachsene vertraut sie sich ihrer Mutter an und sie gehen zur Polizei. Eine Anzeige erfolgt und danach tatsächlich eine Anklage und ein Prozess. Der Stiefvater ist in großem Umfang geständig und kann deshalb zu einer Gefängnisstrafe verurteilt werden.
Was ist er für ein Mann? Was sind das für Männer, die anderen Menschen so etwas antun. Das ist eine der Fragen, denen Sinno versucht auf den Grund zu gehen. Aber kann es darauf eine Antwort geben? Es ist die Frage, die in meinem Kopf auftaucht, wenn ich die nur aktuellen Schlagzeilen zu Sean „Diddy“ Combs und Gisèle Pelicot lese. Die mögliche Antwort, auf die Sinno immer wieder zurück kommt, trifft mich und ich fühle die Wahrheit darin, wenn auch nicht die Universalität.
“Sie vergewaltigen, weil sie es können, weil die Gesellschaft es ihnen ermöglicht, weil man es ihnen erlaubt, und weil ein Mann, dem man einen Freibrief fürs Vergewaltigen erteilt, eben vergewaltigt.”
Dabei geht Sinno in ihren Reflexionen nie den Weg der Vereinfachung. Sie wägt sorgfältig ab, denkt in viele Richtungen, ist in der Lage, verschieden Perspektiven einzunehmen. So beispielsweise auch in der Frage nach der Schuld ihrer Mutter. Sie wählte diesen Mann zum Partner, hatte viele Jahre keine Ahnung von dem Missbrauch und doch unterstützte sie Sinno vorbehaltlos beim Gang zur Polizei und bei der Anklage.
Ich bewundere und schätze Sinnos Buch wirklich sehr. Ich bewundere ihren Mut, sich philosophisch und intellektuell so weit in dieses Thema, das sie so stark persönlich betrifft, hineinzuwagen. Ich spüre förmlich die Arbeit und die lange Suche, die in ihr Buch eingeflossen sind, aber auch ihre Stärke und ihre Resilienz, die sie sich nie auf diese Art aneignen wollte. Ihr Buch und ihre Überlegungen sind, wie sie selbst sagt, die Perspektive des Opfers und ich wollte sie lesen. Sie war mir wichtig und hat mich gerade am Schluss emotional nachhaltig ergriffen und bereichert.
“Hätten wir die Wahl, wer wäre nicht lieber ein Tiger und kein Lamm, ein Wolf und kein Hund?”