Autor Ingo Bartsch legt den Finger ganz tief in die klaffende Wunde eines kollabierenden Systems. Und er tut es auf so unterhaltsame Art, dass ich in rasantem Tempo durch die Seiten der Opakalypse galoppiert bin. Wir lernen den "Held" Jules aka Julius Wicküler - ebenso priveligierter wie phlegmatischer Sprössling aus akademischem Hause - nebst Clean-Eating-Freundin in einer Lebensphase kennen, in der er die Komfortzone gezwungenermaßen (gezwungen durch Vater und Freundin) verlassen muss und halb versehentlich, halb trotzig als Pflegehelfer im Haus Nikolaus landet. Letzteres ist ein Altenheim, aber eines, das weit entfernt ist von einer lauschigen "Seniorenresidenz" für Begüterte. Hier landen die Alten, die sich nichts anderes leisten können. Mit dem Helden vollzieht sich eine wundersame Verwandlung: Er, dem ansonsten alles am Arsch vorbei geht (an einen solchen Ton dürfen Leser*innen keinen Anstoß nehmen, der Autor schreibt schnodderig - passend zum Ich-Erzähler Jules - und nennt die Dinge beim Namen) ist schließlich der einzige, der versucht, in dem gehetzten, unterbezahlten und zu Tode optimierten Pflegewahnsinn den dort Untergebrachten respektvoll zu begegnen. Der Job verändert sein Leben, in jeder Beziehung. Mehr will ich an dieser Stelle nicht verraten, ich kann nur empfehlen: lesen, lachen und nachdenken, was einen selbst später wohl erwartet. Nicht jede/r wird in den Genuss von Jules' Spezialcookies kommen.
Marie-Enters
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Marie-Enters´ Bücher
Zur BibliothekRezensionen und Bewertungen
Bewertung zu "Und dann im Traum / Und dann im Traum … die Liebe" von Frederike Hieronymi
Bewertung zu "Das Versprechen, dich zu finden" von Anne Youngson
Das Versprechen, dich zu finden – ein schöner Titel, ein wenig geheimnisvoll, auf jeden Fall Interesse weckend. Wer gibt wem das Versprechen warum? Wen gilt es zu finden? Dazu ein eher altmodisch wirkendes Cover, das aber gerade durch dieses Unzeitgemäße einen speziellen Charme hat, mich ansprach und den Wunsch weckte, die Geschichte zu lesen. Es ist ein Briefroman – der Briefwechsel zwischen dem Dänen Anders und der Engländerin Tina, beide nicht mehr jung, er verwitwet, sie verheiratet, findet zunächst klassisch statt, später werden die Briefe per E-Mail-Anhang übermittelt.
Im englischen Original heißt das Buch „Meet me at the Museum“ – Anders ist nämlich Kurator in einem Museum und Tinas erster Brief richtet sich nicht an ihn, sondern ist an einen früher dort tätigen, längst verstorbenen Professor adressiert. Eigentlich aber hat sie den Brief für sich selbst geschrieben – und um den Tod ihrer besten Freundin zu verarbeiten, mit der sie das Museum seit Kinderzeiten wegen der dort ausgestellten Moor-Leiche – dem Tollund-Mann – besuchen wollte. Sie rechnet daher mit keiner Antwort, erhält aber eine – von Anders, der in seiner ihm eigenen, sehr akribischen Art auf Tinas (Lebens-)Fragen eingeht. Daraus entwickelt sich, ganz langsam und vorsichtig, eine Brieffreundschaft, die schließlich so innig und gefühlvoll wird, dass es zwei Liebende sein könnten, die sich schreiben und ihre grundverschiedenen Lebensgeschichten anvertrauen.
Obwohl sie sich nie gesehen, nie berührt haben, obwohl die Liebe nie ein Thema in ihren Briefen ist, ist eine Intimität zu spüren, die über das nur Freundschaftliche hinausgeht – bis sich in Tinas Leben etwas ereignet, das alles verändert und sie sowohl an ihrer Ehe als auch an der Brieffreundschaft mit Anders zweifeln lässt.
Anne Youngsson , selbst bereits 70 Jahre, ist mit diesem Roman ein bemerkenswertes, ganz ruhiges und sprachlich wunderbares Debüt gelungen, das auf faszinierende Weise wie aus der Zeit gefallen scheint. Ein Buch, das Mut macht, auch – oder sogar gerade – in reiferen Jahren Sinnfragen zu stellen und sowohl Bilanz zu ziehen als auch nach vorne zu blicken und die Zukunft zu gestalten.
Ich danke NetGalleyDE und dem Harper Collins Verlag für die das digitale Vorab-Leseexemplar des Debütromans von Anne Youngsson. Meine Meinung wurde dadurch nicht beeinflusst.
#DasVersprechenDichZuFinden.
#NetGalleyDE
Die Erstausgabe von „Das Richterspiel“ erschien 2009 bei Knaur. 2018 wurde der Kriminalroman von Sabine Kornbichler im Piper Verlag neu aufgelegt.
Marlene Degner, eine warmherzige, sympathische Frau Mitte 30, ist gerade dabei, sich mit einem Seniorenservice selbstständig zu machen. Zuvor hat sie jahrelang aufopferungsvoll ihren todkranken Vater gepflegt. Noch trägt sich das Start-up mit einem überschaubaren Kreis an Stammkundschaft nicht wirklich. Als Heidrun Momberg, einer ihrer Kundinnen, am Silvestertag schwer stürzt und im Krankenhaus bleiben muss, fährt Marlene von einer Silvesterparty aus in Frau Mombergs Wohnung, um den Kater zu versorgen. Ihre Partybekanntschaft Max, Kinderarzt und Freund ihres Bruders Fabian, begleitet sie spontan. Zu ihrem Entsetzen entdecken die beiden dort eine tote Frau, bei der es sich um Dagmar Momberg, die älteste von Frau Mombergs vier Adoptivtöchtern handelt. Die Erzieherin war kurz zuvor nach dem Verschwinden des fünfjährigen Leon vom Dienst suspendiert worden, weil sie möglicherweise ihre Aufsichtspflicht verletzt hatte.
Gegen ihren Willen wird Marlene in die Ermittlungen involviert: Der vor Jahren nach einem Unfall erblindete Arnold Claussen, ehemals Kriminalhauptkommissar, engagiert sie, damit sie ihn bei seinen privaten Recherchen im Fall Leon unterstützt. Steht der Mord an Dagmar Momberg möglicherweise in Zusammenhang mit dem verschwundenen Kind? Nach und nach entwickelt Marlene ein immer stärkeres persönliches Interesse an den Ermittlungen, obwohl ihre Zeit knapp ist, sich mit Max vielleicht mehr als eine Affäre anbahnt und ihr neuer Kunde sich als äußerst schwieriger und oftmals ruppiger Zeitgenosse erweist. Als auch Arnold Claussen einen Unfall erleidet, glaubt Marlene längst nicht mehr an Zufälle – und sie hat nach dem Hinweis auf ein bestimmtes Spiel, das im Hause Momberg gespielt wurde, einen Verdacht, dem sie nun auf eigene Faust nachgeht. Denn was, wenn aus dem Spiel längst Ernst geworden ist?
Mir hat dieser Krimi sehr gut gefallen, weil er psychologisch nachvollziehbar ist und statt sich überschlagender Action das Thema an sich sowie die Hintergründe – nämlich Überforderung in Pflegefamilien und Ursprungsfamilien, Kindesvernachlässigung und Manipulation, Hinsehen und Wegsehen – und in gleichem Maße die Charaktere im Mittelpunkt stehen. Die beiden Handlungsstränge sind durch einen sich langsam aufbauenden Spannungsbogen schlüssig miteinander verflochten, Marlene ist eine liebenswerte Hauptfigur – keine toughe Heldin, aber sie hat das Herz am rechten Fleck. Da sie dieses gleich zu Beginn an Max verliert, ist in die eigentliche Handlung am Rande noch eine sich anbahnende Liebesbeziehung eingeflochten –ganz charmant und ungekünstelt, nicht irgendwie noch gewollt „on top“. Der Kreis der infrage kommenden TäterInnen wird im Laufe der Handlung immer überschaubarer – dennoch hat mich die Auflösung am Ende noch einmal überrascht.
Darum eine klare Leseempfehlung für alle Krimifans, die subtile Spannung und überzeugende Charaktere zu schätzen wissen. Hier dominiert nicht Brutalität den Plot, sondern Spannung erzeugt vor allem das Gefüge, das zum Verbrechen führte.
Ich danke an dieser Stelle netgalley.de und dem Piper Verlag für das digitale Leseexemplar.
Was sich anfangs fast wie ein Jugendbuch liest, wird im Verlauf der Handlung deutlich komplexer und teils auch drastischer. Trotzdem ist „Der Fantast“ kein Buch, in dem die Action im Vordergrund steht, sondern die glaubhafte Vorstellung aller Haupt- und Nebenfiguren. Wer gut oder böse ist, steht nicht von Anfang an fest, auch hier lässt die Autorin ihren Protagonisten Entwicklungspotenzial. Nach diesem ersten Band bleibt einiges offen – und wird nach und nach in den Folgebänden aufgelöst!
Ich habe – obwohl ich keine klassische Fantasy-Leserin bin – im Laufe der Geschichte Simon und Timo immer mehr ins Herz geschlossen – also dieses "Gespann", das sich im Wesen, aber auch in ihren Fähigkeiten so wunderbar ergänzt. Ganz tolle Charakterzeichnung, authentisch, nirgendwo gekünstelt und trotz ihrer Besonderheiten ganz „normal“ dargestellt. Liebenswerte Kinder und ebenso liebenswerte junge Erwachsene mit vielen positiven Eigenschaften, aber keine "Superhelden" - das finde ich toll! Und am allerbesten ist, dass alles so realistisch ist und man an keiner Stelle Zweifel hegt, dass es diesen Fantasten tatsächlich gibt – oder zumindest geben könnte.
Autor Salih Jamal dienen in seinem Roman “Orpheus: Musik, Liebe, Tod.“ Motive der griechischen Mythologie – genauer gesagt die tragische Liebesgeschichte von Orpheus und Eurydike – als Gerüst. Die Sage bietet viel Raum für Interpretationen und moderne Variationen des Themas. In der Dichtkunst – ob bei Rilke, Benn oder Ingeborg Bachmann stand hier jedoch meist die Frage nach dem „Warum“ im Mittelpunkt – warum missachtet Orpheus das göttliche Gebot, als er seine geliebte Eurydike aus der Unterwelt zurückholt, und dreht sich nach ihr um? Jamals Ansatz ist anders.
Er stellt Orpheus als verzweifelten, der Liebe seines Lebens beraubten Mann unserer Zeit dar, ein erfolgloser Rock- und Bluessänger, dessen Frau Nienke, Anwältin, angestellt im Unternehmen von Orpheus‘ Großvater Zeus und unschwer als Eurydike zu erkennen – spurlos verschwindet. Orpheus befürchtet das Schlimmste, kennt er doch sowohl die Kompromisslosigkeit und Rigorosität des Familienpatriarchen als auch einige der dunkelsten Familiengeheimnisse. Der Autor geht mit dem Stoff frei von ehrfürchtiger Erstarrung um – so mutiert der Hades zur schnöden Friedhofsgruft und Dionysos zum versoffenen Onkel Dino. Jamal hat einen Orpheu’schen Cocktail zusammengemixt, in dem sich auch ein Schuss schwarzer Humor versteckt, und sich alle künstlerischen Freiheiten genommen.
Wie bereits im Debütroman „Briefe an die grüne Fee“ beweist Jamal eine ganz eigene sprachliche Wucht. Die Melange aus Krimi, Mythologie, Musik und Leidenschaft ist reizvoll und trägt über die gesamte Länge der Story. Jedes Kapitel wird durch zumeist gut bekannte, stilistisch ganz unterschiedliche Songtitel aus den Genres Klassik, Pop, Rock & Blues angeteasert.
Die Idee wie die gesamte Komposition und die Sprache des Romans finde ich äußerst gelungen. Vor allem haben mir die poetischen Töne dieses „Orpheus“ gefallen und die Suche nach den archaischen Archetypen in uns allen. Umso mehr hat mich die brutalste Szene des „Orpheus“ – ich möchte nicht spoilern – in ihrer Detailliertheit extrem abgestoßen. Da aber die Passagen, die ich mochte, bei Weitem überwiegen, vergebe ich eine klare 5-Sterne-Lesempfehlung. Denn schließlich ist auch die griechische Mythologie, die hier als Unterbau dient, grausame und teils schwer erträgliche Kost.
Bewertung zu "Die Tochter des Pianisten" von Lilian Kim
Die Autorin Lilian Kim hat sich des brisanten politischen Themas Nordkorea angenommen. Die sogenannte Demokratische Volksrepublik Korea, proklamiert 1948 nach der japanischen Herrschaft und der Teilung des Landes als Folge des Zweiten Weltkriegs, ist nichts anderes als eine Diktatur. Das Land ist bis heute komplett abgeschottet, das Volk wird geknechtet, und so ist Nordkorea das weltweit restriktivste politische System der Gegenwart. Der Roman beginnt mit einem Prolog 1986 – im Jahr des Tigers – im chinesischen Macau, die eigentliche Handlung des ersten Teils startet aber ein Jahr später 1987 in Japan, als die junge Yasuko und ihr amerikanischer Ehemann Jake Opfer einer Entführung werden – eine Praxis, die, wie man im weiteren Verlauf erfährt, Nordkorea im großen Stil betrieb, um Menschen (vornehmlich Japaner, aber auch Angehörige anderer politisch wichtiger Nationalitäten) in das Land zu holen und dort für ihre Zwecke zu missbrauchen. Yasuko soll unter anderem Sprachunterricht erteilen und Nordkoreanern zu einer japanischen Scheinidentität verhelfen – im Grunde also Spione und Attentäter ausbilden. Es stellt sich heraus, dass Jake längst in geschäftliche Machenschaften mit Nordkorea verwickelt ist und skrupellos andere Interessen verfolgt. Als einzige Hoffnung Yasukos erweist sich Seung-Jin, der ebenfalls nur unter Zwang für das Regime arbeitet. Nach einem Zeitsprung von über zwei Jahrzehnten geht die Geschichte im Jahr 2016 in Berlin weiter – mit Sarah, die versucht, ihre Familiengeschichte zu ergründen und zu erfahren, wer ihre leiblichen Eltern waren. Es wird hier klar, dass die Autorin einen persönlichen Bezug zu dem hat, worüber sie schreibt. Ihr ist ein erstaunliches Debüt gelungen, ein echter „Pageturner“, den ich gar nicht mehr aus der Hand legen konnte. Der erste Teil war für mich stärker als der zweite, wobei auch der zweite Teil hochdramatisch ist, mit vielen Wendungen. Alle Fäden werden geschickt zusammengeführt, allerdings fand ich einige Charakterzeichnungen zu eindimensional. Ich habe die Druckversion gelesen, der ein Schlusskorrektorat gutgetan hätte, wobei insgesamt die Qualität aber trotzdem in Ordnung ist. Vom professionellen Cover, einem echten Eyecatcher, bis zum schönen Buchsatz mit Blütenschmuck für jedes Kapitel ist auch die „Verpackung“ überaus ansprechend. Die erwähnten Defizite sind auf hohem Niveau zu sehen, das Buch hat ansonsten sprachlich und inhaltlich eine hohe Qualität – daher runde ich 4,5 Sterne gerne und aus Überzeugung auf 5 Sterne. Absolut empfehlenswert!
Über mich
- 07.06.1964
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